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ARCHIV
FÜR
KRIMINAL - ANTHROPOLOGIE
UND
KRIMINALISTIK
MIT EINER ANZAHL VON FACHMÄNNERN
HERAUSGEGEBEN
von
Prof. Dr. HANS GROSS
KEUKUNDZWAKZIGSTER BAND.
LEIPZIG
VERLAG VON F. C. W. VOGEL
1908.
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r - v
Y GF CALIFORNT/T
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Inhalt des neonnndzwanzigsten Bandes.
Erstes Heft
ausgegeben 19. Dezember 1907.
Original - Arbeiten. Seite
I. Das Skizzieren auf Millimeterpapier. Vom Staatsanwalt Dr. Rudolf
Ehmcr.•. 1
II. Die Vornahme auswärtiger Amtshandlungen in der Praxis nach österr.
Gesetz. Vom k. k. Staatsanwaltssubstitut Dr. Richard Bauer . 14
III. Ein Gendarmenmord. Mitgeteilt vom Untersuchungsrichter D r.
Anton Glos \.19
IV. Strafverfahren gegen einen noch nicht 14jährigen Knaben wegen
Bestialität, verhandelt 1715 und 17 J 6 vor dem Markgräflich Baden-
Durlachischen Hofrat zu Durlach. Mitgeteilt von Dr. August Roth 24
V. Über die Wechselbeziehungen zwischen Jurisprudenz und Natur¬
wissenschaft. Vortrag, gehalten im Juristen verein in Graz von
Privatdozent Dr. Hermann Pfeiffer.4H
VI. Mnemotechnik ira Unterbewußtsein. Von Hans Groß ..... 03
VII Alkohol und Verbrechen nach neueren Statistiken. Von Kurt
W. F. Boas.Oii
VIII. Meineidig? Von Rechtsanwalt Dr. jur. Fritz Böekel.77
Kleinere Mitteilungen.
Von Hans Groß:
1. Über Zeugenaussagen Leichttrunkener.y.i
Von Dr. P. Lu bl ins ky in St. Petersburg:
2. Die Ermordung eines Antichristen.9n
Von Dr. H. Svorcik in Reichenberg:
3. Zum Briefwechsel der Prostituierten und dem Bordcllbesitzer 93
Von Medizinalrat Dr. Paul Näcke:
4. Merkwürdige Erinnerungstäuschung.94
5. Merkwürdiger Fall von Identitätstäuschung.95
f>. Merkwürdige Gesten eines Idioten.9<>
7. Nimmt die menschliche Grausamkeit zu oder ab?.90
8. Kannibalismus während der Kreuzzüge.97
9. Beiträge zur Kundensprache im Königreich Sachsen .... 9^
10. Prämonitorischer Traum.99
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IV
Inhaltsverzeichnis.
Seit«
B ücher besprechu n gen.
Von Hans Groß.
1. Georg Maas: Bibliographie der Deutschen Gesetzgebung und
Rechtswissenschaft . •.10 L
2. Georg Baumert, M. Dennstedt und F. Voigtländer:
Lehrbuch der gerichtlichen Chemie.101
3. Hermann Stahr: Die Rassenfrage im antiken Ägypten . . 102
4. P. Hahn: Die Probleme der Hysterie und die Offenbarungen
der heiligen Therese.102
5. Simulation.102
6. Paul Hirsch: Verbrechen und Prostitution als soziale Krank¬
heitserscheinungen .102
7. Emil Rasmussen: Jesus, eine vergleichende psycho-patho-
logische Studie.103
8. Dr. phil. Johannes Jaeger: Rechtsbuch und Rechtsausgleich
in der Strafjustiz.103
9. O. H. Michel: Die Zeugnisfähigkeit der Kinder vor Gericht 103
10. Dr. Emil Raimann: Die Behandlung und Unterbringung des
geistig Minderwertigen.104
11. R. Müller: Sexualbiologie etc.101
12. Sommer: Klinik für psychische und nervöse Krankheiten I. Bd. 105
13. Sommer: Klinik für psychische und nervöse Krankheiten II. Bd. 105
14. Bonhoeffer: Klinische Beiträge zur Lehre von den De¬
generationspsychosen .100
15. Jahresbericht über die Kgl. Psychiatrische Klinik in München
für 1904 und 1905 106
16. v. Voss; Der Hypnotismus etc.107
17. Bresler: Die pathologische Anschuldigung.107
IS. Klaußner: Über Mißbildungen der menschlichen Gliedmaßen 10S
Zweites und drittes Heft
ausgegeben 12. März 1908.
Original-Arbeiten.
IX. Der Geisteszustand der Schwangeren und Gebärenden. Von Privat¬
dozent Dr. Ernst Bischoff.109
X. Zwei geistesgestörte Verbrecher. Von Gcrichtssekretär Dr. Hein¬
rich Svorcik.164
XL Zwei gerichtliche Urteile. Mitgeteilt von Landgerichtsrat Dr. Richard
Lezaiiski.202
XII. Aberglaube und Verbrechen. Von Polizeipräsident Koettig . . 205
XUI. Über einige technische Behelfe für Untersuchungsrichter. Von Land¬
gerichtsrat Dr. Weiulich.212
XIV. Zur Frage der Zeugenwahrnehmung. Mitgeteilt von Dr. Adolf
Ledenig.238
XV. Die österreichische Regierungsvorlage betreffend strafrechtliche Be¬
handlung und strafrechtlichen Schutz Jugendlicher. Von Ernst
Lohsing.261
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Inhaltsverzeichnis.
V
Seite
Kleinere Mitteilungen.
Von Medizinalrat Dr. P. Nücke:
1. Sexuelle Perversitäten bei Tieren.293
2. Meuterei in einer Zentralanstalt für geisteskranke Verbrecher 294
3. Muttermal und Diebstahl.295
4. Gibt es Rassenunterschiede in den Tätowierungen? .... 295
5. Erotische Tätowierungen.296
6. Das Zu-Todc-Kitzeln.296
7. Exhibitionismus und Aberglauben.297
8. Der „Tropenkoller“.298
• 9. Sexuelle Belehrung der Jugend.239
10. Geschlechtsbestimmung.299
Büch erbesprech ungen.
Von Dr. P. Näcke:
1. Pagel: Grundriß eines Systems der Medizinischen Kultur¬
geschichte .301
2. Dammann: Die geschlechtliche Frage.301
3. Heilpädagogische Umschau.302
4. Woltmann: Die Germanen in Frankreich.302
5. Moebius: Über Scheffels Krankheit etc.303
6. S. Freud: Zur Psychopathologie des Alltagslebens .... 303
7. N. Kaufmann: Heinrich Heine contra Graf August von Platen
und die Homo-Erotik.304
S. Lombroso: Neue Verbrecher-Studien.304
9. Lomer: Liebe und Psychose.3o5
10. Jung: Über die Psychologie der Dementia praecox .... 305
11. Bericht über die Vereinigung für gerichtliche Psychologie und
Psychiatrie im Grollherzogtum Hessen.306
Von H. Fehlinger:
12. Dr. James Elbert Cutler: Lynch-Law. An Investigation
into the History of Lvnchings in the United States .... 307
13. Gilbert Thomas Stephenson: Radical Distinctions in
Southern Law.3ns
Von H ans Groß:
14. J. A. Farrer: „Literarische Fälschungen“.309
15. Prof. Dr. Franz Liszt: Die Reform des Strafverfahrens . . 3uo
16. Siegfried Weinberg: Über den Einfluß der Geschlechts¬
funktion auf die weibliche Kriminalität.3lo
17. J. Feddersen: Das Schwurgericht.310
18. Edwin Bale: Hypnotismus und Ehe, Hypnotismus und Nervo¬
sität. Hypnotismus und Willenskraft .3lo
19. Johannes Guttzeit: Ein dunkler Punkt. Das Verbrechen
gegen das keimende Leben oder die Fruchtabtreibung . . . 311
20. Reichsgerichtsrat Dr. Adelbert Düringer: Nietzsches
Philosophie vom Standpunkte des modernen Rechts . * . . 311
21. Heinrich Lammasch: Grundriß des Strafrechts . . . . 312
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VI
Inhaltsverzeichnis.
Seite
22. Raymond de Ryckere: la Servante criminelle. Etüde de
criminologie professionelle.312
23. D. W. Thümmel: Der Religionsschutz durch das Strafrecht 312
24. Ludwig Gumplowicz: Grundriß der Soziologie .... 313
25. Aschrott: Fürsorgeerziehung Minderjähriger.313
26. Ernst Beling: Die Lehre vom Verbrechen . 313
27. Dr. Hans Deneke: Das menschliche Erkennen.313
2S. Maximilian Paul Schiff: Der Prozeß Hilsner.314
29. Ernst Schultze: Weitere psychiatrische Beobachtungen . . 314
30. Jahrbuch des Strafrechts und Strafprozesses I.315
31. Hermann Lucas: Anleitung zur strafrechtlichen Praxis . . 315
32. Kurt Wilhurg: Serien-undPramienlosgesellschaften,Lotterie¬
vereine und Lotteriegesellschaften.315
33. J. U. Dr. Siegfried Türkei: Die Reform des österr. Irren¬
rechts . , .... 315
34. Franz von Liszt: Das Problem der Kriminalität der Juden 315
Viertes Heft
ausgegeben 6. April 190$.
0 riginal-Arbeiten.
XVI. Über die Wertungsichre im Strafrecht. Von Dr. Harald Gutherz 317
XVII. Strafgesetz für das kaiserlich japanische Reich. Von Heinrich
R. v. Frölichsthal.325
XVIII Vorleben und Vorgehen eines Raubmörders. Mitgeteilt vom Unter¬
suchungsrichter Dr. AntonGIos.339
XIX. Tötung aus Aberglauben. Mitgetcilt von Privatdozent Dr. Hans
Reichel.344
XX. Spezialisten in der Verbrecherwelt. Von Hofrat Josef IIölzl . . 346
XXI. Ein Beitrag zur Beurteilung über die psychischen Vorgänge beim
Kindesmorde. Vom kais. Rat und Landesgerichtsarzt Dr. Josef
R. v. Jo sch.34$
XXII. Beiträge zu den sexuellen Träumen. Von Medizinalrat Dr. P. Xäcke 363
Kleinere Mitteilungen.
Von Medizinalrat Dr. P. Xäcke:
1. Nekrolog für Dr. Baer .372
2. Das Rätsel der menschlichen Fruchtbarkeit.373
3. Nahrung und Fruchtbarkeit.374
4. Neuere Kußtheorien.374
5. Sexuelle Träume in der Epilepsie mit Mordimpulsen .... 376
B ii c h e rb esprech un gen.
Von Sommer:
1. Finzi. I reati di falso.377
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Inhaltsverzeichnis.
VII
Seite
Von Hans Groß:
2. La Police et PEnqete judiciairc scientifiques par Alfredo
Niceforo.377
3. Alwin von Wert her: Töten und Quälen unserer Mit¬
geschöpfe ein Quell der Lust?.378
4. Th. Eichberg: Psychologische Probleme, Versuch einer prak¬
tischen Psychologie.378
5. Hugo Hoppe: Alkohol und Kriminalität.378
0. Hermann Michaelis: Die Homosexualität in Sitte und Recht 379
7. Theodor Lipps: Vom Fühlen, Wollen und Denken ... 379
8. Dr. jur. Klaus Wagner: Justizgrüudung.380
9. Dr. A. Grosch: Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich . . 380
10. A. Zucker: Über Kriminalität, Rückfall und Strafgrund . . 380
11. K. Klee: Der Dolus indirectus als Grundform der vorsätz¬
lichen Schuld.381
12. Victor Urbantschitsch: Über subjektive optische An¬
schauungsbilder .381
13. Victor Urbantschitsch: Über subjektive Hörerscheinungen
und subjektive optische Anschauungsbilder.381
14. Professor S. Ottolenghi: Polizia scitenfilca.381
15. D. E. Schreiber: Medizinisches Taschenwörterbuch für Medi¬
ziner und Juristen.382
10. Dr. jur. Ernst Delaquis: Die Rehabilitation im Strafrecht 382
17. Wilhelm Fischer: Der verbrecherische Aberglaube und die
Satansmcssen im 17. Jahrhundert.- . 382
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I.
Das Skizzieren auf Millimeterpapier.
Vom
Staatsanwalt Dr. Rudolf Ehmer in Graz.
(Mit 6 Abbildungen und 1 Tafel.)
Die zu sachgemäßer Auffassung und richtigen Würdigung eines
deliktischen Sachverhaltes so nötigen Lokalerhebungen und Augen¬
scheinsaufnahmen haben nicht nur die vorübergehende Bedeutung
eines Informationsbehelfs für den Untersuchungsrichter; — die Ergeb¬
nisse solcher Erhebungen müssen auch in möglichst klarer und bün¬
diger Fassung im Untersuchungsakte festgelegt werden, um den mit
der Strafsache späterhin befaßten Personen ein richtiges Bild der
Ortsverhältnisse zu liefern und ihnen die Kenntnis jener Details zu
vermitteln, die für die Beurteilung des Tatsachenmaterials wichtig
und maßgebend ist Dieser Aufgabe werden Beschreibungen des
Tatortes und Protokolle über Lokalaugenscheine, mögen sie auch
noch so genau und fleißig gearbeitet sein, vielfach deshalb nicht
gerecht, weil sie des nötigen graphischen Beiwerkes entbehren.
Genauigkeit ist wohl eine Grundbedingung für die zufrieden¬
stellende Lösung der dem Erhebenden gestellten Aufgabe, sie allein
tut es aber noch lange nicht. Wer hat nicht schon Seite für Seite
von Lokalaugenscheinsprotokollen gelesen, die an minütiöser Klein¬
arbeit nichts zu wünschen übrig lassen, aber trotzdem oder eben
deswegen im Leser wohl das Gefühl des bekannten Mühlenrades»
aber bei weitem nicht klares Verständnis der Sachlage hervorrufen,
weil er Mangels graphischer Behelfe die geschilderten Einzelheiten
sich nicht geordnet vorstellen kann. Werden solche Elaborate ver¬
lesen, so sieht man den gelangweilten Mienen der Hörer, namentlich
wenn es mit derlei Literaturprodukten nicht vertraute Geschworene
sind, an, daß für sie die gehörte Lokalbeschreibung Schall und Rauch
war und auch nicht den geringsten positiven Effekt hatte.
Archiv für Krim inal&nthropologie. 29. Bd. 1
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2
I. Ehmer
Zur Genauigkeit maß, soll die Arbeit gut gelingen, unbedingt
Übersichtlichkeit und organische Gliederung hinzutreten, die durch
nichts so gefördert wird, wie durch die Beigabe entsprechender bild¬
licher Darstellungen. Diese haben eigentlich den Niederschlag des
vom Erhebungsrichter gesehenen verwertbaren Materials zu bilden -
— die Beschreibung soll dann nur das richtige Verstehen des Bildes
vermitteln und die Dinge schildern, die nicht gezeichnet werden
können. Da wirft sich nun die Frage auf, ob photographiert oder
gezeichnet werden soll, — eine Frage, die von der Praxis mit zu¬
nehmender Verbreitung photographischer Apparate und wachsender
Fertigkeit in deren Verwendung immer häufiger in ersterem Sinne
beantwortet wird. Wer möchte auch die Photographie im Strafver¬
fahren heute noch entbehren; ihre Vorzüge aufzuzäblen, die oft
unschätzbaren Dienste zu schildern, die sie der Kriminalistik leistet,
wäre wohl mehr als überflüssig, — wenn trotzdem einige ihrer Mängel
angeführt werden, so geschieht es gewiß nicht, um erstere zu ver¬
dunkeln. Doch ist nicht zu übersehen, daß die Photographie nur
den Anblick einer Seite der Sache vermittelt und daß die perspek¬
tivische Verkürzung über Baum und Entfernung im Unklaren läßt,
wenn nicht gar täuscht, was namentlich dann leicht möglich ist, wenn
der Standpunkt des Photographin dem Leser unbekannt bleibt Den
wirklichen Zusammenhang der Dinge, deren gegenseitige Stellung
im Baume .übersieht man u. z. mit einem Blicke doch nur aus der
Skizze über den Grundriß der Augenscbeinobjekts.
Zudem hat die Aufnahme der Linear-Skizze eine nicht zu unter¬
schätzende, man könnte sagen, erziehende Bedeutung. Beim Photo¬
graphieren wird in einem Momente abgeknipst und damit ist die
Aufnahme an Ort und Stelle erledigt — Der Skizzierende muß sich
aber alles genau besehen, abschreiten, messen und kommt so nicht
leicht in die Versuchung und Lage, etwas zu übersehen; — er wird
durch seine Arbeit zur Genauigkeit und Gewissenhaftigkeit gezwungen.
Mit der Anfertigung von Projektionsskizzen hat es jedoch nun viel¬
fach seine Not; man geht ihr mehrfach mit der Ausrede aus dem
Wege, es sei nicht Jedermanns Sache zeichnen zu können, — ein
Mangel der tatsächlich besteht, dem aber nebenbei bemerkt, wenigstens
für die Zukunft dadurch abgeholfen werden könnte, daß Croquir-
iibungen in das Programm des Vorbereitungsdientses für Bichleramts-
Kandidaten einbezogen werden.
Auf sich selbst und das leere Blatt Papier, das er mitbringt,
angewiesen, steht der zeichenunkundige Erhebungsrichter der Auf¬
gabe, eine brauchbare Skizze zu liefern, gewiß fast hilflos gegen-
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Das Skizzieren auf Millimeterpapier.
3
über, — namentlich fällt es manchem schwer, das Gesehene und
Aufgenommene in einem bestimmten Maßstabe wiederzugeben; — es
ist auch langwierig und zeitraubend, die — sei es durch Abschreiten,
sei es durch Anwendung des Maßstabes oder Meßbandes — gewonnenen
Masse zu reduzieren und einzuzeichnen.
Diese Schwierigkeit behebt sich nun fast von selbst durch die
Verwendung eines meines Wissens wenig gekannten, sehr einfachen
aber ganz vorzüglichen Hilfsmittels, dessen allgemeine Anwendung
in der kriminalistischen Praxis ich wärrastens empfehlen möchte. Es
ist dies das sogenannte Millimeterpapier, — em festes, sorg¬
fältig geleimtes zähes Papier, das sich zum Zeichnen mit Blei und
Feder sehr gut eignet, „einen Puff aushaltet“, in besseren Papier¬
handlungen um geringen Preis erhältlich ist und seinen Namen daher
hat, daß es mit einem Netze von Quadraten eines oder zweier Milli¬
meter Seitenlänge in Braun, Blau oder Grün zart überdruckt ist; —
in diesem Netze sind Quadrate von 5 mm und 10 mm Seitenlänge,
bei einigen Sorten auch Quadrat-Dezimeter in stärkeren aber auch
nicht störenden Linien hervorgehoben. Dieses Netz bietet nun den
Vorteil, daß der Skizzierende
1. den Maßstab gewissermaßen schon auf dem Papier hat und
daher die in der Natur ermittelten Maße in dem von ihm gewähl¬
ten Maßverbältnisse leicht und mühlos in seine Skizze ein¬
tragen kann;
2. daß er auf seiner Zeichenfläche in jedem beliebigen Punkte der
Skizze über ein vorgezeichnetes Coordinatensystem verfügt, das
ihn der zeitraubenden und lästigen Aufgabe, rechte Winkel
konstruieren zu müssen, überhebt
Unter Verweisung auf die leicht faßliche Anleitung, die Professor
Dr. Groß in seinem „Handbuche“ und P. Kahle im VII. Bande des
„Archives“ für die Anfertigung von Handskizzen gibt, möchte ich
hier nur einige Bemerkungen über das Vorgehen bei Aufnahme von
Skizzen anfügen.
Vorerst einiges über das Arbeitszeug.
Will man möglichst genaue Skizzen liefern, so empfiehlt es sich
einen Croquir-Apparat, bestehend aus Meßtischchen, Diopterlineal und
Boussole zu benützen. Das Meßtischchen besteht aus einem hand¬
lichen, quadratischen Zeichenbrette von ungefähr 35 cm Seitenlänge
aus Linden- oder Ahornholz mit Randleisten und trägt in der Mitte
der unteren Fläche eine Metallscbeibe auf der sich eine Schrauben¬
mutter befindet. Diese dient dazu, entweder eine Handhabe anzu¬
schrauben, wenn das Brett als Handbrett benützt werden soll, oder
l*
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4
I. Ehmer
es an einem dreibeinigen festseilbaren Stative za befestigen, als
welches auch jenes eines photographischen Apparates verwendet
werden kann. Praktisch ist es, an der Unterseite des Brettes auch
einen kleinen Quadranten mit Senkel anzubringen, um das Horizon¬
talstellen des Brettes zu sichern.
Das Diopter-Lineal ist etwa 23 cm lang, 3—4 cm breit, an
dessen beiden Enden sind die Diopter oder Absehen angebracht,
welche mittelst Charnieren senkrecht aufgestellt werden können und
zum Visieren dienen. , Das Oculardiopter hat eine Schauritze, das
Objektivdiopter zeigt einen länglichen Ausschnitt, durch dessen Mitte
der Länge nach ein Faden gespannt ist. Schauritze, Faden und
die Ziehkante des Lineals müssen in einer Vertikal-Ebene liegen.
Die ßoussole soll ein quadratisches Gehäuse und eine feine
Gradeinteilung haben, — ersteres deshalb, damit man sie sicher
immer an derselben Stelle an einer Ecke des Zeichenbrettes auflegen
kann, letztere, um die Orientierung des Brettes zu vermitteln; —
ändert man nämlich seinen Standpunkt, so dreht man auf dem neuen
das Zeichenbrett so lange, bis die Nadel der Boussole am gleichen
Gradstriche einspielt, auf den sie auf dem früheren Standpunkte
zeigte.
Verfügt man nicht über den früher beschriebenen Croquir-Appa¬
rat, so muß man mit Surrogaten das Auslangen zu finden trachten.
Statt des dreibeinigen Stativs kann man einen mäßig starken etwa
1 V-t m langen Stock verwenden, der an dem unteren Ende einen
spitzen, zum Einrammen in die Erde bestimmten Schuh trägt, am
oberen Ende etwa mit einem durch einen abschraubbaren Knopf
geschützten Dorn versehen ist, auf den das Zeichenbrett gesteckt
wird oder aber eine mit Klemmfedern ausgestattete Ausnehmung hat,
in die man den am Zeichenbrett befestigten Dorn hineinsteckt.
Das Diopter-Lineal kann durch ein dreiseitiges prismatisches
Lineal mit rechtwinkeligen Querschnitt ersetzt werden, das mit einer
Katbedenfläche aufgelegt wird, während die Schnittkante der anderen
Kathedenfläche mit der Hypotenusenfläche als Visierkante dient, im
Notfälle kann zum Visieren auch ein gewöhnliches Lineal verwendet
werden; an einer Kante desselben steckt man an den beiden Enden
Pikirnadeln fest, längs welcher man dann visiert. Statt des Lineals
kann man auch einen entsprechend geöffneten Zirkel verwenden,
dessen eine Spitze man auf seinem Standpunkte in die Zeichnung
einsetzt, während man die andere Spitze mit dem anzuvisierenden
Objekte zur Deckung bringt und deren Stand auf der Zeichnung
markiert.
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Das Skizzieren auf Millimeterpapier.
5
An Stelle des Zeichenbrettes kann man eine andere feste Unter¬
lage, etwa einen zum Einspannen des Papiers eingerichteten Zeichen¬
blatthalter benutzen.
An Ort und Stelle muß sich der Zeichnende nach genauer
Besichtigung vor allem darüber schlüssig werden, was er auf¬
nehmen, wie er die Lokalitäten abmessen, welchen Maßstab er an¬
wenden will.
Das Was richtet sich natürlich immer nach den Erfordernissen
des vorliegenden Falles, doch wird man gut daran tun, nebst der
Skizze über die zunächst in Betracht kommende Lokalität z. B. ein
Zimmer, auch das Haus, dem es zugehört, zu skizieren; — außer
der Zeichnung des Hauses zur allgemeinen Orientierung über dessen
Lage auch ein Croquis über dessen nächste Umgebung — Zugangs¬
linien, — markante Einzelheiten etc. anzufertigen. Es bietet dies den
Vorteil, daß man die Skizze über die eigentlich maßgebende Lokalität
in größerem Maßstabe halten und mit allen Details ausstatten kann,
die, in die Übersichtsskizze mit kleinerem Maßstabe aufgenommen,
diese nur verwirren und unleserlich machen würden; wollte man
aber die Übersichtsskizze in dem selben Maßstabe anfertigen, wie die
Detaillskizze, so würde das Format unhandlich und die Zeichnung
öde und leer werden. In keinem Falle, in welchem man auch
photographiert, soll man es unterlassen, in der Lokalskizze genau
die Stelle anzugeben, von der aus man die Aufnahme
machte, und die Richtung anzuzeichen, in welcher es geschah.
Innenräume eines Haues werden am besten mit dem Maßbande
oder 2 m Stabe gemessen. Bei Abmessung der Umgebung des
Gebäudes findet man wohl fast immer mit dem Schrittmaße sein
Auslangen.
Wer eine militärische Erziehung durchgemacht hat, wurde dort
daran gewöhnt, Schritte bestimmter Länge zu machen. Auch dem
darauf nicht Gedrillten wird es übrigens nicht schwer fallen, sich
einen gleichmäßigen 8chritt anzueignen, — das einfachste Mittel
hierzu ist das öftere Abschreiten bestimmter Distanzen auf einer
Straße, auf der die Hektameter durch Steine bezeichnet sind. Auf
diese Weise kann man sein Schreiten leicht darnach einrichten, daß
man Schritte von der als Maß allgemein üblichen Länge (in Österreich
faßt der Militärschritt 75 cm, in Deutschland 80 cm) macht. Über
die Länge seines Schrittes soll der Zeichner orientiert sein und sie
auf der Skizze angeben (also 1 x = 75 cm).
Als Maßstab für die Zeichnung von Innenräumen empfiehlt sich
bei Verwendung des Metermaßes l m der Natur, 2 cm der Zeichnung
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6
I. Eiimer
(1 : 50), 1 m«l cm(l: 100), l m = 5 mm (1 :200) zu wählen. Bei
Darstellung ganzer Baulichkeiten wird man mit dem Verhältnisse
1 X (75 cm) = 2 mm (1 : 375), 1 X = 1 mm (t: 750) sein Auslangen fin¬
den, — bei Aufnahme größerer Terrainabschnitte dürfte sich das Ver¬
hältnis 2 X — 1 mm (1:1500), 5 X — 1 mm (1 : 3750), 10 x = 1 mm
(l: 7500) verwendbar erweisen. Hat man noch größere Terrainflächen
darzustellen, müßte man also einen noch kleineren Maßstab wählen,
so wird es in den meisten Fällen ersprießlicher sein, mit Hilfe des
Netzzeicbnens sich eine Vergrößerung der Spezialkarte anzufertigen
und in das so gewonnene Gerippe dann Details einzuzeichnen.
Beim Zeichnen selbst möge man sich vor Augen halten, daß es
sich im Grunde genommen immer nur darum handelt, die gegen¬
seitige Lage zweier Punkte A—B in der Natur zu bestimmen und
auf dem Papiere (a—b) wiederzugeben.
Die Lage des Punktes B gegen den Standpunkt A des Be¬
obachters wird bestimmt durch die zu messende Entfernung
A—B und durch den Winkel, den die Verbindungslinie A—B
mit einer durch den Punkt A gelegten
Geraden bestimmter Bichtung bildet. Als
letztere Gerade nimmt man am einfachsetn
die mit Hilfe der Boussole leicht fest¬
stellbare Nord-Südrichtung an, es kann
aber ebensogut eine beliebige andere Ge¬
rade, etwa die Ost-West-Richtung hierzu
venvendet werden. Den Winkel NAB
kann man nun entweder direkt mit Hilfe
einer genauer eingeteilten Boussole, oder einem Winkelinstrumente
messen, in die Zeichnung eingetragen und am Schenkel AB die ge¬
messene Entfernung von A auszeichnen, oder man bestimmt ihn indirekt,
indem man erst die Ordinate A x, dann die Abscisse A y oder was das
gleiche ist, x B mißt, — diese Elemente in die Zeichnung einträgt
und dadurch den Punkt B nach Lage und Entfernung bestimmt hat.
(Coordinaten Methode). Text-Figur 1.
Hat man nur ein Zimmer zu skizzieren, so wählt man am besten
eine Längsseite zur Basis seiner Zeichnung. Mitunter kann es aber
auch von Vorteil sein, von der Mitte der einen bis zur Mitte der
anderen Wand ein Meßband zu spannen, dieses als Ordinatenachse
zu benützen und nun von dieser Achse aus, die man im gewählten
Maßstabe in der Zeichnung aufträgt, mittelst eines Maßstabes die Or-
dinaten der einzelnen Einrichtungsstücke, — Fußspuren, Blut¬
flecken etc. abzumessen, und die gewonnenen Maße nicht nur in der
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Original frnm
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Das Skizzieren auf Millimeterpapier.
7
Zeichnung ersichtlich zu machen, sondern auch in eine Tabelle zu
bringen. Tafel-Figur III.
Ist ein Gebäude oder ein Gebäudekomplex zu zeichnen, so wird
man wohl immer, unbekümmert um die Weltgegend in der sie ver¬
läuft, die Längsfront des Hauptgebäudes oder eine mit derselben
parallele Gerade als Basis seiner Zeichnung benützen, und von dieser
Basis aus nach den Regeln der oberwähnten Coordinaten-Me-
thode, die von Dr. Groß im Handbuche unter C XII klar ge¬
schildert ist, Vorgehen, bei deren Anwendung die Vorzüge des
Millimeter-Papiere8 besonders in die Augen springen. Diese Methode
führt gewiß in der Regel zur sichersten und bequemsten Lösung der
Aufgabe; in mancheu Fällen ist sie aber zeitraubend und in anderen
nicht anwendbar.
So kann z. B. der Verlauf des Weges A—B in der Text-Figur 2
nach der Coordinaten-Methode dadurch bestimmt werden, daß man
sich vom Baume
bei A bis zum
Bildstock bei B
eine Gerade denkt
oder unter Mit¬
wirkung eines
Gehilfen, der in der Person des Schriftführers ohnehin zumeist
zur Verfügung steht, auspflockt
Dieses Auspflocken geschieht auf die Weise, daß man vom
Punkte A gegen den Punkt B, oder wenn dieser in der Natur nicht
genügend gekennzeichnet ist, gegen eine dort aufzustellende Signal¬
stange hinvisiert und nun längs der Visierlinie in passenden Ab¬
ständen Pflöcke setzt, wobei man jedoch vermeiden soll, diese Pflöcke
zur Deckung zu bringen, da sonst Fehler entstehen, die bei größeren
Distanzen empfindlich werden können; — es dürfen die Pflöcke da¬
her die Visierlinie nur tangieren. Auf dieser Geraden als Abscissen-
achse von A gegen B fortschreitend, mißt man nun erst die Abscisse
A1, von 1 aus die Ordinate 1 a, dann die Distanz 1—2 und die Or¬
dinate 3 b usw., trägt die Ordinaten der einzelnen markanten
Punkte des Weges ein und verbindet nun die bestimmten Punkte
wodurch man den Verlauf des Weges zu Papier gebracht hat
Schneller kommt man hiermit zu Ende, wenn man den Verlauf
des Weges durch Rayonieren und direktes Messen be¬
stimmt. Zn diesem Zwecke stellt man sich im Punkte A auf, stellt
den Meßtisch horizontal, orientiert ihn mit Hilfe der Boussole, merkt
sich den Stand der Magnetnadel an, bezeichnet den Punkt, auf dem
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b
Fig. 2
Original from
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8
L Ehmer
man in der Natnr steht (Standpunkt), auf dem Brette durch eine
Pikirnadel, legt an dieser das Diopter an und visiert mit diesem nach
dem Punkte a, an dem der Weg eine Biegung macht; dann zieht
man längs des Lineals am Papiere einen feinen Bleistiftstrich (Rayon)
und hat nun damit die Wegrichtung Aa auf der Zeichnung fixiert,
— nun schreitet man die Wegstrecke Aa ab, trägt die Entfernung
im gewählten Maßstabe in die Zeichnung ein und stellt sich am
Punkte a auf, den man am Blatte wieder mit einer Pikirnadel kenn¬
zeichnet Hier orientiert man den Tisch mit Hilfe der Boussole, in¬
dem man darauf achtet, daß die Magnetnadel in dem früher ange¬
merkten Punkte (Grad) wieder einspielt, kontrolliert die Richtigkeit
der Orientierung dadurch, daß man von a nach A zurückvisiert,
stellt das Zeichenbrett ein und fest, wirft nun nach der nächsten mar¬
kanten Wegbiegung b wieder einen Rayon und wiederholt den Vor¬
gang, bis man den Weg eingezeichnet hat.
Statt dieser Methode, die man als Aufnahme von Linien durch
Stationieren und direktes
Messen bezeichnet, kann
unter Umständen die Auf¬
nahme stark gebrochener
Linien nach der Polar¬
oder Radial-Methode
mit Vorteil angewendet
werden, wenn zwischen
dem Standpunkte des
Zeichners und der aufzu¬
nehmenden Linie, etwa
dem Waldrande AE freies
offenes Terrain liegt, das dem Visieren und Messen keine Hindernisse bietet
Der Zeichner wählt sich hierbei gegenüber der aufzunehmenden
Linie, also dem Waldrande A—E einen geeigneten Standpunkt P
(Pol) und wirft von diesem aus nach bemerkenswerten Punkten des
Waldrandes Rayons, die Distanzen werden direkt gemessen und
im verjüngten Maßstabe eingetragen, die so erhaltenen Punkte geben
mit einander verbunden, die Projektion des Waldrandes. Da man die
Entfernungen von P nach A im Hinschreiten, von B nach P im Zurück¬
gehen messen und eventuell den Schriftführer zum gleichzeitigen
Messen eines Paares weiterer Distanzen P C, D P verwenden kann,
so kommt man mit dieser Methode oft rascher zum Ziele als mit der
Stationier-Methode. Erweist es sich zweckmäßig, so kann man auch
mehrere Polpunkte annehmen.
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Das Skizzieren auf Millimeterpapier.
9
Hiermit ist der Uebergang zu einer weiteren Methode, die Lage
eines Punktes in der Natur zu bestimmen, gegeben, die sich Dilet¬
tanten in der Feldmeßkunde durch einige Übung auch noch zu Eigen
machen können, — es ist dies die Triangulierungs-Methode
durch Vorwärts-Einschneiden. (Text-Figur 4.)
Sie kann aDgewendet werden, wenn 2 Standpunkte in der Natur
A und B auf dem Blatte als Punkte a, b bereits verzeichnet sind
oder verzeichnet werden können, von denen aus der zu ermittelnde
3. Punkt C anvisiert werden kann.
Man stellt sich zu diesem Behufe auf dem einen gegebenen
Punkte A auf, stellt den Tisch T horizontal, legt die Diopter-Zieh¬
kante genau an die Linie a b, welche die in der Natur gegebenen
Punkte A, B in der q
Zeichnung verbindet,
visiert nach dem Punkt
B, orientiert auf diese
Weise das Brest, stellt
es fest und zieht nun
einen Rayon nach dem
zu ermittelnden Punkte
C. Hierauf wird der
Tisch auf den Punkt B
übertragen, dort nachA
orientiert und nun der
Punkt C anrayoniert, der
Schnittpunkte der beiden
von a und b nach c gezogenm Rayons gibt die Lage des Punktes C
in der Natur auf der Zeichnung wieder.
Auf diese Weise können von den Punkten A und B aus eine
Reihe von Punkten in der Natur bestimmt werden, doch ist darauf
zu achten, daß die Winkel, unter denen sich die Rayons schneiden
nicht kleiner als 40 o und nicht größer als 100 0 seien, da sonst die
Schnittpunkte nicht scharf zum Ausdrucke kommen. Zieht man von
einem Punkte aus mehrere Rayons, so empfiehlt es sich, die Linien
nicht über die ganze Zeichnung zu ziehen, sondern nur dort zu mar¬
kieren, wo die Schnittpunkte voraussichtlich zu liegen kommen, da
durch zu viele Linien die Zeichnung unleserlich werden könnte, doch
muß man dann, sei es durch Beziffern der Rayons, sei es durch
deren Beschreibung am Außenrande der Zeichnung dafür sorgen,
daß man die einzelnen Rayons nicht miteinander verwechselt. Die
Methode des Vorwärtseinschneidens kommt namentlich dort zur An-
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10
Ehmer
Wendung, wo der zu bestimmende Punkt oder die zu bestimmende
Linie zwar sichtbar, aber nicht zugänglich ist, weil z. B. ein Wasserlauf
zwischen dem Standpunkte des Zeichners und dem fraglichen Ob¬
jekte liegt.
Bezüglich der Orientierung der Zeichnung sei bemerkt, daß es
zwar empfehlenswert aber durchaus nicht unumgänglich nötig ist, sie
gleich den Landkarten nach Norden zu orientieren. Vielfach ist es
ersprießlicher eine in der Natur vorfindliche brauchbare Basis, mag
sie in welcher Himmelsrichtung immer verlaufen, zu akzeptieren. So
wird man bei Darstellung von Terrainabschnitten namentlich gut
daran tun, die Hauptzugangsrichtung als Basis zu verwerten, da dann
Leute, die an der Hand der Skizzen Auskünfte geben sollen, sich
„auf ihr leichter auskennen“. Dafür, daß die Zeichnung ihnen richtig
in die Hand gegeben wird, sorgt ohnehin der Vermerk der Nord¬
richtung, der gleich dem Maßstabe auf ihr niemals fehlen darf. Je
primitiver der Zeichenapparat ist, dessen man sich bedient, desto mehr
d
Fig. 5.
wird man sich, nament¬
lich wenn man eines
Stativs entbehrt, auf die
Coordinaten-Methode
beschränken müssen,
neben der man dann
etwa noch die Auf¬
nahme von Linien durch
das Stationieren und
direktes Messen anwenden kann, es sei denn, daß man über eine
bedeutende Übung verfügt.
Wenn es auch mit derVerwendung des Millimeterpapieres nichts zu
tun hat, möchte ich hier doch eine einfache Methode erwähnen, nach der
man, zwar nicht genau, aber doch mit annehmbarer Sicherheit die Höhe
von Objekten bestimmen kann. Sie beruht auf der Lehre ähnlicher
Dreiecke und kann angewendet werden, wenn ein verläßlich hori¬
zontalgestellter Meßtisch in Verwendung steht (siehe Text-Figur 5).
Man stellt dann den Meßtisch (T) in entsprechender Entfernung
vom Objekte, dessen Höhe bestimmt werden soll, auf, bringt in einer
Distanz von 1 bis 2 m von der Hinterkante des Tisches vor dem¬
selben eine Meßlatte (L) senkrecht an und visiert über die horizontal
gestellte Platte von a aus das Objekt (0) an, merkt sich die Punkte,
wo die Vi8ur die Latte bei b und das Objekt bei c trifft; diese
Punkte liegen mit der Meßtischplatte in einer Ebene. Nun visiert
man von der Hinterkante des Tisches längs eines geraden Stabes der
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Das Skizzieren auf Millimeterpapier.
11
so lang sein soll, daß er die Meßlatte erreicht, den Punkt des Ob¬
jektes d an, dessen Höhe ermittelt werden soll und liest auf der
Latte den Punkt e ab, welcher in der neuen Visierlinie liegt ln den
rechtwinkeligen ähnlichen Dreiecken a b e und a c d sind nun:
die Länge a—b, die Höhe (h) b—c und die zu messende Länge
a—c, bekannt, aus diesen Elementen ergibt sich die Propor¬
tion H: h = a c: b a, also H — h x a c. Wählt man a b =* 1 m, so
a b
ist H direkt das Produkt aus der Höhe h und der Distanz a c. Um
die wirkliche Höhe des Objektes zu ermitteln, muß man natürlich
zum Werte von H die Länge des Stückes f c dazuzählen. Dieser
Teil des Objektes wird gewöhnlich leicht zu messen sein. Liegt der
Fußpunkt f des Objektes 0 erheblich tiefer als die Fläche des Me߬
tisches, so kann man zur Ermittelung der Länge von c f das gleiche
Verfahren anwenden, das zur Bestimmung der Länge des Stückes c d
geführt hat
1
Ist der Fußpunkt des Objektes nicht zugänglich, so wird man
ihn möglicherweise nach der Methode des vorwärts Einschneidens er¬
mitteln und in die Skizze einzeichnen können, die Entfernung des¬
selben von einem zugänglichen Punkte im Terrain, auf den man den
Meßtisch zur Höhenbestimmung aufstellen kann, der Skizze entnehmen
und so auch noch zu einem Resultate gelangen können, dessen
Richtigkeit freilich von der Genauigkeit des Vorgehens abhängig ist
und der Wirklichkeit nur annähernd entsprechen kann. Die zu H
zu addierende Entfernung f c wird man unter Umständen gleich der
Höhe des Meßtisches annehmen oder auch unter der Fiktion der a f d
sei ein rechter die Linie f d =» H setzen.
Zu dem Skizzen auf der Tafel sei bemerkt Fig. I stellt einen
Terrain-Abschnitt dar, der eine Übersicht über die nächste Umgebung
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12
I. Ehmer
des in Betracht kommenden Hauses A geben soll. Als Basis der
Zeichnung, die im Maßstabe 2 Schritte (X) = 1 Millimeter aufgenom¬
men wurde, dient die gerade Wegstrecke a — b, nördlich welcher ein
Bach verläuft. Die Lage der Baulichkeiten bei A wurde nach der
Coordinaten-Methode durch Abschreiten eingezeichnet Die Richtung
des Baches von b gegen c durch einen Rayon (-)
gewonnen.
Der Bach a, b, c macht das Terrain beim Hause B von der
Basis a, b aus unzugänglich. Es wurde von der Brücke g aus
gegen d, wo ein zur Orientierung geeigneter Baum steht, ein Rayon
geworfen und dieser durch einen Rayon geschnitten, der von der
Basis a, b aus direkt nördlich gezogen wurde — solche Rayons
wurden auch längs der Baumreihen zu den Punkten e und f des
Hauses B gezogen und dadurch die Längenausdehnung des Hauses
B ermittelt. Die Anrayonierung des Punktes d erfolgt zu dem
Zwecke, um eine Kontrolle für die Richtigkeit der Einzeichnung
dieses Punktes zu gewinnen, der auch durch Abschreiten längs des
Rayons g d bestimmt wurde. Das Haus 0 war gänzlich unzugäng¬
lich, — dessen Lage und Dimensionen wurden dadurch ermittelt
daß man den Eckpunkt bei h von i ans nach der Ordinaten-Methode
bestimmte, indem man von i aus südlich 10 X , östlich 4 X machte,
bis man jeweilig in die Flucht der Mauern kam, — ist der Eckpunkt
h gewonnen, so war das Einzeichnen des Hauses ein Leichtes, da
sich [durch Abschreiten längs des Zaunes ermitteln ließ, daß es
10 X lang und 12 X tief ist Zur Ermittlung der Entfernung der
Fahrstraße von der Basis werde von g aus ein Rayon znm Kreuze
bei k gezogen und die Entfernung g k durch Abschreiten ermittelt
Der Verlauf des Fahrweges k, y—x — wurde durch Rayonieren
und direktes Messen gefunden, — zur Kontrolle der Richtigkeit der
Zeichnung aber auch von b aus ein Rayon gegen den Fahrweg
geworfen und die Entfernung abgeschritten.
Um die Reproduktion der Zeichnung nicht zu erschweren, wurden
nur einzelne Flächen mit der Bezeichnung der Culturen versehen.
Beim Hause C befindet sich ein Gemüsegarten, der 4 la vue ein¬
gezeichnet wurde, zu B gehört eine mit Obstbäumen bepflanzte Wiese
— westlich des Weges, der von f gegen den Bach verläuft, befindet
sich Ackerland, das weiß belassen wurde, — die Ufer des Baches
von b gegen c sind mit Bäumen bepflanzt, südlich dieses Bachstückes
findet sich eine nasse Wiese, südwestlich von dieser durch einen
Weg getrennt, ein Stück Wald. Die gemauerten Baulichkeiteu sind
schraffiert, die aus Holz gebauten weiß gelassen; wo sich, wie beim
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Das Skizzieren auf Millimeterpapier.
13
Schuppen D Mauerpfeiler vorfinden; sind schwarze Quadrate einge¬
zeichnet Die Pfeile bei den Baulichkeiten bezeichnen, daß diese
bewohnt sind und markieren die Hauptfront.
Um die Skizze lebendiger zu gestalten, empfiehlt es sich, sie
mittelst Farbstift zu illuminieren. Gemauerte Gebäude werden rot,
aus Holz erbaute schwarz schraffiert, — Wege braun, — Wasserläufe
blau ausgezogen, Wiesen mit einfachen, Wälder mit gekreuzten grünen
Schraffen bezeichnet. Skizze II gibt einen Teil des Hauses A der
Skizze 1 im Maßstabe 1 :200 (1 Meter der Natur gleich 5 mm)
wieder. Die * geben die Lage der Fenster an, die Türen sind
etwas geöffnet dargestellt, die m > bezeichnen die Richtung, in der
sich’ die Türen öffnen, — gemauerte Teile sind doppelt ausgezogen,
hölzerne Wände einfach. Zeichen-Erklärungen wurden zwecks Raum¬
ersparung nur der Skizze III beigegeben, — in Wirklichkeit sollen
sie keiner Zeichnung fehlen. '
In der Skizze III deuten die Schraffen der Mauern an, die Aus¬
sparungen in den Mauern die Türen- und Fensteröffnungen, die
Linie a—ß deutet die Lage der Ordinaten-Achse an, die beim Skizzieren
durch ein gespanntes Meßband gebildet wurde. Von dieser Achse
wurde mittelst Maßstabes die Entfernung der einzelnen Einrichtungs¬
stücke von der Ordinaten-Achse gemessen.
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II.
Die Vornahme auswärtiger Amtshandlungen in der Praxis
nach österr. Gesetz.
Von
Dr. Richard Bauer, k. k. Staatsanwaltssubstitut in Troppau.
Die Bedeutung der Vornahme auswärtiger Amtshandlungen in
Strafsachen wurde schon so oft und eingehend hervorgehoben und
wird glücklicherweise heute immer mehr und mehr anerkannt, so daß
es gewiß überflüssig erscheinen würde, über die Vorteile derselben
im Allgemeinen eine Lanze zu brechen.
An dieser Stelle soll nur speziell darauf hingewiesen werden, wie
notwendig es unter Umständen sein kann, daß sich in wichtigen
Straf fällen, z. B. bei Mordtaten, welche sich im Sprengel von Bezirks¬
gerichten ereignen, der Untersuchungsrichter mit den Gerichtsärzten
des Gerichtshofes zur Erhebung an Ort und Stelle begibt, da man
ja von den Gerichtsärzten in kleineren Orten mit Rücksicht auf das
verhältnismäßig seltenere Vorkommen von Morden — von Ausnahmen
abgesehen — nicht jene Erfahrung und Praxis in forensischen Fällen
erwarten und verlangen darf, welche gerade bei derartigen Vorkomm¬
nissen unbedingt gefordert werden müssen, und nachdem auch nicht
alle, besonders ganz junge Erhebungsrichter, die möglicherweise nie¬
mals Gelegenheit hatten, an einem Lokalaugenscheine etc. teilzunehmen,
in der Lage sein dürften, einen den modernen Anforderungen ent¬
sprechenden Lokalaugenschein vorzunehmen und vielleicht auch
manchmal nicht die dazu nötigen Hilfsmittel besitzen.
Unbestritten dürfte wohl sein, daß ein in diesen wichtigen
Stadien, wie es I^okalaugenschein, Obduktion etc. sind, geschehenes
Versäumnis sich selten wieder gut machen läßt urid sogar den Er¬
folg der ganzen Untersuchung in Frage stellen kann.
Auch für den Staatsanwalt ist die Teilnahme an diesen wichtigen
Akten von großer Bedeutung, da er nach persönlicher Anschauung
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Die Vornahme auswärtiger Amtshandlungen in der Praxis usw. 15
der Sachlage dieselbe jedenfalls richtiger beurteilen nnd die Anklage
besser vertreten wird, als auf Grundlage bloßen Aktenstudiums.
Werfen wir nun einen Blick daräuf, wie sich die Praxis gegen¬
über dem Zustandekommen solcher Kommissionen stellt
Will der Untersuchungsrichter eine auswärtige Amtshandlung
vornehmen, so muß er gemäß § 21 der Verordnung vom 16. Juni 1854
No. 165 R.G.B. (Strafgerichtsinstruktion) die „Zustimmung“ des Prä¬
sidenten des Gerichtshofes einholen. — Im Falle der Verweigerung
kann nun der Untersuchungsrichter, wenn auch der Staatsanwalt
seiner Ansicht ist, sich an die Ratskammer wenden (Justizministerial-
Erlaß vom 6. Juni 1874 p. 5560). — Ob sich nun seit dem Jahre 1874
ein Untersuchungsrichter gefunden hat, der gegen seinen Präsidenten
an die Ratskammer gegangen ist, ist uns zwar unbekannt, allein
immerhin bezweifeln wir die Existenz eines solchen. — Der Unter¬
suchungsrichter wird sich im Stillen denken, zu was soll ich mir die
Finger verbrennen, und die Sache auf sich beruhen lassen, bei welcher
Sachlage der Staat vielleicht einige Gulden ersparen, die Strafrechts¬
pflege aber möglicherweise viel verlieren dürfte.
Da nun derartige Vorkommnisse kaum in das Reich der Fabel
gewiesen werden können, so wird es nicht ohne Interesse sein, die
gesetzlichen Bestimmungen, auf welchen dieses einschneidende Veto¬
recht des Präsidenten beruht, näher ins Auge zu fassen.
Der § 21 StI. bestimmt: „Wenn der Zweck des Untersuchungs¬
verfahrens »wirklich* erfordert, daß., so ist die Zustimmung
des Präsidenten des Gerichtshofes einzuholen. — Der Grundzug dieses
Paragraphen ist also der Ausdruck des größten Mißtrauens gegen
den Untersuchungsrichter.
Der § 22 St.I. macht sowohl den Untersuchungsrichter, welcher
diese Zustimmung nicht einholt, als auch den Präsidenten, der sie
grundlos erteilen sollte, ersatzpflichtig. — Unter so drakonische Be¬
stimmungen ist demnach die Vornahme einer auswärtigen Amtshand¬
lung gestellt, und schwebt sohin über den beteiligten Personen stets
das Damoklesschwert des Kostenersatzes, eventuell des Verlustes der
Reisekosten. — Im Gegensätze hierzu fühlt man aus den Bestim¬
mungen der Strafprozeßordnung vom Jahre 1873 einen ganz anderen
Geist wehen. — Der § 96 St,P.O. regelt die Stellung des Unter¬
suchungsrichters folgendermaßen:
„Ist die Voruntersuchung eingeleitet, so schreitet der Untersuchungs¬
richter von Amtswegen und ohne weitere Anträge des Anklägers ab¬
zuwarten ein, um den Tatbestand zu erheben, den Täter zu ermitteln
und die zur Überführung oder Verteidigung des Beschuldigten dienen-
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16
II. Bauer
den Beweismittel soweit festznstellen, als es der Zweck der Vorunter¬
suchung fordert“
Demnach hat der Untersuchungsrichter von Amtswegen einzu¬
schreiten, kann also auch ohne Antrag des Staatsanwaltes eine aus¬
wärtige Amtshandlung vornehmen, weshalb die Praxis mancher Ge¬
richtsvorsteher, eine solche nie ohne staatsanwaltschaftlichen Antrag
zu bewilligen, im Gesetze gewiß keine Grundlage findet, ebensowenig
wie in praktischen Erwägungen, da sich ja doch auch im Laufe
einer Untersuchung, deren Phasen ja doch der Staatsanwalt nicht
ständig im Auge behält, plötzlich die Notwendigkeit einer auswärtigen
Amtshandlung heraussteilen kann. Einerseits beklagt man die Unselbst¬
ändigkeit des Untersuchungsrichters gegenüber der Staatsanwaltschaft,
und andererseits zieht man seiner Tätigkeit solche künstliche Schranken!
Trotz der dem Untersuchungsrichter durch die Strafprozeßordnung
zugewiesenen Stellung blieben dennoch die §§21 und 22 der Verord¬
nung aus dem Jahre 1854 in Kraft, welche im hellen Lichte der
Strafprozeßordnung wie traurige Ruinen vergangener Zeiten dastehen.—
Widerspricht denn nicht in greller Weise dieses Vetorecht des Prä¬
sidenten der dem Untersuchungsrichter gesetzlich eingeräumten Be¬
fugnis? — Der Untersuchungsrichter ist für die Durchführung der
Voruntersuchung im Vereine mit dem Staatsanwalte, der auf dieselbe
Einfluß nimmt, verantwortlich, in keiner Weise aber der Präsident. —
Nichtsdestoweniger kann dieser, ohne für die Durchführung der Unter¬
suchung auch nur die geringste Verantwortung zu tragen, durch
Verweigerung einer auswärtigen Amtshandlung den Erfolg der Unter¬
suchung in Frage stellen, und somit durch eine Administrativ¬
maßregel auf die materielle Führung der Untersuchung einen ein¬
schneidenden Einfluß nehmen, was jedenfalls mit den Intentionen der
Strafprozeßordnung nicht in Einklang zu bringen ist
Z. B.: Im Sprengel eines Bezirksgerichtes geschieht ein Mord.
Mit Rücksicht auf die Unzulänglichkeit der auswärtigen Gerichtsärzte
und die Unerfahrenheit des in Betracht kommenden Erhebungsrichters
soll nun der Untersuchungsrichter mit den Gerichtsärzten an Ort und
Stelle entsendet werden.
Der Präsident verweigert die Zustimmung.
Infolgedessen wird die Amtshandlung auswärts vorgenommen
und zwar — wie vorauszusehen war — nicht sachgemäß. — Die
Anklage, der die wichtigsten Stützen fehlen, fällt. — Wen trifft nun
vor der Öffentlichkeit die Verantwortung? Natürlich in erster Linie
den öffentlichen Ankläger, während von dem eigentlich Schuldigen
kaum jemand eine Ahnung hat.
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Die Vornahme auswärtiger Amtshandlungen in der Praxis usw.
17
Ohne behaupten zu wollen, daß sich solche Fälle schon ereigneten,
muß schon eine derartige Möglichkeit, die gewiß nicht kurz von der
Hand zu weisen ist, genügen, um auf die Entfernung dieser unzeit¬
gemäßen Bestimmungen hinzuarbeiten.
Allein noch ein anderer Umstand ist in Betracht zu ziehen. —
Der Untersuchungsrichter, der die „Zustimmung 11 zu einer auswärtigen
Amtshandlung einholt, muß wohl im Hinblick auf den Text der
§§21 und 22 StJ. das beschämende Gefühl empfinden, daß er stets
gegen den Verdacht, sich durch diese Amtshandlung ungerechtfertigt
bereichern zu wollen, anzukämpfen hat.
Diese Empfindung wird mitunter noch durch Fragen, wie z. B.:
„Schon wieder eine Kommission? 11 — „Ist die Kommission denn
wirklich notwendig?“ — „Liegt denn ein Antrag der Staatsanwalt¬
schaft vor?“ etc. — gewiß nicht gemildert, und es wird vielleicht in
manchem Untersuchungsrichter, dem in solchen Momenten das Blut
in das Gesicht gestiegen ist, der Entschluß gereift sein, nie wieder
diesen Passionsweg zu betreten, und lieber ein „Expeditiver“-Unter¬
suchungsrichter zu werden, wie ihn Groß in seinem Handbuche
(9. Aufl. I. Bd. S. 54) so lebenswahr schildert, der nie einen Lokal¬
augenschein für nötig hält, stets auf Einstellung hinarbeitet, aber auch
niemals einem Vorgesetzten mit Anforderungen an den Strafverlag etc.
zur Last gefallen ist.
Unseres Erachtens gemäß würde nun eine „Anzeigepflicht“ von
der Vornahme einer Kommission an das Präsidium vollkommen ge¬
nügen.
Dadurch würde aber der Einfluß des Präsidenten auf die ma¬
terielle Durchführung der Untersuchung, welcher dem Geiste der
Strafprozeßordnung widerspricht, beseitigt, und wäre andererseits auch
den Anforderungen der Oberaufsicht vollkommen Genüge getan.
Die etwa hiergegen erhobene Einwendung, es könnten dann
leichtsinnigerweise zum Schaden des Staatsschatzes unnötige aus¬
wärtige Amtshandlungen unternommen werden, wird hinfällig, wenn
man erwägt, daß sich erfahrungsgemäß kaum jemals ein Straf¬
richter, der ja meist auch die Verpflegung des Schriftführers be¬
zahlt, von den Diäten und Meilengeldern etwas erspart, wohl aber
schon oft aus eigener Tasche darauf gezahlt hat, und daß ja doch
auch die Kommissionen unter der Kontrolle der Staatsanwaltschaft
vorgenommen werden, welche gewiß auch gegen die leichtfertige Vor¬
nahme derselben Stellung nehmen würde. Immerhin könnte es ja
dem Präsidenten Vorbehalten bleiben, gegen einen Untersuchungs¬
richter, der öfters unnötige Kommissionen vornimmt, einzuschreiten
Archiv für Kriminalanthropologie. 29. Bd. 2
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II. Baues
und ihn eventuell für die Kosten haftbar zu machen. Und so weit
würde es wohl kaum jemand kommen lassen.
Heute, da der Vornahme von Amtshandlungen an Ort und
Stelle in der Literatur, wie in der Praxis stets größere Wichtigkeit
beigemessen wird, da sich die von Hans Groß vertretenen Anschau¬
ungen immer mehr und mehr Bahn brechen, sollte es keine Be¬
stimmung mehr geben, die es ermöglicht, daß kleinliche Sparsam¬
keitsrücksichten über das Interesse an der Wahrheitserforschung den
Sieg davontragen, und welche dem Untersuchungsrichter die be¬
schämende Stellung eines Menschen gibt, der gegen den Verdacht un¬
gerechtfertigter Bereicherungsabsicht kämpfend, sich die Erlaubnis zur
Vornahme einer Kommission oft unter demütigenden Bedingungen er¬
bitten muß.
Daß unter solchen Verhältnissen auswärtige Amtshandlungen
nicht zu oft vorgenommen werden, darf wohl nicht Wunder nehmen,
und es wäre nicht uninteressant festzustellen, wie viele Untersuchungen
unter der Herrschaft des Geistes kleinlicher Sparsamkeit und unter
der sorgsamen Hand des expeditiven Untersuchungsrichters unnötiger
Weise ein unrühmliches Ende durch Einstellung gefunden und so
mitgeholfen haben, das Vertrauen des Volkes in die Strafjustiz zu er¬
schüttern.
Solche Bestimmungen, wie die §§21 und 22 St. J. mögen viel¬
leicht — obwohl wir auch dies bezweifeln, — im Jahre 1854 am Platze
gewesen sein, allein in das Zeitalter des modernen Strebens in den
Strafrechtswissenschaften passen sie sicherlich nicht hinein, sondern
können nur als Hemmschuh ernstlicher und die objektive Wahrheit
fördernder Tätigkeit angesehen werden.
Bei Beseitigung dieser Paragraphen würde gewiß der Staats¬
schatz keine große Einbuße erleiden, wohl aber die sachgemäße
Durchführung der Untersuchungen bedeutend gewinnen, und manche
Klagen über die Fehlbarkeit der Strafjustiz würden vielleicht ver¬
stummen.
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Ein Gendarmenmord.
Mitgeteilt vom
Untersuchungsrichter Dr. Anton Glos in Neutitschein (Mähren).
Um Mitternacht des 13. April 1906 meldete der Probegendarm
J. P. anf seinem Posten in H., daß der mit ihm patroullierende
Postenkommandant F. J. anf der Bezirksstraße zwischen H. und Hr.
etwa 250 m von dem Ortseingange von H. von einem Unbekannten
erschossen worden sei. Man fand auch tatsächlich den F. J. etwa
5 m abseits der Straße als Leiche vor, sein Karabiner samt Bajonett
fehlte, sonst nichts.
Die Obduktion ergab als Todesursache Verblutung infolge einer
Durchbohrung der großen Schlagader und der Lungenvene, des
Herzens durch ein Projektil von 7—9 mm Durchmesser; der Schuß
wurde aus großer Nähe in der Richtung von oben und außen nach
innen und unten abgefeuert; außerdem war am linken Oberschenkel
ein Streifschuß und am rechten Oberschenkel ein Prellschuß. Der
Tatzeuge Probegendarm P. schildert den Vorfall wie folgt:
Beide Gendarmen patroullierten um 11 Uhr nachts auf der durch
die Gemeinde Hr. führenden Bezirksstraße in der Richtung gegen H;
etwa 250 m vor H. hörten sie jemand hinter sich gehen, sie blieben
auf der Straße stehen und ließen den Unbekannten durchgehen, als
er 2 m vor ihnen war, forderte ihn J. zum Stehenbleiben zweimal
auf, der Unbekannte blieb stehen, die Gendarmen traten auf 3 m an ihn
heran. Kaum hatte der Unbekannte einige seitens J. an ihn gestellte
Fragen beantwortet, als er zwei Schüsse gegen die Gendarmen ab¬
feuerte und die Flucht ergriff. J. sprang ihm nach, kurz hernach
fiel ein dritter Schuß, durch den J. jedenfalls getötet wurde. Eine
verläßliche Personsbeschreibung des Täters vermochte der Tatzeuge
nicht zu geben, einerseits weil es finster war, andererseits weil ihn
das Attentat aus der Fassung brachte.
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20
XXVI. Glos
Alsbald lenkte sich der Verdacht der Täterschaft gegen den
18jährigen in Hr. wohnhaften Hüttenarbeiter J. B.; dieser verließ am
19. April 1906 die Gemeinde Hr., um sich nach Preußen zu begeben;
unweit der Grenze eröffnete er seinem Bekannten Fr. K., den er
dahin beschieden hatte, es brenne ihm der Boden unter den Füßen,
weil er den Gendarmen erschossen habe, er müsse fort; warum er
dies getan, sagte er nicht.
So schilderte die Sache Fr. K., welcher nach seiner Heimkehr
hiervon der Gendarmerie in der Nacht noch die Anzeige erstattete.
Der Verdacht, J. Br. sei der Täter, wurde auch später erwiesen.
Das Motiv der Tat war jedoch nicht sofort klar; da aber gerade das
Motiv im vorliegenden Straffalle bemerkenswert ist, erscheint es nötig,
das Milieu, in dem J. B. lebte, sowie seine Persönlichkeit näher zu
schildern.
Gendarmenmord, überhaupt Mord von Sicherheitsorganen, ist
mehr weniger eine Seltenheit; es kommt ab und zu vor, daß ein
verwegener auf der Flucht befindlicher Verbrecher, wenn angebalten,
sich mit der Waffe in der Hand seiner Verhaftung zu entziehen sucht
und auch den Mord nicht scheut; vorbedachter Gendarmenmord ist
immerhin selten, selbst dort, wo der Gendarm sehr häufig in die
Lage kommt, die Spuren des Verbrechens und des Verbrechers zu
verfolgen.
Die Gemeinde Hr. ist an der Peripherie eines größeren, im steten
unaufhaltsamen Wachstum begriffeuen Industrieortes gelegen, welcher
eine überaus lebhaft fluktuierende Arbeiterbevölkerung hat und dessen
Kriminalität, insbesondere was Kapitalfälle anbelangt, eine ganz be¬
trächtliche ist. Häufige Streiks, Demonstrationen und dergl. bringen
es mit sich, daß die Sicherheitsorgane, insbesondere die Gendarmerie
häufig genug in die Lage kommen, einzuschreiten.
B.’s Eltern sind vermögenslos; sie besaßen wohl einst einen
Grundbesitz, um welchen sie jedoch- dffrch schuldhafte Mißwirtschaft
kamen, die Ehegatten lebten iu Unfrieden, oft getrennt von einander
and ernährten sich kümmerlich; B. besuchte die Volksschule, lernte
lesen und schreiben, frühzeitig kam er in den Dienst unter fremde
Leute, begann ein Handwerk zu lernen, schließlich wurde er Hütten¬
arbeiter, doch blieb er nirgends lange. Er zeigte mehr ein ver¬
schlossenes Wesen, hatte Vorliebe für Waffen und abenteuerliche
Lektüre; insbesondere schwärmte er für Rinaldo Rinaldini, dessen
Taten er rühmte, Musolino und ähnliche Helden.
Den „Blutroman“ Rinaldo Rinaldini von A. Söndermann hatte
er ganz gelesen; die Einflüsse dieser Lektüre spiegeln sich deutlich
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Ein Gendarmenmord.
21
in seinen Briefen wieder, in denen er sich „Graf Nero“, „Szandor“
(Rosa Szandor war ein ung. Räuber) nennt; ebenso wie Rinaldo will
er ein gefährliches Leben beginnen, wenn das von ihm angebetete
Mädchen ihm nicht nach Amerika, wohin er dann später flüchtete,
folgen sollte. Außer Rinaldoromane las er auch Indianergeschichten,
Romane von May und E. A. Poes abenteuerliche Erzählungen u. dgl.
Bemerkenswert ist, daß B. schon den 2. Tag nach seiner Flucht
von Preußen heimlich zurückkehrte und sich dann in der Umgebung
von Hr. einige Tage herumtrieb und sich da und dort zeigte; auch
dies scheint nachgeahmt zu sein. 1 )
Es gelang ihm später, unter einem fremden Namen und Arbeits¬
buch Arbeit zu finden und dann nach einiger Zeit mit Unterstützung
eines Kameraden nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika zu
flüchten.
Die von ihm aus Amerika an seine Kameraden gesandten, ge¬
richtlich beschlagnahmten Briefe zeigen, daß B. für seine neue Um¬
gebung offene Augen hat aber auch hier denkt er an abenteuerliche
Unternehmungen, ja er will sogar einen Roman aus seinem Leben
schreiben, er selbst fühlt sich als der Held eines Romans. Seine Ver¬
haftung macht jedoch seine Pläne zu nichte; nach Abwickelung der
im diplomatischen Wege eingeleiteten Auslieferungsverhandlung erfolgt
B.’s Auslieferung an das kompetente Gericht
Die gegen B. erhobene Anklageschrift beschuldigt ihn des an
dem Gendarmen J. F. vollbrachten Raubmordes sowie zweier vor
dieser Tat in Gesellschaft eines zweiten flüchtigen Komplizen ver¬
übter schwerer Raubfälle, deren B. erst nach seiner Auslieferung
überwiesen wurde, weshalb erst die nachträgliche Zustimmung der
Regierung der Vereinigten Staaten Nordamerikas zur Verfolgung
dieser neu hervorgekommenen Delikte eingeholt werden mußte. —
Der Umstand, daß B. schon vor der Ermordung zwei schwere Raub¬
fälle beging, ist wohl sehr bezeichnend für seine verbrecherische
Anlage sowie für die Bloßlegung des Motives des Mordes an dem
Gendarmen.
Den ersten Raub beging B. am 9. März 1905; dazumal war er
über 16 Jahr alt; desselben Tages vormittags erschien er im Post¬
amte der Gemeinde B., verlangte eine Drucksorte und im Momente,
als sich die Postmeisterin bückte, um das Verlangte auszufolgen,
versetzte er ihr mit einem Knüttel 3 wuchtige Hiebe auf den Kopf,
so daß diese bewußtlos zu Boden fiel. Der Raub des Geldes mißlang
1) Vergl. Hans Groß, Hdb. f. U. R. 4. Aufl. I. Bd. pag. 140.
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22
XXVI. Glos
jedoch durch einen Zufall. Sein Komplize war Aufpasser; B. wollte
freilich glaubhaft machen, daß ihm hierbei die Aufpasserrolle zufiel,
doch wurde diese seine Angabe vollends entkräftet. Die Verübung
der Tat scheint wohldurcbdacht gewesen zu sein, da einige Tage
zuvor die Örtlichkeit u. s. w. genau seitens Beider ausgekund¬
schaftet wurde.
Ebenso verwegen war auch der zweite Baub. Am 17. Februar
1906 kam der obenerwähnte Komplize des B. um 7*6 Uhr früh in
das Geschäftshaus eines Kaufmanns in W., verlangte um 20 Heller Wurst,
zahlte mit einem Guldenstücke; in dem Momente, als der Kaufmann
das Guldenstück wechselte, versetzte ihm der Komplize mit einem
aus starkem Draht angefertigten Knüttel einige wuchtige Hiebe auf
den Kopf, so daß der Kaufmann blutüberströmt und bewußtlos zu
Boden fiel. Aus einer im Geschäftslokale befindlichen Wertheimkassa,
welche der Kaufmann behufs Entnahme des Kleingeldes öffnete,
raubte der Täter einen Betrag von mehr als 600 K.
B., welcher gleichfalls mit einem Knüttel bewaffnet war, hielt vor
dem Geschäftslokale Wache und erhielt die Hälfte des Baubes. T.
hatte bei Verübung der Tat einen falschen Bart sich angemacht.
Bezeichnend ist, daß B. und T. untereinander ein Bündnis
abgeschlossen haben dabin, daß jeder eine Sache auszuführen über¬
nahm und daß sie dann nach Amerika flüchten wollten; T. entkam,
B. blieb noch, zehrte bald seinen Anteil vom Baub auf und plante
dann jedenfalls eine neue Tat, da er sich am 14. März 1906 um
55 Kronen eine sogenannte Magazin-Bochardtpistole kaufte; es scheint
auch, daß er die Absicht hatte, nach Amerika auszuwandern, da er
einem Bekannten, der sich zur'Abreise dorthin rüstete, sagte, er wäre
auch mit ihm gefahren, werde aber noch warten.
Über das Motiv des an dem Gendarmen verübten Mordes liegen
mehrere außergerichtliche Äußerungen des B., die er vor der Flucht
machte, sowie seine Verantwortung vor, die er wiederholt wechselte;
es macht geradezu den Eindruck, daß B. nicht gesonnen war, das
Motiv vollkommen aufzuklären; vielleicht hätte er da sein Seelen¬
leben bloßlegen müssen und da er jetzt durch die Verfolgungen,
durch seine Flucht und seine neue Umgebung das Leben auch von
der ernsten Seite kennen lernte, empfand er vielleicht eine gewisse
Scham sich voll und ganz einzubekennen und offen zu sagen, daß
er die verbrecherische Laufbahn durch abenteuerliche Lektüre ver¬
leitet, betrat und sich die Welt doch ganz anders vorstellte als andere
Leute seines Schlages. Ein gewisser cynischer Zug, der insbesondere
jugendlichen Verbrechern eigen ist, machte sich bei ihm bemerkbar
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Ein Gendarmenmord.
23
und dies hielt ihn zurück in aufrichtiger Reue über seine Taten
nachzudenken. Er unternahm auch einen ganz ernst gemeinten und
durch Zufall vereitelten Selbstmordversuch in der Gefangenschaft;
doch fehlten Anzeichen einer Geistesstörung, die sei es früher be¬
standen, sei es erst in der Haft sich entwickelt hätte. Ungekünstelte
Gleichgültigkeit trug er auch bei der Verhandlung zur Schau.
Nach den seinen Freunden gegenüber gemachten Äußerungen
hatte er nicht beabsichtigt die Gendarmen zu ermorden, er wollte sie
bloß durch abgegebene Schüsse schrecken, weil sie Fuhrleute, die ihr
Fuhrwerk aufsichtslos auf der Straße stehen ließen, zur Anzeige
brachten; als er sich verfolgt sah, wehrte er sich, wobei der Gendarm
getroffen wurde.
Unmittelbar vor seiner Flucht gestand er jedoch seiner Mutter,
daß seihe Absicht darauf gerichtet war, die beiden Gendarmen zu
ermorden, sich der Montur und Rüstung zu bemächtigen, da er noch
mit einem Komplizen als Gendarm verkleidet einen verwegenen
Diebstahl im Postamte M. auszuführen gedachte; ein solches Ge¬
ständnis legte er auch bei Gericht im Laufe der Untersuchung ab,
widerrief es wieder und blieb schließlich dabei, daß er aus Lebens¬
überdruß den Entschluß faßte, seinem Leben ein Ende zu machen,
da er aber einen Selbstmord scheute, habe er gewollt, daß ihm diesen
Dienst die Gendarmen erweisen; er wollte sie angreifen und von
ihnen erschossen werden.
Bemerkenswert ist, daß im Rinaldo Rinaldini ausführlich eine
Episode geschildert wird, wie Rinaldo mit seinen Komplizen die zu
ihrer Festnahme entsendeten Häscher abfängt, sie in die Kleider der
Räuber steckt und seine Leute mit den Kleidern und der Rüstung
der Häscher versieht und sodann selbe als die vermeintlichen Räuber
ins Gefängnis abliefert. Diese Episode mag immerhin die Phantasie
des B. angeregt haben, wofür der Umstand spricht, daß er mit Vor¬
liebe davon sprach, ob man auch heutzutage solche Taten, wie sie
Rinaldo ausführte, noch wagen könnte.
B. wurde wegen Verbrechens des an dem Gendarmen verübten
Raubmordes und zweier Fälle von Raub zu 15jährigem schwerem
Kerker verurteilt.
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IV.
Strafverfahren gegen einen noch nicht 14jährigen Knaben
wegen Bestialität,
verhandelt 1715 und 1716 vor dem Markgräflich Baden-
Durlachischen Hofrat zu Durlacb.
Mitgeteilt von
Dr. August Roth in Karlsruhe.
Der in den folgenden Blättern geschilderte Strafprozeß ist der
Sammlung der Protokolle des Markgräflich Baden - Durlachischen
Hofrats entnommen, die noch im Großh. Generallandesarchiv in
Karlsruhe aufbewahrt wird. Die Prozeßakten, worauf mehreremal
Bezug genommen ist, sind nicht mehr vorhanden, doch ergibt sich
aus den erhaltenen Protokollen der Tatbestand und Gang der Ver¬
handlung ganz genau. Besonders interessant ist an diesem Prozeß,
daß die Vota, womit jeder der Hofräte seine Abstimmung begründet,
erhalten sind; sie sind, offenbar mit Rücksicht auf die Eigenart und
Schwere des Falles viel ausführlicher zu Protokoll gegeben, als dies
sonst zu geschehen pflegte.
Zunächst sei in kurzen Zügen das Strafverfahren geschildert,
wie es im VII. Teil des Landrechts, der Malefiz-Ordnung vorge¬
schrieben war.
Die Ämter, denen ein Kriminalfall zur Kenntnis kam, hatten
zunächst, wenn nötig, den Beschuldigten festzunehmen, zu verhören
und die ersten Ermittelungen vorzunehmen. Ein mehreres zu tun,
namentlich den Beschuldigten peinlich zu befragen, war streng unter¬
sagt. Alsdann hat das Amt die Akten dem Hofrat in Durlach vor¬
zulegen. Dieser ist die kollegiale Zentralbehörde für die Gebiete der
inneren Verwaltung und der Justiz. Ihm gehören an: ein Präsident,
die Geheimen Räte und je eine gleiche Zahl von adeligen und ge¬
lehrten Hofräten. Der Hofrat prüft, ob die Angelegenheit schon
spruchreif ist, oder ob und welche Erhebungen noch nötig sind.
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Strafverfahren gegen einen noch nicht 14jährigen Knaben wegen Bestialität. 25
Mit diesen wird dann ex speciali commissione das zuständige Amt
betraut; ohne Auftrag darf kein Amt in einer Kriminalsache etwas
unternehmen. Insbesondere darf nur der Hofrat bestimmen, ob die
peinliche Frage und wie weit angewendet werden dürfe. Die Tortur
ist sehr abgemildert, sie zählt 5 Grade:
t. Vermahnung zur Wahrheit und Drohung mit der Tortur.
2. Vorstellung des Scharfrichters und seiner Geräte.
3. Handanlegung des Scharfrichters.
4. Anbinden an den Werkzeugen.
5. Aufzug des Beschuldigten, mit oder ohne Gewicht, ein- oder
mehreremal, je nach Anordnung des Hofrats.
Andere Arten der peinlichen Frage sind verboten. Bei Per¬
sonen unter 14 Jahren treten anstelle des Aufziehens Schläge mit
Ruten.
Nach Wiedereinkunft der Akten 'prüft der Hofrat, ob nunmehr
zum Spruche geschritten werden kann; nach Umständen werden noch
weitere Erhebungen gemacht. Den Angeklagten bekommt er nie zu
Gesicht. Scheint die Angelegenheit spruchreif, so werden die Akten
an das Amt zur „Herbeiführung des Urteils“ mitgeteilt Das Amt
nimmt mit dem Angeklagten die „Besiebnung“ vor, worüber ein
Protokoll aufgenommen wird. Dies ist ursprünglich die Überführung
durch 7 Zeugen; später allgemein die Überführung. Alsdann wird
mit einer Ladungsfrist von mindestens 3 Tagen das Blut- oder
Malefiz-Gericht einberufen, das nach dem Brauch jeder Gegend zu¬
sammengesetzt ist, jedoch in Sachen, die ans Leben geben, mindestens
12 Beisitzer zählen muß. Die Beisitzer müssen ehrlich, ehelich,
mindestens 25 Jahre alt und keiner mit dem andern bis zum 3. Grad
(römisch) verwandt oder verschwägert sein. Vor diesem Geschwore¬
nenkollegium spielt sich der eigentliche Prozeß ab. Die Anklage
nebst Strafantrag, Protokolle und sonstige Beweistümer werden ver¬
lesen, hierauf erhält der Verteidiger das Wort (die Verteidigung ist
nach L. R. VII, 5, § 1 bei allen Verhandlungen vor dem Malefiz¬
gericht notwendig); dem kann eine replicatio und duplicatio folgen.
Alsdann muß zum Urteil geschritten werden. Den Richtern sind die
gesetzlichen Bestimmungen genau vorzulesen; mit „Fleiß, Ernst und
Gottes-Furcht“ sollen sie das Urteil erwägen, das dann schriftlich
abzufassen und dem Hof rat einzusenden ist. Hier werden die
Formalien geprüft und beschlossen, mit welchem Antrag das Urteil
dem Landesherrn vorzulegen sei. Markgraf Karl Wilhelm, der da¬
mals regierende Landesherr, kümmerte sich um die kleinsten Dinge
der Verwaltung seines Landes; er ließ sich jedes derartige Urteil
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26
IV. Roth
vorlegen. War der Landesherr mit dem Urteil einverstanden, so
konnte es vollstreckt werden. De jure wird also das Urteil noch von
Laienrichtern gefunden; de facto ist aber der Hofrat das entscheidende
Kollegium, da das Blutgericht wohl kaum von dem Antrag des Hof*
rats abzuweichen sich getrauen wird.
Der Tatbestand ist folgender:
Der Delinquent, ein noch nicht ganz 14 Jahre alter Knabe hatte,
nachdem er schon von einem andern Buben zur Selbstbefleckung
verführt worden war, mit einem Kalb Unzucht getrieben, und ver¬
suchte dies 3 Wochen später zu wiederholen, als er von einem in
den Stall getretenen Mann an der Vollbringung seines Vorhabens
gehindert und dem Amt angezeigt wurde. Dessen ist der Täter ge¬
ständig, will aber nicht wissen, ob bei beiden Akten ein Ausfluß des
Samens stattgefunden habe. Er will dabei nur einen gelinden Kitzel
verspürt haben.
Ob dieser Junge, wenn die Tat heute zur Aburteilung stände,
ernstlich für strafbar erachtet werden würde, muß billig bezweifelt
werden. Es darf wohl als sicher angenommen werden, daß das Vor¬
handensein der Einsicht in die Strafbarkeit seines Tuns von vorn¬
herein verneint und er in Zwangserziehung gebracht werden würde,
zumal er uns als stupidus ingenii bezeichnet wird. Nicht so vor
200 Jahren. Die Herren Hofräte sind über das r abominable Laster“
so entsetzt, daß sie nur die Tat, nicht auch den Täter würdigen, und
daher die Strafbarkeit nicht im mindesten bezweifeln. Es wird, nach¬
dem der Tatbestand festgestellt, nur noch über die Art der Strafe
debattiert; und zweifellos kommen sich diejenigen, die für die
Milderung der Todesstrafe zum Staupenschlag mit Ijandesverweisung
stimmen, als milde Menschenfreunde vor. Sie erwarten von dieser
Züchtigung eine Besserung des Knaben für die Zukunft; das Hin¬
ausstoßen eines so jungen Burschen in die Fremde will uns aber als
ein bedenkliches Besserungsraittel erscheinen; so meint auch der Hof¬
rat v. Leutrum, der aber als Mittel, um den Knaben vom weitern
Laster abzuhalten, die Todesstrafe empfiehlt. Es muß aber auch
berücksichtigt werden, daß es an Anstalten fehlte, worin ein moralisch
minderwertiger Junge eine gesunde Erziehung hätte erhalten können.
Das Markgr. Waisen-, Zucht- und Tollhaus in Pforzheim war jeden¬
falls keine derartige Anstalt.
Wie gering das Interesse für die Person des Angeklagten ist,
beweist schon dies, daß sein Name nicht einmal genau feststeht: er
wird Wilhelm, Johann Wilhelm und Jakob genannt. Auch sein Alter
ist nicht genau festgestellt; er wird als 14 Jahre weniger 2 Monate
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Strafverfahren gegen einen noch nicht 14jährigen Knaben wegen Bestialität. 27
alt bei Begehung der Tat bezeichnet; in jenen unruhigen Zeiten waren
die Taufbücher in Eggenstein zugrunde gegangen und erat 1702
wieder neue angelegt worden, so daß das Alter des Angeklagten
wohl schon damals urkundlich nicht mehr festzustellen war.
Da aber doch angenommen wird, daß er das 14. Lebensjahr als
die annos pubertatis nicht erreicht hat, dient dies als Grund für die
Milderung der ordentlichen Strafe. Von anderer Seite wird aber an¬
geführt, daß malitia aetatem supplere posse, und daß daher die
Todesstrafe wohl am Platze sei. Für die Frage, ob der Knabe schon
tatsächlich pubes sei, wird nicht nur auf sein Alter, sondern auch
auf seine körperliche Beschaffenheit abgehoben; daher werden zwei
medizinische Sachverständige zur Untersuchung des Knaben bestellt.
Und obwohl deren Gutachten dahin geht, daß die Pubertät kaum er¬
reicht sei, halten doch 4 Stimmen die Todesstrafe für angebracht
Einen Grund für Anwendung der milderen Strafe würde auch
die Anstiftung durch einen andern bilden. Darum wird nachge-
foracht, ob ein Anstifter in Betracht käme und gefunden, daß der
Angeklagte durch einen unbekannten Buben zur Unsittlichkeit ge¬
bracht wurde. Hofrat v. Leutrum findet allerdings zweimal, daß der
Angeklagte auf Anreizung des leidigen Satans gehandelt habe; ob
dies aber seine persönliche Meinung ist, oder ob er damit nur die
Legaldefinition in L. R. VII. 40 (s. u.) wiederholt, mag dahingestellt
bleiben.
Ganz eigentümlich berührt es, daß gerade diejenigen, die für die
mildere Strafe stimmen, weil der Knabe die Pubertät noch nicht er¬
reicht und seiner geringen geistigen Fähigkeiten halber die Größe des
Vergehens nicht recht habe einsehen können, dennoch offenbar einen
entscheidenden Wert darauf legen, daß ihm die bei der ewigen
Landesverweisung übliche Urfehde abgenommen werde. Von der
andern Seite wird hiergegen nichts eingewendet, so daß als all¬
gemeine Meinung angesehen werden kann, daß die Richter den noch
nicht 14jährigen Übeltäter als eidesfäbig ansehen, falls er vorher
ordentlich belehrt worden ist.
Mindestens ebenso sehr wie das Schicksal des Delinquenten be¬
schäftigt den Hofrat das Schicksal des Kalbes, mit dem die Unzucht
vorgenommen wurde. Hierin sind alle einig, daß das unvernünftige
Tier die volle Schärfe der in den Strafgesetzen für den Täter aus¬
gesetzten Strafe zu leiden habe.
Die endgültige Entscheidung des Landesherrn läßt sich nur aus
dem letzten Protokoll, jedoch mit Sicherheit vermuten: Gemäß dem
Urteil des Blutgerichts wurde darauf erkannt, daß der Angeklagte
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IV. Roth
mit dem Kalb auf den Eichtplatz geführt wurde „in der Meinung,
decollirt zu werden“, alsdann gestäupt und nach abgeschworener
Urfehde des Lands auf ewig verwiesen werden, zuvor aber das Kalb
in seiner Gegenwart verbrannt werden sollte.
Im übrigen mögen die Darlegungen der Protokolle für sich
selbst sprechen; und wenn wir versucht sind, uns zu freuen, wie weit
wir es im Gegensatz zu diesen vor 200 Jahren die höchsten Beamten
beherrschenden Anschauungen gebracht haben, wollen wir bedenken,
ob nicht etwa nach weiteren 200 Jahren unsere Nachkommen mit
derselben mitleidigen Überlegenheit auf unsere Rechtspflege herab¬
sehen werden. Wenn uns diese Erkenntnis von der immer in den
Zeitströmungen wurzelnden Unvollkommenheit menschlicher, und
auch gesetzgeberischer und richterlicher Einsicht bei der Lektüre der
folgenden Dokumente dämmert, ist der schönste Zweck dieser Ver¬
öffentlichung erreicht
Protokolle.
Sambstags, den 16. Novembris 1715.
Praesentes:
Herr Geh. Rath Maler
„ „ „ Zur Glocken
.. v. Wallbronn
., v. Leutrum
,, Hoffrath Menzer.
„ Hoffrath Güntzer und Herr Hoffrath Eccard waren in
der Berghausener Commission beschäftigt und also dieses
Orts absentes.
No. 1353 Mühlburg, Linkenheim.
Das Amt Mühlburg berichtet mit Anschluß eines Examinations-
Protocolli, welcher Gestalten Wilhelm Gaßmann, ein 14 jähriger Knab
von Eckenstein, Jakob Gaßmanns, eines sonst ehrlichen und 30jährigen *)
Hirthens und Hintersassens Sohn allda, sich in crimine sodomiae mit
einem halbjährigen Kalb solcher Gestalten ergreiffen lassen, daß
Jacob Seidlin, Bürger daselbst, Ihme zwar nicht in würklichem actu,
doch aber solchen vorhabend angetroffen, Er auch Seiner Bekändtnüß
nach dieses abscheuliche Laster vollbracht hätte, wenn Er nicht daran
verhindert worden wäre, nebst deme aber auch endlich gestanden
habe, daß Er etliche Wochen zuvor einen actum sodomiae auff diese
1) Jakob Gaßmann war 30 Jahre lang Hirt; das „jährig- 1 bezieht sich auf
den Beruf.
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Strafverfahren gegen einen noch nicht 14jährigen Knaben wegen Bestialität 29
Weise mit gedachtem Kalb begangen und Sein membrum virile
1 l /i Zoll dem Kalb beigebracht habe.
Herr Geh. Rath Maler:
Er seye in actu illicito ertapt worden und also Sein böses Vor¬
haben daranß abznnehmen. Weilen Er nun in solch böser postur
angetroffen und Er solches auch nicht längnen können, sondern be-
können müssen, daß er solchen actum zu vollbringen im Sinn gehabt,
und wann Seidel Ihme nicht beschrieen, würcklich vollbracht hätte,
neben diesem auch bekennen müsse, daß Er mit eben diesem Kalb
dergleichen actum vorher würcklich begangen habe, und auch sonsten
sich in dem crimen onomitico vergangen, darbey auch Ihm nicht
sublevieren könne, daß Er nicht wissen wolle, ob Ihme der Saamen
entgangen und ins Kalb geflossen seye, sintemalen er doch wieder¬
holter Dingen geständig, daß in dem erstenmahl Er eine titillation
gespührt und mit dem Glied ein Vater Unser lang in dem Kalb ge¬
wesen seye. Ihn auch gar nicht releviere, daß er behaupten wolle,
das membrum virile nur l'/i Finger breit im Kalb gehabt zu haben,
So seye Seines Erachtens klar, daß Er dieses abscheuliche Laster
vollkommlich außgeübt und sich der darauff gesetzten Straff würdig
gemacht; nur seye darbey zu considerieren, daß er noch nicht völlig
14 Jahre alt seyn solle. Ob aber solches Ihme die Straff mitigiren
könne, wolte Er sogleich nicht determiniren, sondern höhem Iudicio
überlassen. Solchem nach hätte Er kein Bedencken, Ihme nach ge¬
schehener Besiebnung vor ein öffentlich Malefiz-gericht zu stellen und
darüber urtheilen zu lassen, das Kalb aber solte bis zu Außtrag der
Sache dem Scharffrichter zugestellet werden.
Herr Geh. Rath Zur Glocken:
Weilen seines Dafürhaltens diese Sach in ordine ad condemnan-
dum noch nicht völlig instruirt seye, So wäre suo voto, jedoch obn-
maßgeblich der Delinquent ut nive maxitne ardua nochmahlen super
consummatione criminis; scilicet
1. ) immissione seminis (: zumahlen an delinquens semen habuerit ad
disquisitionem medicam gehöret:),
2. ) reiteratione illius,
3. ) concurrente mastupratione, auch bedörffenden Falls cum terri-
tione sive primo torturae gradu') ad firmius et certius eruendam
1) Die Tortur wurde io dieser Zeit in Baden-Durlach nur noch sehr selten
angewendet. Die Fälle, in denen sie der Hofrat zur Erzielung eines Geständ¬
nisses anordnete, betreffen meist hartnäckig leugnende Angeschuldigte bei
Fleischesverbrechen, auch Kindsmord.
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30
IV. Roth
veritatem noch einmahl zn befragen, denuncians aber, nt obser-
vetur ordo judicialis, super facto denunciato et ejus circum-
stantiis eydlich zu vernehmen, alßdann die Straff pro quantitate
delicti et qualitate Inquisiti zu definiren, und denen Rechten
gemäß mit Ihme weiters zu verfahren seyn würde; das Kalb
wäre vorigem Voto nach dem Scharfrichter biß zur Execution
in Verwahr zu geben.
Herr v. Wallbronn:
Conformire sich mit letzt vorstehendem Voto.
Herr v. Leutrum:
Es wäre zwar gegenwärtiger casus in puncto bestialitatis, worzu
sich der inhafftirte delinquent nicht ohne teuffelische Eingebung habe
anreitzen und verführen lassen, genugsam qualificirt, daß nach an*
lassen sowohl geist-, alß weltlichen Rechten darum decisive ge¬
sprochen werden könnte, weilen aber in casu tarn arduo die äußerste
Sicherheit zu gebrauchen, auch in fine Protocolli der delinquent Seine
erstere A.ußag ziemlich zu verneinen scheine, So wäre er auch der
ohnmaßgeblichen Meinung, daß Selbiger nochmahlen mit Ernst
examinirt werde; ratione des Kalbs conformire Er sich mit vorigem
Voto.
Herr Hoffrath Menzer:
Die weilen ex actis, sonderheitlich aber deß delinquentens eigener
und Iudicialer Geständnüß das von ihm begangene große Laster der
Sodomiterey leider am Tag, So trüge Er seines Orts kein Bedenken,
dißfalls definitive zu votieren, und solches um da mehr, weilen
durch die noch vor seyende Besiebung die in vorigen Votis auch
desiderirte weitere examination ohnedem vorgenommen werden müßte;
Jedennoch, weilen m dergleichen delictis capitalibus fast nicht genug¬
sam Vorsichtigkeit adhibirt werden könne, quia agitur de vita ho¬
minis, alß accedire Er auch ratione weiterer examination denen
vorigen Votis.
Herr Vice-Praesident: *)
Es habe zwar der Delinquent mit Umbständen gestanden, daß
Er dieses abscheuliche Laster einmahl würcklich, doch olmwissend,
ob der Samen von Ihme und in das Kalb gekommen, begangen und
dann noch einmahl zu begehen gut in dem Sinn gehabt, auch ad
1) Der Vize-Präsident des Hofrats, Beck v. Wilmendingen. ist merkwürdiger
Weise in der Präsenz nicht angeführt, anscheinend hat für ihn der Geh. Rat
Maler zuerst den Vorsitz geführt, und Beck ist erst später in die Sitzung ge¬
kommen.
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Strafverfahren gegen einen noch nicht 14jährigen Knaben wegen Bestialität 31
actum proximum gekommen seye, solches auch würcklich vollbracht
haben würde, da Er von dem Denuncianten daran nicht wäre ver¬
hindert worden, in Ansehung dieser Confession hätte Er also zwar
an und vor sich selbsten kein so großes Bedencken ad actualem con-
demnationem zu votiren. Nachdem aber der Delinquent etlichemahl
in Seinen Reden gewanket und das bereits gestandene theils anders
beschrieben, theils gar revociret, ad condemnationem aber nicht ge¬
schritten werden könne, es seye dann ein delictum certum vorhanden
und der delinqnens entweder sattsam convincirt, oder ohne alle der
Reden Variation confessus, diesem nach wolte Er denenjenigen Votis
accediren, welche des Buben nochmahlige Constitution einrathen, und
wolte Er denen außgeworfenen interrogatoriis nur noch dieses hinzu¬
setzen:
Ob der Bub, alß von welchem annoch Jungen Alters halber
dergleichen information von so schwehren Lastern nicht wohl
zu praesumiren seye, von niemand und von wem, auch auff
was Arth und Weiße zu solchem Laster angewehnt und in-
formirt worden seye.
Conclnsnm:
Fiat also Decretum an das Amt Mühlburg nach denen majoribus.
Mittwoch, den 27. Novembris 1715.
Praesentes:
Herr Vice-Praesident Beck v. Willmendingen
„ v. Güntzer
„ v. Leutrum
„ Hoffrath Mentzer')
„ - Eccard.
No. 1426 Mühlburg; Eckenstein.
Wegen deß p to Sodomiae in Verhafft sitzenden Jacob 1 2 ) Gaß-
manns zu Eckenstein, berichtet das Amt Mühlburg, wie es ermelten
Inquisiten über die vorgeschriebene Fragen weiters examinirt, und
Ihme den Scharffrichter vorgestellt habe, von demselben aber die
Vollbringung des Delicti, soviel die würckliche immissio seminis be-
1) Man beachte, wie wenig Wert auf eine genaue Schreibart von Namen
gelegt wurde; im vorigen Protokoll wird der Name „Menzer“ geschrieben,
2) Im vorigen Protokoll heißt der Angeschuldigte Wilhelm.
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32
IV. Roth
trifft, nicht herausbringen könne, indem es — das Amt — nebst denen
beygewohnten dafür gehalten, daß dieses Delinquenten Unternehmen
das erstemahl müsse gewesen seyn, und also dieser Jung selbst nicht
wissen können, ob sein Semen immittirt worden oder nicht, alß ohne
deme im vorgeweßtem Augenschein die Beschaffenheit seines Männ¬
lichen Zustands so schlecht, als es seyn könne, sich befunden habe,
Er auch ein anders in ordine ad emissionem et immissionem seminis
nicht gestehen wolle, als daß es ihm ein wenig gekützelt, auch etwas
Weißes vomen an seinem membro gesehen, ohnwissend, ob Es der
Samen oder sonsten etwas gewesen, auch daß gleich nach dem
Kützlen und als er sein Glied wieder heraus gehabt, selbiges lum-
melig worden seye.
Das weitere zu Serenissimi gnädigster Dijudicatur unterthänigst
anheimstellend
Unanimia:
Man vermeinte, es solte der inhafftirte ex quasi superfluro durch
den Operatorem Zachmann und Chirurgum Sontag visitiret werden,
ob er nembl. pubes, und ob Saamen von Ihme gehen könne; alß-
dann mit mehrerer Sicherheit gesprochen werden könne. *
Fiat also Decretum obigen tenors ans Amt Durlach, Ihme,
Zachmann, obige Visitation ex Speciali Commissione zu bedeuten,
und daß er solche ohne einigen Anstand vornehmen und die Be¬
schaffenheit Cito berichten solle.
N‘* Weilen die Sodomittery Sach ziemlich weitläufftig und
intricat gewesen, mithin man die meiste Zeit darmit zubringen
müssen, alß hat dermahlen ein mehreres nicht ad protocollum ge¬
bracht werden können.
Montags, den 2. Decembris 1715.
Praesentes:
Herr Vice-Praesident Beck v. Wilmendingen
„ Geh. Rath Zur Glocken
„ v. Wallbronn
„ v. Leutrum
„ Hoffrath Menzer
* _ Eccard
No. 1443 Mühlburg; Eckenstein
Der Operator Zachmann und Chirurgus Sonntag allhier zu
Durlach erstatten Ihren schriftlichen Bericht, was Sie bey der Ihnen
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Strafverfahren gegen einen noch nicht 14jährigen Knaben wegen Bestialität 33
anbefohlenen Visitirung des zu Knilingen') puncto sodomiae inhafftirten
14jährigen Buben, Namens Jacob Gaßmann von Eckenstein, ratione
seiner Mannheit befunden und was davon zu halten seyn möchte,
worauff das gantze factum, wie folget, ad Protocollum gegeben worden.
Factum.
Auß Verlesung der acten ergebe sich soviel, daß Jacob Gaßmann,
ein Jung von 14 Jahren weniger 2 Monath schon vor einigen Jahren
das Exempel an einem anderwärthen und zwischen dieser Zeit ohn-
wissend, wohinn er gekommenen Jungen gesehen habe, wie sich an
Seinem Leib ein Mannsbild durch eigene Handt verunreinigen könne,
welches dann er seinem unsauberen Lehr-Meister zu folge von sich
Selbsten zwar probirt, und ob Er schon etwas kützeln darbey ver-
spühret, dannoch keinen Saamen von sich gebracht; lezlich aber Er
Gelegenheit genommen, daß, als Er einem in dem Stall gestandenen
^Jährigen Mutter-Kalb Rüben - Schniitzlein vorgeworffen, Sein
membrum eigener gerichtlich widerhohlter Bekantnüß nach 1 1 /a Zoll
dieff beygebracht, und etliche Minuten lang darinnen gelassen, dabey
zuletzt einigen, doch nicht sehr langwührigen Kützel empfunden
nachmahls das membrum wieder heraus gethan, Selbiges aber nicht
mehr wie vorhin starrend, sondern nach Seinen eigenen Wortten gantz
lummelig, fome aber eine weiße, rotzige Materie daran befunden
habe. Nun hat dieser Bub in dem ersteren protocollo zwahr aus¬
gesagt, daß der Saame von Ihme nicht in das Kalb gekommen, son¬
dern der mehrere Theil außerhalb dessen auff den Boden geflossen
seye, solche seine Außage aber alßbalden, und zwahr mit diesem
Zusatz revociret, daß Er nicht wisse, ob ein Saamen von Ihme
gekommen oder nicht? Worauff Er auch in allen hernach mit
Ihme gehaltenen examinibus beharret, wohl aber den actum, wie
oben erwehnt, mit allen Umbständen zum öffteren beschrieben und
bekannt, auch fernere gestanden, daß er in kurtzer Zeit und in circa
3 Wochen nach solchem actu wiederum in den Stall gekommen, auch
in Willen und Meinung, den actum, wie vormahls geschehen, zu
begehen, sich dem Kalb genähert, mit der Lincken Hand dessen Schweif
abseits gehalten, in der Rechten Hand aber sein membrum gehabt,
und alß 2 ) an das hinn- und her gesprungene Kalb avanciren wollen,
solch sein Vorhaben auch würcklich, wie vormahls, erfüllet haben
würde, da Er nicht von dem an die Stallthür gekommenen Bürgern
1) Knielingen, ein Dorf im ehemaligen Amte Mühlburg.
2) mundartlich = immerwährend, andauernd.
Archiv für Kriminalanthropologie. 29. Bd. 3
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zu Eckenstein, Jocob Seidlein erblickt und an diesem Vorsatz wäre
verhindert worden. Das attestatum, welches die zwey zu Visitation
seiner Männlichkeit eigens abgeschickte Chirurgi Iurati, Job. Conr
Zachmann und Joh. Phil. Sonntag unterm 28ten passato von sich
gegeben, gehet mebreres auf Impotentiam, als potentiam seminandi,
also daß ein nicht geringes dubium redt stehen könnte, ob, wann der
Jung keinen Saamen von sich und in das Kalb gebracht, das delictum
pro consummato angesehen und derowegen ad poenam ordinariam in
Carolina poenali Art 116 und dann Fürstl. Landrecht pari. VII, tit. 40
mit Sicherheit zu schreiten seye, worüber dann die Vota eingehohlet
worden, also folget:
Vota:
Herr Geh. Rath Zur Glocken:
Finde vorstehenden casum allerdings zu decidiren so zweifelhaft,
alß schwer zu seyn, dann als der inhafftirte seiner eigenen Geständ-
nüß nach actum sodomiae proximum et fer6 consummatum zu ver¬
schiedenen mahlen begangen, P" solches manustupratione accutn-
mulirt habe, seye in denen Protocollis verschiedentlich zu finden.
Wann aber sonderlich in casibus ejus modi dubiis es aller Doctorum
Meynung nach jederzeit besser seye, reum mitius, quam rigidius
puniri et misericordiae potius, quam Iustitiae rationem reddi, So
wollte er doch ohnmaßgeblicb und mit Vorbehalt derjenigen decision,
welche majora vota außmachen werden, ad poenam extraordinariam,
scilicet fustigationem votiren, und zwar auß folgenden rationibus:
1. ) Dann obschon einige davor halten, daß bey dem Laster und
Bestraffung der sodomiae es genug seye, voluntatem proximam et
conatum actui proximum habuisse, dergestalten, daß der delinquent
das Verbrechen vollführet, wann er nicht, wie hier daran verhindert
worden, oder Er solches naturaliter zu vollziehen gekonnt hätte:
Jedennoch aber, wann ein dergleichen Laster nicht zur würklichen
Außübung gekommen qnd gäntzlich vollbracht worden, die Crirni-
nalisten durcbgehends 4 poena ordinaria wie bereits erwehnt, absehen
und eine gelindere statuiren, welche Meinung Carpzov in Praxi
criminali per consuetudinem generalem weitläufftig defendiret.
2. ) militire pro mitigatione poenae in hoc casu die infantia
delinquentis et quod annos pubertatis nondum plene attigerit; die
Medici aber wollen durchgehends dafür halten, quod aetates puber-
tatem praecedentes aut semen non emittant aut infoecundum, ob auch
3. ) gleich dieser delinquent potentioris naturae gewesen seyn
möchte, So wolle doch, so wohl der beyden Cbirurgorum testimonium,
alß auch die universalis natura et regula das Gegentheil erweisen. Denn
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Strafverfahren gegen einen noch nicht 14jährigen Knaben wegen Bestialität. 35
4.) nichts hindert, daß der delinqnent in acta sodomitico
titillationem aliqnam empfanden habe, weil dergleichen pubertati
proximi voluptatem qnidem aliquam percipiunt, Semen vernm autem
von emittant; die concorrentia mastnprationis accnmulire in ordine ad
poenam weder dieses Verbrechen, noch die darauff relevirende
Bestraffang, qnoniam mastnpratio, ob es gleich an sich ein garstiges
facinns seye, nulla lege panita reperiatur. Wann jedoch S mu ’‘ Iudex
diesem delinquenten die Lebens-Straff auferlegen wolten, um dadurch
gegen dieses abscheuliche Laster andern desto mehr Schrecken zu
machen, so wolle er nicht weniger davor halten, daß dieselbe in
conscientia allerdings genugsam excusirt seye. Im Fall aber Ihro
Durchlaucht denen vorgeschriebenen Rechten nach in poena extraordi-
naria bestehen wolten, So käme es zugleich auff die Frag an, ob
diesem delinquenten wegen seines geringen Alters ein Urphed abge¬
nommen werden könne? Weilen in denen Rechten vorsehen, quod
pubertati proximi jurare quidem possint, ad juramentum autem cogi
von debeant. Dahero wolte er dafür halten, daß allenfallß, und
wofern mann eine Urphed von Ihme nehmen wolte, ein Geistlicher
darzu zu fügen, und durch selbigen den Eyd und Meyn-Eyd Ihme
zu expliciren wäre, und nach deme diese Sache noch nicht völlig ad
condemnationem usque instruirt seye, sondern annoch die Versiebnung
vor dem Malefiz-Gericht erfordert würde, so wolte Er biß nach der¬
selben sein weiteres votum suspendiren.
Herr v. Wallbronn:
Auß obgesetzter facti specie erhället nach des deliquenten eigener
Bekändtnüß, daß solcher das abscheuliche Laster der Sodomiterey
bereits einmahl getrieben, und nachgehendts noch einmahl außzuüben
willens gewesen, wann er nicht durch den Anbringer daran verhin¬
dert worden wäre; es könnte dahero solcher deßwegen billich mit
der in peinlicher Halß-Gerichts-Ordnung art. 116') gesetzten ordinair
Straff angesehen werden, wann nicht die von beeden Chirurgis
Zachmann und Sonntag in zweifei gezogene potestas seminandi und
dessen geringes Alter alß rationes mitigandi anzusehen wären. Es
gehe deßwegen sein ohnmaßgebliches votum dahinn, daß er mit der
extra ordinair Straffe der fustigation angesehen werde; Zumahlen
auf solche correction in diesen Jahren die darauff folgende Besserung
annoch zu hoffen stehe; übrigens conformire Er sich mit vorigem voto.
I) C. C. C. art. 116: Item so eyn mensch mit eynern vihe . . . unkeusch
treiben, die haben auch das Leben verwürkt, und man soll sie der gemeynen
gewonheyt nach mit dem fewer vom leben zum tod richten.
o *
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Herr v. Leutrum:
Es seye das crimen Sodomiae in specie bestialitatis ein solch
schändlich und abominables Laster, daß Es zwar viel besser wäre,
solches völlig zu ignoriren, alß das geringste davon zu wissen; nach-
deme sich aber jezuweilen zutrage, daß einige Menschen, nicht zwar
ohne Reitzung und Antrieb des leidigen Satans zu diesem Laster und
Greuel der Unkeuschheit, so wider die Natur läufft, sich verleiten
lassen, seye nicht anders alß höchst nötig, daß dieses sehr grobe
delictum an denen delinquenten nach ihrem Verbrechen und andern
zum Abscheu und exempel auffs äußerste abgestrafft werde; worzu
dann sowohl Geist- und weltliche Rechte Anlaß geben: Iure divino
Exodi XXII v. 19, Levit. XVIII, v. 22, et passim:
Wer ein Vieh besehläfft, der soll des Todes sterben.
Jure Canonico caus. 15 can. 4 quaest l ml :
Mulier, quae accesserit ad pecus et vult adscendi ab eo, inter-
ficietis mulierem et pecus morte moriatur, rei sunt.
Jure Justinianeo vid. 1. 31 Cod. ad legem Juliam de adulteriis,
darbey der Kaiser Constantius mit sonderbahrem Eyffer außgerufen:
Jubemus insurgere leges et armari Jura gladio contra hujus-
modi facinorosos homines, qui audent naturae ordinem per-
vertere.
Constit. Crira. Caroli V., art. 116 und nach dem Fürstl. Land-
Recht p. VII tit. 40.') Wann aber der inbafftirte delinquent Johann
Wilhelm Gaßmann, welcher allhier Gelegenheit zu dieser materie ge¬
geben, dergleichen ohn Menschliche fleischliche Unzucht mit einem
Kalb laut den geführten examinations Protocollis einmahl würcklich
getrieben, so viel nehmlich an Ihm gewesen, das andere mahl aber,
wofern Er nicht daran verhindert worden, habe treiben wollen, So
1) Der vierzigste Titul. Vom abscheulichen Laster und Greuel der Un-
kcuschhcit, so wider die Natur begangen wird. So ein Mensch ] auß Antrieb
deß laidigen Satans | sich so weit treiben ließ | daß er wider die Natur | mit
Vieh | oder sonsten in andere Wege | abschewlicher weiß Unkeuschheit be-
gienge | soll er i vermög deß heiligen Reichs Ordnungen | das Leben verwürckt
und mit dem Fewer | vom Leben zum Todt | gerichtet werden. Und dieweil diß
lastcr eines auß den exceptuatis | wie die Rechtsgelehrten zu reden pflegen | so
werden in demselben die Beweisungen | welche in andern Lastern von nöliten | so
striett* nicht erfordert | sondern auch Zeugen | qui non sunt omni exceptione
majores | zugclassen | wie inngleichen | ob schon solche abschewliehe Werck nicht
vollbracht | sonder nur unterstanden | nach gestaltsame der Umbständen | ernst¬
lich abgestrafft bevorab | da es hiemit ad actum proximum gelangt | von welchem
allem die Rechtsgelehrten | auf beeden Fall weitere consulirt werden mögen.
Revid. Landrecht v. 1710.
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Strafverfahren gegen einen noch nicht 14jährigen Knaben wegen Bestialität. 37
habe er keinen Anstand, mit Zuziehung der oben allegirten passages,
S* wenige Gedancken dahin zu eröffnen, salvo tarnen aliorum judicio
(:dann in dergleichen arduis et gravioribus casibus Er sich gar gerne
wolte informiren lassen:), daß Er, delinquent, durch das Schwerdt
vom Leben zum Todt condemniret und der Körper verbrennet zu
werden wohl verdient habe; Es wollen sich aber 2 Umstände äußern,
welche ad poenam ordinariam zu gehen hintern wollen, da nehmlich
nicht verificirt, ob seminis ejaculatio würcklich geschehen seye, und
Sein noch Zartes Alter, da Er nehmlich das 14. Jahr noch nicht völlig
erreicht, welche Erfüllung doch, um in causa criminali ad poenam ordi¬
nariam gehen zu können, nach denen Rechten erforderlich wäre. Den
ersten Anstand aber belangend erachte Er vor genugsam zu seyn, daß
1. ) Delinquent sich völlig diese böse That zu vollbringen, praeparirt,
2. ) Sein membrum immittirt,
3. ) titilationem verspühret,
4. ) Sein Glied ganz lummelig wieder herausgezogen,
so lauter indicia in criminibus occultis, da man weiter keine andere
vestigia haben könne, ad poenam ordinariam gehen zu können von
vielen Rechtsgelehrten und criminalisten vor sufficient erachtet worden,
nam alias plurima et atrocissima crimina manerent impunita. Was
aber den 2 ,cn Anstand belange, So scheine, daß malitia aetatem genug¬
sam suppliciret habe, denn nach allen Umständen der inbafftirte dieses
schändliche Laster deliberato et ex proeretico quodam zu exerciren
gesucht. Damit aber alles in der Ordnung geschehe, so möchte dieser
processus criminalis durch ein geordnetes Malefiz-Gericht instituiret
und der Maleficant nach seinem Verbrechen condemniret werden.
Ratione des Kalbes aber, wann die majora ad ordinariam poenam
außfallen sollten, wäre solches ebenfalls umzubringen und zu ver¬
brennen.
Herr Hoffrath Mcnzer:
Ob Er zwahr nechstvorigem Yoto zu accediren nicht allein keinen
Anstand, sondern vielmehr noch weitere rationes anzuführen hätte,
So wolte Er jedoch dermahlen, zumahlen da auch die Zeit bereits
verflossen, davon abstrahiren, angesehen nach denen Landtrechten in
tali Crimine atrocissimo ex admodum nefando gantz löblich verordne^
und haben wollen, daß zu allerforderst mit dem Delinquenten die
nötige Besiebnung vorgenommen und das Blut-Gericht über ihn ge¬
halten, sodann von dem Unterrichter ein dem delicto und dessen
Schwehrigkeit gemäßes Urtheil abgefaßt und ad condemnandum vel
mutandum eingeschicket werde.
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IV. Roth
Herr Hoffrath Eccard:
Wolle dem nechst vorstehenden Voto durchgehende accediren
und dafür halten, daß bey so gestalten Sachen nunmehr das Blut-
Gericht gehalten werden solte.
Herr Vice-Praesident:
Wann das oben beschriebene Delictum bestialitatis von einem schon
über die annos pubertatis geschrittenen Jungen Menschen also be¬
gangen und cum enixa voluntate consummandi proxime attentirt
worden wäre, wie der junge Gaßmann, alß ein noch nicht gar
14 Jähriger Jung gethan, So könnte Er a statuenda poena ordinaria
keineswegs abgehen, wann schon die actualis seminatio nicht erfolget
wäre, welches doch in praesenti casu annoch zweifelhaft seye; In-
deme aber bekandt, daß bey allen delictis gravioribus in ordine ad
poenam ordinariam vornehmlich eine perfecta cognitio actus, qui geri-
tur, et sic etiam voluntas perfecta et omnibus requisitis, id est plena
cognitione gravitatis delicti et proeretica mali prae bono electione in-
structa erfordert werde, alß daß ein solcher Delinquent die Abscheu¬
lichkeit der Entsetzlichen That wohl erkandt und begriffen, folglich
recht gewußt habe, was Er thue, und dannoch das Laster mit Ver¬
achtung der Abscheulichkeit begangen und attentirt habe; dieser Bub
hingegen vors Erste die pubertatem noch nicht völlig erreicht, auch
nach des Pfarrers und der Beamten attestat etwas stupidus ingenii,
auch wie sein Meister und Meisterin zeugen, zum Gebeth sehr trag
und obngewohnt, folglich in rebus divinis ad abhorrendum a tali
crimine nicht sattsam instruirt, folglich etwa im Stand nicht gewesen
seyn mag, die gravitatem criminis vollkommen zu erkennen, sondern
mehrere brutali quodam stimulo, alß proeretica intentione darzu ge¬
kommen, so wolte Er in mitiorem partem incliniren, und mit denen
ebenfalß mitioribus votis dafür halten, daß Er ordentlich besiebet, das
Malefiz-Gericht gehalten, das Urtheil über Seinen Kopff abgelesen, Er
samt dem Vieh an die Richtstatt geführet und in Ansehung S r dieses
letztere exemplo publico et territione aliorura lebendig verbrannt, und
dann Er, Gaßmann, nach einer ex monito des Herrn Geh. Raths Zur
Glocken abgeschwohrenen Urphede des Landes auf ewig verwiesen
werden sollte.
Conclusum:
Fiat also Befehl an das Amt Mühlburg, die Besiebnung vorzu¬
nehmen, das Malefiz-Gericht anzustellen, ein Urtheil abfassen zu lassen
und ad confirmandum einzusenden.
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Strafverfahren gegen einen noch nicht 14jährigen Knaben wegen Bestialität. 39
Donnerstags, den 2. Januarii 1716.
Praesentes:
Herr Vice-Praesident Beck v. Willmendingen
„ Geh. Rath Mahler
„ Zur Glocken
„ v. Wallbronn
v „ Leutrum
„ Hoffrath Mentzer
„ „ Eccard.
No. 1626 Möhlburg; Knilingen.
Das Amt Mühlburg berichtet wie mit dem p° Sodomiae inhaff-
tirten Wilhelm Gaßmann anbefohlenermaßen die Besiebnung vorge¬
nommen, darauff das Malefiz-Gericht gehalten und sodann ein Urthel
dahin abgefaßt worden seye, daß er Maleficant auff den Richt-Plaz
geführet, das Kalb in seiner Praesenz verbrennet, Er aber sodann
mit Ruthen außgestrichen und des Landes auff ewig verwiesen
werden solte.
Vota.
Herr Geh. Rath Mahler:
Soviel die formalia dieses Malefiz-Gerichts anbetreffe, habe er
wahr genommen, daß selbige noch ziemlicher maßen beobachtet
worden, wiewohl explicite im protocoll nicht vermeldet seye, daß die
Malefiz-Richtere von dem Greuel der Sodomiterey und denen darauff
in Gott- sowohl als Kayserlichen und Fürstlichen Landrechten ge¬
ordneter schwehren Straff, wie doch billich geschehen sollen, einiger¬
maßen mit Vorlesung der Texte deutlich berichtet und erinnert worden
wären, habe er also dabey nichts zu erinnern, außer daß die projec-
tirte sentenz denen fast einmüthigen Stimmen nicht gemäß verfasset
seye. Dieses aber hindangesetzt, so seye mit allen aus den Exami-
nations-, sondern auch auß den Besiebnungsprotocollis klar, daß
Wilhelm Gaßmann der inhafftirte Knab von 13 Jahren und 10 Mo-
nathen nicht allein des Criminis Mastuprationis, sondern auch des
entsetzlichen Lasters der Sodomiterey, selbiges mit einem halbjährigen
Kalb seines Meysters einmahl würcklich vollbracht, und zum andern
mahl mit eben selbigem Kalb also attendirt und unterstanden zu
haben, daß, wofern Er nicht daran gehindert worden wäre, Er solches
ebenwohl vollbracht haben würde, gerichtlich und wiederhohlter
Dingen urgichtig und geständig seye. Wie nun dieses Laster, zumahl
aber dieser act der Sodomiterey dergestalt abscheulich ist, daß alle
gewissenhafte Juristen dessen Beschreibung vielmehr mißrathen, dann
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nöthig finden, in maßen es nicht nur in Götti. Gesetz, seil. Exod. XXII,
Levit. XVIII et XX, Deut. XXVII, sondern auch in Kayser Caroli V.
Peinlicher Halß-Gerichts-Ordnung art. 116, zumahl aber in Qochfürstl.
Land-Recht P VII, tit. 40 bey der Todes-Straff und in specie dem
Feuer hoch verbotten ist, und allenthalben im Reich, sowohl der
Mißethäter, alß das Mißhandlete Vieh vermittelst des Feuers vom
Leben zum Todt gerichtet wird. Also würde hier in diesem Fall,
wenn die That offenbar worden, der Bestraffung halber kein Anstand
seyn, wann nicht erinnerlich wäre, daß dieser Maleficant die annos
pubertatis noch nicht völlig erreichet, mithin alß einer, der seiner
Vernunft noch nicht allerdings mächtig ist, nach dem rigor derer Ge-
seze nicht wohl gestrafft werden möge; Nun seye zwar sowohl an
deme, daß die minderjährigen Persohnen, welche noch kein voll¬
kommen erkäntnüß haben, um Ihrer Missethaten Willen regulariter
mit der ordinari Straff nicht beleget, sondern in Hoffnung Ihrer
Besserung arbitrarie gezüchtiget zu werden pflegen. Wann aber in
diesem Fall der inhafftirte Knabe nur etliche wenige Monat zu seiner
pubertaet bedarff und bekannt ist, daß offtermahlen die Boßheit der
Knaben die sonst gesetzten Jahre nicht erwartet, sondern wie die
Juristen sagen, malitia aetatem saepe suppleat, welches dann von
diesem maleficanten absonderlich wohl gesaget werden kann, weilen
derselbe sonst in seinem Leben wenig Gottesforcht von sich spühren
lassen und zu dem Gebett und der Kirchen jedes mahl genöthiget
werden müssen, hingegen sich nicht allein auff Sodomitische Weiße
repetitis Vicibus auch mit mastupratione versündigt hat, vor welchem
Laster die Natur selbst ein Abscheu trägt, dahero auch die sodomie
eines ex atrocissimis gehalten wird, der Richter verbunden, dessen
autores non tarn ex numero annorum, quam ex dolo et malitia zu
judiziren. Vid. Carpz. III qu. 143 N. 4. 5, Und kan oder solle darauff
mit gutem Gewissen zur Todesstraff procediren, Wie dann, daß solches
Rechtens und raehrmahlen beobachtet seye, gar klärlich berichtet Carpz.
pr. Crim p. 3q. 143 No. 40—51sqq. arg., Peinl. H. 0. art 164, ibique
Stephani *) add. Berlich 1 2 3 ) v. concl. 44 u. 35sqq, und obwohlen Menoch :) )
dafür halt und mit Socino 4 ) erweißen will, daß auch in Crimine So-
1) Stephani, pommcrschcr Jurist des 10. Jhhs.. schrieb einen Kommentar
zur Carolina.
2) Berlich, sächsischer Jurist, 1005—1670, schrieb ebenfalls einen Kommentar
zur Carolina.
3) Menochius, italienischer Jurist, 1532—1607.
4) Es gibt 2 italienische Juristen dieses Namens, Vater und Sohn, 1401—1467
und 1437— 1507.
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Strafverfahren gegen einen noch nicht 14jährigen Knaben wegen Bestialität. 41
domiae die impuberes poena ordinaria nicht zu straffen seyen, A. I.
Qu. Cas 329 No. 15, so ist doch solches nur de eo, quod ut plurimum
contigit, und wo keine beschwerl. Umstände, dergleichen sich hier
befunden, mit unterlauffen, zu verstehen, undt zumahlen damit deß
Iudicis arbitrio, welches nach gestalt des Verbrechens auch biß zur
Todesstraff reichen kann, nichts vorgeschrieben. Noch will etwa
weiter die Consummatio delicti in Zweiffel gezogen, und dahero be¬
hauptet werden, daß der Maleficant mit der Todtes-Straff verschonet
bleiben müsse, welches aber, wie es in thesi wohl richtig seyn mag,
also hier doch keine Statt findet, darum, weilen keine untüchtigkeit
semen emittendi bey diesem Knaben vermuth-, noch er weißlich, dazu
Er den ersten actum sodomiae ganz ruhig vollbracht zu haben, selbst
gestehet, und daß Er am andern mahl dergleichen gethan haben
würde, wiefern Er nicht bescbrieen worden wäre, deutlich bekennen
muß, daß er aber semen nicht immittirt habe, positiv^ nicht läugnen
kan, es auch eine an sich selbst verborgene und umso weniger glaub¬
liche Sache ist, alß Er deutlich anzeiget, in ipso actu titillationem
empfunden und post actum das raembrum remissum zu sich gezogen
gehabt, ja etwas von seinem unflat annoch daran verspübrt zu haben,
welches wenigst de emissione seminis keinen Zweiffel übrig läßt, wie¬
wohl am ende auch solches eben nicht nöthig seyn würde, vid. Clarl
V. sent. § Sodomie No. 8, und habten viel vornehme Juristen dafür,
wie dann auch solche Meynung in dem Herzogthum Würtemberg
durch ein am 31 Oct. 1653 außgelassenes allgemeines rescript be-
stättiget ist, daß in hoc crimine atrocissimo Sodomiae non tarn Com-
mixtio Seminis, quam Corporis zu respiciren seye. Und wer wolte
leichtlich einen Sodomiten mit der ordinari Straff belegen können,
wann Ihme diese Außflucht de non imraisso Semine zu statten kommen
solte? Wie dann in eben dieser Betrachtung sonder Zweiffel das
fürstl. Landrecht in diesem Crimine exceptuato die sonst in Crimi-
nalibus gewöhnliche probationes Luce meridiana clariores nicht er¬
fordert, sondern auch testes omni exceptione non majores anzuhören
befihlet.
Und weilen eben daßelbe haben will, daß auch in Fällen, da
dieses abscheuliche Werck nur unterstanden wird, die Straff nach
eingeholtem Rath derer Rechtsgelehrten verfügt werden solle, und
aber die Doctores einmüthiglich dafür halten, daß wann der conatus
ad actum proximum gekommen, der delinquent auch mit der Todtes-
Straff angesehen werden könne (:vid Theod.') Coli. Crim. C. 6 apl. 1.
1) Theodoricus, Kat in Jena zu Anfang des lt>. Jahrhunderts.
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Menoch A. I. Q. Cas. 360 n. 61, Clar. V. Sent § fin 9.92:), so wird
auch der maleficant, alß welcher mit entblößtem membro virili hinter
dem Kalb, dessen scbweiff in der Hand haltend, angetroffen worden,
und daß sein böser Wille nicht anderst, dann mittelst einer äußer*
liehen Verhinderung ohne effect verblieben seye, bekennet, der Todtes-
Straff um so weniger entgehen könne, alß er selbige mit dem ersten
gänzlich vollbrachten actu mehr dann wohl verschuldet hat. Und
weilen bey solchen Leuthen, die sich denen delictis Carnis einmahl
ergeben, schwerlich eine Besserung zu hoffen, die fustigation und
Landtsverweisung auch diesen maleficanten besorglich dazu wenig
anreitzen dörffte, so könne Er, Mahler, nach erwegung aller umstände
anderst nicht sagen, dann dieser Wilhelm Gaßmann nach Außweiß
Göttlicher und Weltlicher Rechten, wovon ein Richter nicht leichtlich
abgehen solle, um seiner sch wehren missethat willen, andern zu einem
wahrnehmenden exempel zusamt dem Kalb mit Feuer verbrannt zu
werden wohl verdient habe, und möchte endtlich alle Gnad darinn
lediglich bestehen, daß Ihme zuvor das Haupt abgeschlagen, und
hernach der Cörper mit dem Kalb verbrannt würde.
Wolten aber Ihro Durchlaucht dessen, waß jezo ohn fürgreifflich
vorgestellt worden, ohngeachtet diesen maleficanten nur allein metum
mortis empfinden und nach deß Malefiz-Gerichts Ausspruch Ihne in
der Meynung, decollirt und verbrannt zu werden, auff den Richtplatz
führen, vor seinem Aug das Kalb verbrennen lassen und hernach
Ihme das Leben schencken, und des Lands auf ewig verweisen, das
bleibet zu Ihrer Durchl. gnädigster Willkühr allerdings gestellet.
Herr Geheime Rath Zur Glocken:
Brevibus halte Er es mit der fustigation, weilen Sodomia con-
suromata et non attentata mit der ordentlichen Lebensstraff denen
Rechten und der allgemeinen observanz nach beleget werde, und in
diesem Fall der Conatus separati delicti naturam relevire; die jura
tarn civilia quam criminalia, alß in specie canonica suppeditiren pro
mitigatione poenae des gegenwärtigen Delinquenten So viel rationes
welche dismahlen außzuführen zu weitläuffig seye, und Er dahero
sein Votum Morgen früh schrifftlich dem protocollo beylegen wolle 1 );
ratione der Exped. Selbsten hielte er zwar dafür, daß der delinquent,
um künftighin von diesem abscheulichen Laster desto mehr abge-
schrecket zu werden, wohl auff den Richtplatz geführt, allda aber
mit keiner andern Straff, alß der fustigation, wie gemeldet, afficiret
werden könne.
1) Ist nicht mehr vorhanden.
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Strafverfahren gegen einen noch nicht 14jährigen Knaben wegen Bestialität. 43
Wegen des Kalbs aber, so seye zwar Beklagter ] ), daß in So-
domia attentata regulariter in animal brutum non animadvertetur.
Jedennoch aber wäre solches mit dem Scandal Selbsten auß dem
Weg zu schaffen. In p 10 der Urphede hielte er dafür, daß Ihme
durch den Geistlichen das Iuramentum explicirt und er zu dessen
Abschwöhrung angehalten werde, quia impuberes quidem perjurare,
delicta carnis autem committere non possunt
Herr von Wallbronn:
pro suo voto: Weilen der Maleficant sowohl in vorigen Exami-
nibus, alß auch in letzter Besiebnung das Laster der Sodomie völlig
geständig, so könte Er sowohl nach Außweiß der Peinl. Halß-Gerichts
Ordnung, alß auch hiesiger Land-Rechten wohl mit der ordinari
Lebens-Straff beleget werden, alleine seyen seine geringen Jahre und
vornemblich, daß Er vielleicht auß ohnwissenheit würcklich das
Laster auff sich haben darzukommen, alß Ursache zur Barmherzig¬
keit anzusehen und dahero wäre Er der ohnmaßgeblichen Meynung:
da ohnedem beim Blutgericht die unanimia auff den Staupenschlag
und Landesverweisung außgefallen, Es dabey sein Bewenden haben
möge; doch solte Er nach vorhergegangener ernstlicher Verweiß- und
Abmahnung vorter merer dergleichen Sünden auff den Richtplatz ge-
führet und alß dann nebst dem Staupenschlag nach abgenommener
Urphed ewig des Landts verwiesen werden, das Kalb aber noch in
seiner praesenz verbrandt werden.
Herr von Güntzer:
Weilen er theils wegen geschafften, theils auch wegen Ab¬
wesenheit der Sachen Verhandlung nicht beygewohnet, heute auch
die Acten in totum nicht ablesen hören, alß könne Er in solchem
wichtigen Werck seine Gedancken wegen nicht bewußten Umständen
nicht eröffnen.
Herr von Leutrum:
Es statuiren zwahr die mehriste Casuistes, quod in puniendis
delictis Carnis raitior poena zu amplectiren seye; weilen aber das
verloffene Crimen Sodomiae atrocissimum und nach allen Rechten
andern zum Abscheu höchlichst zu betraffen verordnet, so finde Er
seines wenigen Orts auch anjezo keine Neue erhebliche Ursachen
welche Ihm von seinem Ehedessen schon in dieser materie gegebenen
unterthgsten voto zu destituiren abtreiben könnte, dahero Er noch¬
mahlen der Meynung wäre, daß poena ordinaria hier stattfinden
könne, wolte sich also auch mit H. Geh. Rath Mahlers voto confor-
1) Offenbar ein Schreibfehler.
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mirt haben und posito, es wären einige Mittel und weg übrig, welche
den Delinquenten beym Leben erhalten könten, So seye doch sicher¬
lich zu glauben, daß Er von diesem abscheulichen Laster schwehrlich
abstehen, sondern vielmehr, natürlicher Weiß zu reden, seine zuerst
außgestandene Venerische Unzuchtstriebe mit andern dergleichen
bestiis contihuiren und dadurch einen rechten Sodomiten abgeben
würde.
Herr Hoffrath Mentzer:
Wann Er ex actiB und sonderl. des delinquenten Iudiciale Ge
stäntnus in gebührende Consideration ziehe, So liege klar am Tag:
1. ) deß delinquenten bestialischer Vorsatz
2. ) quod habnerit rem in re, und scheine auß seiner geständnus
auch sogar, quod semen immisserit, angesehen Er selbsten mit
diesen Worthen gestanden, wie Er in actu ipso bey Ihme eine
besondere Kützelung verspührt.
3. ) daß bey Zurückziehung seines membri solches ganz lummelich
gewesen, mithin der actus vollbracht worden seye,
4. ) Solche bestialische That zum 2. Mahl attentirt, auch laut seiner
Worthen wann er nicht durch den dazu gekommenen Mann
darum verhindert worden, Er solches reiterato vollbracht haben
wolte mit dem Anhang, daß er in bestiali coitu mehr, alß in
mastupratione empfunden, ein(gestehet),
5. ) folglich keine Besserung, sondern viel mehr Continuation dieses
nefandi delicti zu vermuthen; Seine Jugend oder Impubertät
betr. finde Er keineswegs, daß solche zu attentiren, angesehen
an der pubertaet nur etlich monath ermanglen; nicht weniger
laut Actorum Seine malitia zimlich groß, daß also allen Rechten
nach es heiße quod malitia suppleat aetatem; dahero Er des
ohnmaßgeblichen Dafürhaltens wäre, es solte Bemelter delinquent
ad tollendum Scandalum et deterritionem aliorum, zu mahl da
dergleichen execrable Laster gar überhand nehmen wollen, mit
dem Schwerdt vom Leben zum Todt gerichtet, dessen Cörper
samt dem Kalb verbrand werden, salvo jedoch aliorum judicio
Herr Hoffrath Eccard:
Wann Er diejenige Umstände, wie die vom Amt geführte proto-
colla über des delinquenten eigene Geständnus selbige vor Augen
legen recht betrachte, so könne er nicht anders, dann nach Gött- alß
Weltl. Rechten seine ohnmaßgebliche Gedancken dahin zu geben,
daß der delinquent um seines gestanden und würcklich vollbrachten
Verbrechens willen, mit der auff solch verbrechen gesetzten ordinari
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Strafverfahren gegen einen noch nicht 14jährigen Knaben wegen Bestialität. 45
Todesstraff beleget werden solte, dahero auch weilen dessen bewegl.
Ursachen in dem ersten und nachstehenden Voto bereits weitlänffig
angeführt worden, Er sich mit denenselben durchaus conformire.
Herr Vice-Praesident:
Habe schon neulich den 2 Decembris sein Votum und darinnen
die Ursachen ad protocollum gegeben, welche Ihn ad mitigandam
poenam ordinariam bewogen, derowegen Er gern sehen werde, wann
selbiges Votum hiehero de verbo ad verbum transscribirt werde, da¬
mit Serenissimus nicht mit 2 protocollis und mit Nachsuchung darin
beschwerd werden möchte.
Den 6. Februar» 1716.
Praesentes:
Herr Geh. Rath Maler
„ „ „ Zur Glocken
„ v. Riesmann
„ Hoffrath Dr. Mentzer
No. 1840; Durlach.
Wegen des p l ° Sodomiae deß Landts verwiesenen Wilhelm Gaß-
manns von Eggenstein ilbergiebt Advocatus Schuster eine designation
von 5 fl. 30 xr, so Er wegen verferttigter accusations-Schrifft fordert
mit Bitte, ihme zur Zahlung zu verhelffen.
N u Herr v. Leutrum läßt sich
eycusiren, da Er die Auff-
wartung bey dem Herrn
Grafen von Leiningen habe.
Conclusum.
Weilen die Forderung nicht übersetzt,
alß Fiat Decretum an das Amt Müblburg, daß Es die 5 fl. 30 xr
auß denen Straffgefällen bezahlen und gebührend verrechnen, auch
wie die execution abgeloffen, berichten solle.
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V.
Über die Wechselbeziehungen zwischen Jurisprudenz
und Naturwissenschaft.
Vortrag, gehalten im Juristen verein in Graz
von
Dr. Hermann Pfeiffer, Privatdozent.
M. H.! Ich muß gestehen, daß ich nur mit Zögern es unter¬
nommen habe, in einer Sache um Ihr Gehör zu bitten, deren Selbst¬
verständlichkeit und Klarheit an sich ihre Diskussion in einer gelehrten
Gesellschaft verbieten würde, wenn nicht ebensolaut für die Erörterung
dieses Themas der Umstand gesprochen hätte, daß heute noch aus einer,
dem Juristen sowohl wie dem Naturwissenschaftler gewordenen
Überzeugung die praktischen Konsequenzen nicht oder doch nur not¬
dürftig, in einzelnen und nicht gerade in den wesentlichsten Punkten
gezogen wurden. Diese Erwägung allein hat mich dazu ermutigt,
Ihre Aufmerksamkeit für das Folgende in Anspruch zu nehmen.
Ich möchte gleich jetzt Ihre Nachsicht dafür erbitten, daß ich
gewissermaßen als Einleitung zu den zu machenden konkreten Vor¬
schlägen Ihnen Bekanntes und Wohl vertrautes, oft Erwogenes und
leider auch ebensooft unerledigt unter die Schwelle des Bewußtseins
Zurückgedrängtes hier wieder entwickele. Diesen Teil meiner Erör¬
terungen bitte ich Sie, m. H., als eine bescheidene, das angeschlagene
Thema keineswegs erschöpfende Darstellung bekannter Tatsachen
aufzufassen!
Es sind von altersher die Juristen bei den dogmatischen Philosophen
in die Schule gegangen. So hat sich im Laufe der Jahrhunderte
eine geistige Gemeinschaft zwischen diesen Wissensgebieten entwickelt,
aus der wohl beide in Theorie und Praxis Vorteil gezogen haben.
Abseits von ihnen ist seit ihren Uranfängen die Naturwissenschaft
gestanden und nur wenige und lose Fäden waren es, welche die ein¬
ander fremd gegenüberstehenden Lager verbanden. Die Tatsache ist
so festgewurzelt in der Bewußtseinssphaere vieler, daß auch heute
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Über die Wechselbeziehungen zwischen Jurisprudenz und Naturwissenschaft. 47
noch sogar von einem Antagonismus zwischen Jurisprudenz und
Naturwissenschaft gesprochen wird. Zur Erklärung dieses festge¬
wurzelten Freundschaftsbündnisses auf der einen, zur Erklärung dieses
fruchtlosen Nebeneinanders auf der anderen Seite dürfte uns folgende
Überlegung führen:
Die Philosophie war es, die auf Basis ihrer dogmatischen Speku¬
lationen in dem Drange nach Selbsterkenntnis'die Lebensvorgänge und
ihre Deutung nicht nur als ein wichtiges, sondern als ein nicht zu
umgehendes Problem erkannte, um den Menschen in seinen Bezieh¬
ungen zum Universum richtig einzureihen.
Das rfvcöd-i oav töv“ des griechischen Philosophen hat diesen
menschlichen Wissensbestrebungen die Richtung gegeben. Dieses Wort
wieder ist es gewesen, welches der genannten Schule die regste Anteil¬
nahme, ihren scheinbaren oder wirklichen Resultaten die höchste Aufmerk¬
samkeit von Seiten der Rechtskunde sichern mußte. Denn unzweifel¬
haft! Sollten Menschen als Vertreter menschlicher Gemeinschaft
die soziale Wertigkeit einer Handlung richtig beurteilen und wür¬
digen, so war dazu das V yvß&i oavtöv“ eine unerläßliche Voraus¬
setzung. Die philosophischen Bestrebungen verdienten aber deshalb
von der in Rede stehenden Seite um so größere Beachtung, als sie
in Verfolgung des aufgestellten Programms und in richtiger Erkennt¬
nis der dominierenden Bedeutung psychischer Vorgänge im mensch-
lischen Leben das Studium gerade dieser zu ihrem Hauptgegenstande
zu machen anfingen. Auch der Weg, den die Philosophenschulen
einschlugen, aus einer abstrakten Selbstbespiegelung heraus gedank¬
lich das Problem menschlichen Wesens zu fassen, batte etwas Fesseln¬
des in sich. Er schien der geeignetste und kürzeste zu sein in einer
Zeit, in welcher man noch nicht erkannt hatte, daß abstraktes Denken
ohne die Korrektur einer nüchtern registrierten und systematisch
angelegten Beobachtung ein Unding sei. Dem Programm des „yv&fH
oavröv “ war das höchste Interesse der Baumeister menschlichen
Rechtes von vornherein gewiß, da nur einer der Zeitperiode ange¬
paßten und sie dabei erschöpfenden Kenntnis menschlichen Seins die
Normierung von Recht und Unrecht entspringen konnte. Der Drang
nach Erkenntnis konnte damals nur von den philosophischen Schulen
befriedigt werden. Denn in jener Entwickelungsperiode stand philo¬
sophisches Denken und Grübeln im Mittelpunkt der Beachtuug aller
Kulturförderer, von ihm durfte man die Lösung des Problemes den
Tatsachen nach auch allein erwarten, da die Naturwissenschaft noch
in den Anfängen ihres Entstehens begriffen war.
Nicht nur daß das vorliegende Tatsachenmaterial äußerst mangel-
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48
V. Pfeiffer
haft war und ungeordnet, ohne System, in wirrem Nebeneinander, ohne
befruchtenden, einheitlichen Leitgedanken brach lag, so führten auch
die Wege naturforschender Geister jener Zeit so weit ab von den
konkreten Problemen, von den heißen Impulsen momentanen Erlebens,
daß über dem Umwege, den die Naturwissenschaft in den Kosmos
zum Verständnisse menschlichen Seins machte, das hohe Ziel von
der Allgemeinheit verkannt, daß über die zusammenhangslosen
Resultate ihre Bedeutung im Rahmen eines geordneten, noch in
weiter Zukunft liegenden Naturverstehens vergessen wurde.
Während nun im Laufe von Jahrhunderten eine dogmatische
Philosophie in einer dem Tatsächlichen abgewandten Selbstbekrittelung
es vergebens versucht hat, auch nur die einfachsten Lebensvorgänge,
geschweige denn einen Bruchteil psychischen Geschehens richtig zu
deuten oder gar zu erklären, blieb die Jurisprudenz, trotzdem sie
sich in der Theorie den mannigfachen Wandlungen philosophischer
Systeme anpaßte, doch in hohem Maße davor bewahrt, in einer
philosophischen Sackgasse umherirrend, nicht vom Platze zu rücken.
Nicht weil, sondern trotzdem die Philosophie die Lehrmeisterin
der Rechtskunde gewesen ist, hat sich diese in ersprießlicher Weise
fortzuentwickeln vermocht! Das deshalb, weil sie, vielleicht ohne
sich dessen voll bewußt zu werden oder gar plangemäßig diesen Um¬
stand zu nützen, in ihrer praktischen Betätigung und in dem Bestreben,
die im Alltage werdenden Einzelprobleme zu lösen, Naturwissenschaft
betrieben hat auf einem Gebiete, welches für uns alle auch heute
noch das aktuellste geblieben ist: im Kontakt mit dem fehlenden,
sozial abirrenden Menschen!
Ich wiederhole es: Trotzdem die Jurisprudenz belastet war
vom philosophischen Dogma, hat sie sich dem befruchtenden Ein¬
flüsse, den der ihrem Urteile unterstellte Mensch ausübte, nicht ganz
zu entziehen vermocht.
Mit den Lehrgebäuden der Alchymie, mit den krausen Doktrinen
einer dem Tatsächlichen abgewandten Heilkunst gerade den prak¬
tischen Rechtsbedürfnissen aufzuhelfen, dazu gab es in jenen Zeiten
keine Veranlassung. Es kam noch der Umstand hinzu, daß die im
Altertume durch kühlbeobacbtende Geister angebahnte Naturerkennt¬
nis immer mehr und mehr, und das zu ihrem größten Unheile, gleich¬
falls in ein Abhängigkeitsverhältnis zur dogmatischen Philosophie
geriet. Die nüchterne Beobachtung des Naturgeschehens wurde auf
Kosten unkorrigierbarer, phantastischer Deduktionen zuerst vernach¬
lässigt, um endlich ganz in den Hintergrund gedrängt zu werden.
So nur konnte es in Folge des verderblichen Einflusses eines
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Über die Wechselbeziehungen zwischen Jurisprudenz und Naturwissenschaft. 49
sog. philosophischen Denkens zu einem so weitgehenden Verfalle,
zu einer jahrhundertelangen Hemmung einer Richtung menschlichen
Strebens kommen, deren hohe Bedeutung, deren Ziele und Wege
einem geistig freien Altertume nicht fremd gewesen sind. Wie für
die Jurisprudenz, so gilt vielleicht in noch höherem Maße für die
Naturwissenschaften des Mittelalters der Satz: Nicht weil, sondern
trotzdem sie unter der Botmäßigkeit der dogmatischen Philosophie
gestanden sind, wurden sie sich des rechten Weges endlich doch
bewußt!
Die von philosophischem Dogmenkram beladenen und beengten
Experimente der Alchymisten, die sich in engem Zirkelkreise bewegten,
eine freie Deutung des Geschauten und seine Nutzbarmachung nicht
zuließen, diese uns heute kindisch, ja lächerlich anmutenden Ver¬
suche der alten Goldmacher, sie bargen in sich doch ein Korn Edel-
metalles: Ich meine den Umstand ihres Kontaktes mit dem Natur-
geschehen! Dieser Tatsache allein haben wir es zu verdanken, daß
eine unvoreingenommene Betrachtungsweise der Natur auf den ihr
gebührenden, dominierenden Platz wieder gestellt wurde. Den
Retorten und Glühöfen einer verknöcherten Goldmacherkunst entstieg
das naturwissenschaftliche Experiment, streifte die Sklavenketten eines
unkorrigierten Denkens ab und suchte dort nach Erkenntnis und fand
sie auch, wo sie allein uns Menschen erblühen konnte: Nicht in
himmelragenden, schwanken Phantasiegebäuden, sondern im Schooße
unserer Erde: in nüchterner Betrachtung und Erforschung der allge-
gemeinen Naturgesetze, die alles Lebende umschlingen und zwingen.
So sehen wir in dem Momente die Naturwissenschaft neu erblühen,
in welchem die Alehymie zur Chemie wurde, in dem aus den alten
Dürrkräutlern und Tierbälgebewahrern Biologen wurden, in dem die
alten Heilkünstler in Ärzte sich verwandelten, die, im Leben stehend,
in voller Kenntnis des Baues und der Funktion des menschlichen
Leibes, in voller Würdigung menschlicher Leiden und Freuden
zu handeln anfingen, aus der stillen Gelehrtenstube hinaustraten
unter ihre Brüder in dem Bestreben, sie kennen zu lernen, um mit
ihren Händen, nicht aber mit ihren Philosophemen ihnen zu helfen.
Es hieße, Ihnen allen Wohbekanntes Vorbringen, wollte ich in
den Einzelheiten verfolgen, welchen Aufschwung namentlich im eben
abgelaufenen Jahrhunderte die Naturerkenntnis gewonnen hat und welche
mächtige Förderung eine große Reihe anderer Wissensgebiete durch
die hier erzielten Errungenschaften empfing.
Die Naturwissenschaft war es, welche das Schlagwort von der
Umwertung aller Werte prägte. Sie ist mit diesem ihrem Schlacht-
Archiv für Kriminalanthropologie. 29. Bd. 4
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V. Pfeiffer
rufe eingetreten in das Zentrum des Interesses moderner Kultur¬
förderer. Sie ist es, die heute schon nicht nur vom praktischen Leben,
sondern auch von der Theorie, von dem Denken und Fühlen der All¬
gemeinheit als jener Faktor erkannt worden ist, dessen Fortschreiten
oder Stillestehen auch den Fortschritt oder Stillstand des Menschen¬
geschlechtes bedeutet. Das philosophische Dogma — wir dürfen es
heute schon getrost aussprechen! — hat seine herrschende Stellung
im geistigen und materiellen Leben eingebüßt und sein Erbe bat eine
nüchterne, menschlichen Wünschen angepaßte, ihre Erfüllung als
nächstes und höchstes Ziel erstrebende Naturwissenschaft angetreten.
Und merkwürdig, in diesem Jahrhundert der Um Wertung aller Werte
hat auch das früher zitierte, im Mittelalter so übel gedeutete Philo¬
sophenwort seine richtunggebende Kraft behalten. Das V yvß9i oavröv“,
stand auf den Fahnen der alten Dogmatiker; wir finden es heute
wieder auf den Bannern naturwissenschaftlicher Forschung. Nur sein
Sinn hat sich geändert! Auch dieses zum Programm geprägte Wort
hat seine Umwertung erfahren und wird heute vielleicht zum ersten-
male so erfaßt, wie Sokrates es wohl gemeint haben mag: Erkenne
dich selbst! Dabei ist die Betonung auf das Kennen, auf das Kennen-
Lernen zu legen! Das oovtöv“, dessen sind wir uns heute
bewußt geworden, kann seine Lösung nicht in fruchtloser, dem Tat¬
sächlichen abgewandter, der Realität des Lebenspbaenomens ent¬
fremdeter Selbstenträtselung rinden. Dieses Ziel, über dessen Erfüllung
hinaus erst die gewaltige Aufgabe seiner praktischen Konsequenzen
ragt, dieses Ziel kann ausschließlich und allein auf dem Wege einer
planmäßig durchgeführten Beobachtung erreicht werden. Nur die
restlose Kenntnis unser selbst, der uns umgebenden Außenwelt und
der Wechselbeziehungen beider kann uns in den Stand setzen, auch
das wirklich zu erkennen, auch das bewußt zu erstreben, was uns
Not tut.
Dieser letzte Satz, so selbstverständlich, so vertraut er auch heute
unserem Obre klingen mag, ist vielleicht die größte tatsächliche Er¬
rungenschaft naturwissenschaftlichen Strebens. Aus ihm heraus erst
können wir den Wert der schon jetzt gereiften Ergebnisse voll er¬
messen. Er bildet die Entwicklungsrichtung, in der kommende Jahr¬
hunderte noch planmäßiger und zielbewußter vorschreiten werden,
wie dies heute geschieht, wo die Entscheidung der Frage über die
Hegemonie zwischen Deduktion und Intuition, wenn auch praktisch
abgeschlossen, so doch von manchen noch nicht voll anerkannt ist!
Ich habe früher vorübergehend des Umstandes erwähnt, daß aus
den modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen auch anderen,
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Über die Wechselbeziehungen zwischen Jurisprudenz und Naturwissenschaft. 51
fernliegenden Wissensgebieten Förderung und Befruchtung geworden
ist, Tatsachen, die wieder so sehr Allgemeingut geworden sind, daß
ich wohl darauf nicht näher einzugehen brauche. Nur zögernd und
ungern aber hat sich die Philosophie, soweit sie nicht selbst zur
Naturwissenschaft geworden ist, also die philosophische Dogmatik
dem wachsenden Einflüsse naturwissenschaftlicher Erkenntnisse ge¬
beugt Sie war es, die vom Fundamente aus ganz besonders durch
Erkenntnisse erschüttert wurde, die eine nüchterne Beobachtung am
Krankenbette und im Tierexperimente über das psychische, besser
gesagt das nervöse Geschehen gezeitigt haben.
Das Dogma sah mit einem mitleidigen, nachsichtigen Lächeln
den ersten Gehversuchen zu, welche die ihm entwachsene Natur¬
wissenschaft dem Naturerkennen zu tat. Mitleidig wie eine Mutter,
welche weiß, daß ihr Kind bei seinen ersten Exkursionen gar bald
in der Horizontalen anlangen werde, nachsichtig wie eine Mutter, die
gar wohl weiß, wie bald ihr Kind unter Thränen in ihren bergenden
Schoß zurückflüchten werde. Aber sieh da! Wohl gab es ein
Straucheln uud Fallen, wohl gab es auch das, was man ins indivi¬
duell Menschliche übersetzt, Thränen nennen konnte — aber die vom
Banne des Dogma befreite junge Wissenschaft lernte gehen, wuchs und
wuchs und suchte] auf eigenen Füßen ihre eigenenWege, des mütterlichen
Schoßes zu ihrem Vorteile entratend. Und je weiter diese Wege sie
abseits führten von jenen der Mutter, um so banger wurde diese!
An die Stelle des nachsichtigen Lächelns trat gar bald ein ernstes,
mahnendes Kopfschütteln, eine Verwarnung nach der anderen
wurde der Unvorsichtigen nachgerufen. Das Dogma drohte mit
seinem Zorne und, weil dieser nichts fruchtete, mit seinem Fluche. Als
aber auch er ungehört verhallt war — die Naturwissenschaft war
einstweilen schon so weit gegangen und fühlte sich so sicher auf
ihren jungen Beinen! — da verstieß das Dogma das ungeratene
Kind! Es kehrte in seine Studierstube zurück und begann selbstge¬
fällig seine Selbstbetrachtungen von neuem! Da kam ein Tag, da
die Naturwissenschaft wieder an der Herrin Tor pochte, aber nicht
zagend und schüchtern, wie ein reuiger Sünder, sondern laut und
fordernd. Als ihm die Tür nicht gutwiliig aufgetan wurde, da er¬
zwang sie sich den Weg!
Ich möchte, m. H. diese Parabel nicht ins Ungebührliche fort¬
spinnen! Kehren wir zu den Tatsachen zurück, so wie sie heute
vor uns liegen: Wenn es früher keinen Alchymisten, keinen Heil¬
künstler gegeben hat, der unbeeinflußt vom Schuldogma sein Wesen
trieb, so gibt es heute keinen ernstzunehmenden Philosophen mehr,
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52
V. Pfeiffer
so kann beute kein irgendwie Beachtung verdienendes philosophisches
System aufgestellt werden, ohne volle Berücksichtigung nicht nur der
allgemeinen naturwissenschaftlichen Tatsachen, sondern ganz besonders
auch jener tiefen Einblicke, die das Experiment uns in die Werkstätte
psychischer Tätigkeit gewährt hat. Zu philosophieren — es bleibe
dahingestellt, ob es überhaupt vorteilhaft oder nutzbringend sei! —
zu philosophieren ist schon heute nur mehr auf einer Basis denkbar,
welche die Naturwissenschaft in selbstentäußemdem, aufreibendem,
jahrhundertelangem Kampfe geschaffen hat. So ist sie, ganz be¬
sonders aber die Medizin mit ihren vielen abzweigenden Wissenge¬
bieten die Lehrmeisterin der Philosophie geworden, so ist dem Natur¬
wissenschaftler neben seiner Forscherarbeit noch eine zweite Aufgabe
geworden: Der Lehrmeister des Menschengeschlechtes zu sein in
seinem Bingen nach Selbsterkenntnis.
Dieser Umschwung hat sich nun so unbemerkbar langsam und
unauffällig vollzogen, die immerhin erbitterten Kämpfe um die Vor¬
herrschaft wurden den breiten Massen so verborgen geführt, daß in
abseits Stehenden vielleicht die volle Ueberzeugung von der wesent¬
lichen Wandlung noch nicht gereift, noch nicht gefestigt ist.
So ist es auch nur zu erklären, warum die Jurisprudenz noch
heutigentags der Schulphilosophie nähersteht als jener Wissenschaft,
die in moderner Zeit an führende Stelle getreten ist So ist es viel¬
leicht erklärlich, warum dem Wandlungs- und Anpassungsprozesse
der alten Lehrmeisterin aus dem echt menschlichen Beharrungsver¬
mögen heraus nur zögernd und in geringem Ausmaße die Becbts-
kunde gefolgt ist.
So mannigfach die Wechselbeziehungen zwischen den beiden
Lagern auch sein mögen, so gebieterisch auch der Fortschritt gerade
das Ineinander-, das Miteinanderarbeiten der Vertreter beider Wissens¬
gebiete fordert, so spärlich ist bis heute noch der Gedankenaustausch
geblieben!
Doch dürfen wir nicht ungerecht sein und über das Ziel hinaus¬
schießen! Die Wechselbeziehungen sind lebhafter geworden, sie
mehren und festigen sich, so daß man schon heute aus den vor¬
liegenden Tatsachen sagen darf: Es bewegen sich beide Wissen¬
schaften nicht mehr in parallelen Linien, die in der — Unendlichkeit
einmal sich berühren werden, sondern es ist eine deutliche Konvergenz
zu verzeichnen, die den Zeitpunkt erschöpfenden und plangemäßen
Zusammengehens in nicht allzuferner Zukunft vorauszusagen gestattet!
Diese Annäherung bat nun wieder derselbe Umstand bewerk¬
stelligt, der früher für die Bechtspflege und für die Naturwissen-
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Über die Wechselbeziehungen zwischen Jurisprudenz und Naturwissenschaft 53
schäften als entscheidend bezeichnet wurde, sie vor einem Erstarren
im Dograenkrame zu bewahren: Der Kontakt mit dem konkreten
Einzelfall, mit dem Menschen!
Hier war die Rechtspflege schon zu einer Zeit, wo von einem
Aufblühen der Naturwissenschaften nicht die Rede sein konnte, dar¬
auf angewiesen worden, des helfenden Beirates Naturkundiger sich
zu bedienen, sollte sie nicht in ihrem Streben nach Rechtfindung
abirren. Nicht die Folgerungen aus dem Geschauten, sondern das
Geschaute selbst, die nackte naturwissenschaftliche Tatsache war es
zuerst, welche die Brücken schlug von der Jurisprudenz zur Natur¬
wissenschaft, insbesondere zur Medizin.
Als diese Wissenschaft in den Besitz konkreter Kenntnisse ge¬
langt, als das Studium des Baues und der Funktionen des gesunden
und kranken Menschen als unerläßliche Basis für ärztliches Handeln
erkannt worden war, da ist die. praktische Rechtspflege gar bald sich
dessen bewußt geworden, mit wie großem Vorteile sie in einzelnen
Fällen für ihr richterliches Handeln der Kenntnisse des Arztes sich
bedienen könne. Je weiter und tiefer auf dem Arbeitsgebiete der
Heilkunde und Biologie in das Naturverstehen eingedrungen wurde,
je mehr die Zahl der ans Licht gebrachten Tatsachen anschwoll, um
so reger gestaltete sich auch die Inanspruchnahme der Kenntnisse
des Arztes, um so häufiger sah sich der Richter veranlaßt, aus diesen
Quellen zu schöpfen. Wie groß der Umschwung gerade in den
letzten Jahrhunderten hier gewesen ist, läßt sich am leichtesten er¬
kennen, wenn man die relativ spärlichen Bestimmungen der Karolina
über die Heranziehung von ärztlichen Sachverständigen mit den Re¬
gulativen vergleicht, die in den modernen Gesetzbüchern die Tätig¬
keit des Arztes vor dem richterlichen Forum anordnen. So ist im
Verlaufe der Zeiten dem Arzte, von seinen reinärztlichen Pflichten
abgesehen eine neue soziale Aufgabe erwachsen, deren Erfüllung
einen nicht minderen Grad von Pflichtbewußtsein und Leistungs¬
fähigkeit verlangt, wie seine ihm angestammte, die ihn nicht minder
wichtige soziale Interessen zu vertreten heißt, wie das Gebot, Schmerzen
zu lindern.
Es ist, langsam an Boden und Bedeutung gewinnend, auf den
genannten konkreten Gebieten der Arzt und die ärztliche Wissen¬
schaft zu einem Kulturfaktor geworden, der vielleicht deshalb in seiner
Bedeutung von der Allgemeinheit unterschätzt wird, weil das Be¬
tätigungsbereich des Arztes das Krankenbett und der richterliche Einzel¬
fall geblieben ist, weil der Arzt, als echter Jünger der Natur, es scheut,
sich in Szene zu setzen.
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54
V. Pfeiffek
Ans diesen, Ihnen allen, m. H., so wohlbekannten Tatsachen
müßte es nun nur zu begreiflich scheinen, daß Jurist und Arzt, in
dem gemeinsamen Bestreben, ein und dieselbe soziale Sache zu för¬
dern, auch innerlich rasch einander nähergekommen sind und daß
sie es gelernt haben, sich einander anzupassen.
Man sollte meinen, daß eben jenes Philosophenwort, dessen
eminente Bedeutung einst das Freundschaftsbündnis mit der philo¬
sophischen Dogmatik anzubahnen vermochte, die Bechtskunde
naturwissenschaftlicher Denkweise zuführen werde. Wenn dies
nicht in jenem Umfange geschehen ist, wie es vielleicht für eine
ersprießliche Fortentwickelung vorteilhaft gewesen wäre und wie
es vielleicht auch die einzelnen Beteiligten wünschen würden,
wenn es noch immer nicht ausgeschlossen erscheint, daß die Natur¬
wissenschaft an der Jurisprudenz, der Rechtskundige an der Arbeit
des von ihm zugezogenen Arztes eine den Tatsachen nicht gerecht¬
werdende Kritik übt, so scheint mir dieser Umstand nur zu beweisen,
daß zwar nach außen hin oder besser gesagt im Einzelfall eine Ver¬
ständigung stattgefunden hat, daß aber die Denkweise in beiden
Lagern noch eine grundsätzlich verschiedene geblieben ist
Das ätiologische Moment — gestatten Sie mir diesen medizi¬
nischen Ausdruck! — das ätiologische Moment des starren Fest¬
halten an der einmal eingeschlagenen Gedankenrichtung dort und hier
liegt, wie ich meine, nicht so sehr in dem schon einmal angezogenen
menschlichen Beharrungsvermögen, als vielmehr in dem Umstande,
daß sich die Rechtskunde der Umwälzung nicht voll bewußt geworden
ist, daß sie heute unerschütterlich feststehende Deduktionen noch nicht
in vollem Ausmaße berücksichtigen gelernt hat, die einer naturwissen¬
schaftlichen Betrachtungsweise aus den beobachteten Tatsachen zu
ziehen so leicht fiel.
Die Schuld liegt auch hier wieder nicht so sehr an dem starren
Festhalten der Rechtskunde an ihren altgewohnten Ueberzeugungen
als an den Naturwissenschaftlern selbst, die es in der Schule der
nach einfachen, ehernen Gesetzen arbeitenden Natur verlernt haben,
Propaganda mit ihren Ueberzeugungen zu treiben, wie es die alten
Dogmatiker getan haben!
Aus der Erkenntnis der materiellen Grundlage, ja der materiellen
Ursachen psychischen Geschehens, in voller Würdigung des wesent¬
lichen Einflusses allgemein somatischer Verhältnisse auf die Vorgänge
des Seelenlebens und demgemäß auch auf das Handeln, wurde der
Arzt dazu geführt, gut und böse nicht so sehr nach ihrer sozialen
Beite hin einzuschätzen als die individuelle Genese, auf dem Hinter-
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Über die Wechselbeziehungen zwischen Jurisprudenz und Naturwissenschaft. 55
gründe allgemeiner Naturgesetze ins Ange zu fassen. Der Rechts¬
kundige aber, als Vertreter der Interessen menschlicher Gesellschaft,
glaubt naturgemäß seine spezielle Aufgabe erschöpft, wenn er die
Frage nach dem sozialen Effekt erledigt hat. Wir müssen aber ge¬
rechterweise zugestehen, daß schon seit langer Zeit nicht nur das
Was sondern auch das Wie im Einzelfall sowohl wie vom Gesetz¬
geber Berücksichtigung gefunden hat.
Dennoch glaube ich den Hauptgrund des Nebeneinanders von
Rechtskunde und Naturwissenschaft darin suchen zu müssen, daß die
soziale Bewertung nach den Gesetzen menschlicher Gesellschaft hier,
die individuelle Beurteilung auf dem Hintergründe eines immer¬
hin beträchtlichen Naturverstehens dort von beiden Seiten im Auge
behalten und daß ein Kompromiß zwischen beiden, sich doch er¬
gänzenden Betrachtungsweisen noch nicht gefunden ist. Daß aber
auch die Resultate, die von den erwähnten Gesichtspunkten erzielt
wurden, sich nicht decken können, daß hier immer wieder Dissonanzen
entstehen müssen, läßt sich leicht begreifen, wenn man bedenkt, daß
die soziale Bewertung nur einen kleinen Bruchteil eines Geschehens
zu beleuchten vermag, während das Streben nach einer Beurteilung
in Übereinstimmung mit den Naturgesetzen einen viel tieferen Ein¬
blick gestattet.
Ich möchte aber diesen, eine zielbewußte Annäherung heute noch
hemmenden Gegensatz mehr als einen äußerlichen, denn als einen
essentiellen bezeichnen. In beiden Lagern sollen menschliche Lebens¬
äußerungen beurteilt werden. Ob dies nun dort von sozialen, hier
aus individuell menschlichen Gesichtspunkten heraus geschieht, so
setzt doch jedes Beurteilen einer Sache ihre Kenntnis voraus, wenn
anders die Beurteilung den Dingen gerecht werden soll. Es ist eine
mehr als selbstverständliche Forderung, daß der Bewertung einer
menschlichen Handlung, von welchem Gesichtspunkte sie auch immer
ausgehen mag als Grundlage dienen müsse eine Kenntnis des
Menschen selbst
So wären wir auf diesem Umwege zum sokratischen „yvßd-i
aavröv “ zurückgekehrt! Mag auch der Arzt im Einzelfall als Sach¬
verständiger seine praktischen Kenntnisse in den Dienst der Rechts¬
pflege stellen und ihre Bedürfnisse nach Maßgabe des ihm zu Gebote
stehenden Wissenschatzes befriedigen, es muß in Konsequenz des
früher Gesagten nicht nur gefordert werden, daß eine praktische
Rechtspflege mit den Grundmaximen der menschlichen Lebenserschei¬
nungen vertraut ist, sondern daß auch eine legislative Tätigkeit in
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56
V. Pfeiffer
Anerkennung jener neuaufgedeckten naturwissenschaftlichen Tatsachen
erfolge, die uns Einblick gewähren in die Werkstätten der Natur, ganz
besonders aber in die Werkstätten menschlicheu Seelenlebens. So nur
kann im Einzelfall gegenüber dem sozialen Rechte der Allgemeinheit
auch das individuelle Recht des Menschen zur Geltung kommen, so
nur steht zu hoffen, daß auch in der Gesetzgebung dieses Prinzip
nach Tunlichkeit Anerkennung finde.
Und so nur, m. H., halte ich es für möglich, daß in absehbarer
Zeit in gemeinsamer Arbeit an die Lösung von Problemen wird ge¬
schritten werden können, deren Entwirrung heute noch als ein Un¬
ding erscheint. Dabei handelt es sich aber nicht so sehr um das
Verständnis, welches der Richter im Einzelfall seinem ärztlichen Bei¬
rat zollt. Denn dazu sind ja heute schon in großem Umfange die
Bedingungen erfüllt! Das große Entgegenkommen und die hohe An¬
erkennung, welche der ärztlichen Sachverständigkeit von maßgebender
Seite entgegengebracht wird, sichert auf diesem Gebiete heute schon
eine fruchtbringende Arbeit. Es kommt vielmehr darauf an, daß die
Rechtskunde, vom naturwissenschaftlichen Denken befruchtet, jene
Errungenschaften und jene heute schon ableitbaren Folgerungen auch
in der Theorie sich zu eigen mache, von denen sie Vorteil erwarten
darf. Auch hier dürfen wir aber in dem Bestreben, ein gegenseitiges
Verständnis anzubahnen, nicht ungerecht sein!
Die moderne Kriminalistenschule war es, welche vor mehreren
Dezennien die kühne Schwenkung ins naturwissenschaftliche Lager
in voller Erkenntnis der Richtung getan hat, in der sie sich bewegte.
Sie war es auch, welche die ersten Früchte beginnenden gegenseitigen
Begreifens gepflückt hat. Und die Zahl dieser ist, so weit ich in
diese Dinge Einblick gewonnen habe, keine geringe.
Ganz abgesehen von den unmittelbaren, praktischen Konsequenzen
welche die Bewegung schon zu verzeichnen hat, ist namentlich die
Theorie davon nicht unbeeinflußt geblieben. Man möge nur an den
alten, sicherlich in mancher Hinsicht unfruchtbaren Streit über die
Willensfreiheit sich erinnern und bedenken, welche Wandlung die
den unitarischen Standpunkt teilenden jungdeutschen Kriminalisten
in der Theorie des Strafrechts geschaffen haben. Wenn man früher
die Ansicht vertrat: Weil der Effekt einer Handlung sozial schädlich
sei, müsse gestraft werden, dabei sei es ganz irrelevant, wie die
Handlung, die Gesundheitsbreite vorausgesetzt, zustandekomme, so
war es gerade die von naturwissenschaftlichem Denken befruchtete
jungdeutsche Schule, welche darauf hinwies, daß neben der sozialen
Bewertung eines Deliktes, wenn auch im Hintergründe, so doch als
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
Über die Wechselbeziehungen zwischen Jurisprudenz und Naturwissenschaft. 57
immerhin beachtenswerter Faktor die individuelle Genese in Rechnung
gezogen werden müsse. Für sie aber ist die Frage nach der Willens¬
freiheit von allergrößter Bedeutung.
Freilich kann uns niemals dem stärkeren Rechte der Allgemein¬
heit gegenüber das individuelle Recht, das jedes Naturgeschehen in
sich birgt, so weit beeinflussen, uns zu fragen, ob überhaupt zu strafen
sei. Wohl aber ist es von einer Rechtspflege, die in Übereinstimmung
mit dem modernen, naturwissenschaftlichen Erkennen speziell der
psychischen Geschehnisse steht, zu erwarten, daß sie das Warum und
Wie der Strafe von diesem Faktor in hohem Maße werde beein¬
flussen lassen. Und diese beiden, nicht mehr so sehr in der Theorie
als vielmehr in der legislativen Tätigkeit und in der richterlichen
Praxis ihrer endgültigen Entscheidung immer noch harrenden Punkte
fordern geradezu heraus nach einer Einflußnahme naturwissenschaft¬
lich-psychologischer Erkenntnisse. Daß hier nicht der alte philosophi¬
sche Dogmenkram mit seinen den Lebenserscheinungen nicht, sondern
der Studierstube entlehnten, weltfremden Anschauungen, daß vielmehr
hier die nüchterne, naturwissenschaftliche Denkweise das letzte Wort
wird zu sprechen haben, diese Gewähr hat uns die jahrzehntelange
Arbeit naturwissenschaftlich-gebildeter Kriminalisten als wichtige und
stolze Errungenschaft beschert. Jene Geistesrichtung, jene Forscher¬
arbeit wird hier der Zukunft ihren Stempel aufdrücken, die dem
wahren und tiefen Sinn des „yvßxh aavzöv “ näher zu kommen ver¬
mochte.
Es würde mich zu weit führen, wollte ich die hier vorgebrachten,
ganz allgemeinen Andeutungen in das Detail verfolgen. Ich fürchte
auch nicht, in dem Gesagten mißverstanden zu werden! Was meine
innerste Überzeugung ist, es könne der Rechtspflege aus einem Streben
nach naturwissenschaftlicher Denkweise nur Vorteile erwachsen, dürfte
wohl auf keinen Widerspruch stoßen!
Wohl aber muß ich mich von dem Verdachte zu befreien ver¬
suchen, daß ich die naturwissenschaftliche Denkweise, die heute schon
gewonnenen Resultate zu hoch einschätze. Vor einer Überschätzung
der Bedeutung konkreter naturwissenschaftlicher Tatsachen für den
Einzelfall bewahren wohl die, wie ich unumwunden zugestehe, oft
recht betrübenden Erfahrungen in der Praxis. Gerade dem Natur¬
wissenschaftler werden die hindernden Schranken bewußt, die seinem
Erkennen da und dort und in um so größerer Zahl erwachsen, je
tiefer er in den Geist seiner Wissenschaft einzudringen versucht.
Gerade ihn lehren diese Schranken zuerst und am bittersten vielleicht,
einzuschätzen, was er nicht weiß! Sie lehren ihn aber auch, des
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58
V. Pfeiffer
einmal gesicherten Besitzes sich zu freuen, ihn zu nutzen und das
Erreichte mit dem noch Anzustrebenden in nüchterne Beziehung zu
bringen.
Aus dem zurückgelegten Weg vermag er auch auf die Entwick¬
lungsrichtung des Kommenden seine Schlüsse zu ziehen. So gering
das bisher Geleistete scheinen mag, so ferne wir uns auch heute noch
vom endlichen Ziele befinden, so oft uns auch noch im Einzelnen
unser Wissen im Stiche läßt, wir ringen und streben nach Wissen,
nach einem an den Tatsachen erprobten, nüchternen Wissen, nicht
nach hinfälligen Spekulationen und Lehrgebäuden! Dieses Streben,
diese Auffassung des V yvß&i oaviöv“ ist es, welche ich als den Kern
naturwissenschaftlicher Denkweise bezeichnen und von dem ich
wünschen möchte, daß sie das feste, unzerreißbare Bindeglied werde
zwischen Rechtskunde und Naturwissenschaft.
Die ethischen Ziele beider sind dieselben und einander gleich¬
wertig hohe: Den Menschen in seiner Kulturentwicklung zu fördern.
Die Wege, auf denen dieses Ziel angestrebt wird, sind heute schein¬
bar recht verschiedene. Wenn es aber erst einmal zum allgemeinen
Bewußtsein wird gekommen sein, daß nur aus einem Naturverstehen
heraus auch ein Verständnis des Einzelnen und der Gesellschaft denk¬
bar ist, und daß nnr auf dem Hintergründe des Naturgeschehens ihre
Relationen richtig beurteilt zu werden vermögen, dann ist auch der
Weg zu jener innerlichen Harmonie gefunden! Sobald sich beide
Lager darüber einig sind, daß aus ihrer Vereinigung, aus der Ver¬
bindung ihrer Arbeit der Fortschritt erblühen werde, sobald die
Rechtskunde planmäßig bestrebt sein wird, den naturwissenschaftlichen
Leitgedanken für ihre speziellen Zwecke nutzbar zu machen, dann
werden auch die beiden konvergierenden Entwicklungslinien im
Punkte sich getroffen haben!
Diesem idealen Punkt, — ich habe schon früher die Hoffnung
ausgesprochen, daß er nicht in unendlicher Entfernung liegt!-
diesem Punkte in konsequenter Weise zuzustreben, daran hindert uns
aber ein wesentlicher Faktor: Der Umweg über die philosophische
Vermittlerin leitet heute noch naturwissenschaftliche Ergebnisse in
juridisches Denken! Dieser Umweg ist ein großer, mühsamer und
vor allem: Es verdirbt auf dem weiten Transport so manches Wissens¬
gut, dessen unmittelbarer Besitz vielleicht fördernd und umwälzend
hätte wirken können.
Wenn Sie, m. H., mit mir darin übereinstimmen, daß der Rechts¬
kunde aus einem Entgegenkommen gegen die Naturwissenschaften
Vorteil erwachsen könne, so werden sie auch in logischer Konsequenz
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Über die Wechselbeziehungen zwischen Jurisprudenz und Naturwissenschaft. 59
dieses Zugeständnisses mit mir fordern: Naturwissenschaftliche
Bildung für den angehenden Juristen!
Daß es nun damit heute noch recht dürftig bestellt ist, wird mir
wohl jedermann zugeben müssen! Den Grundstock zu diesem Mangel
legt das Gymnasium, das als unerstürmtes Außenwerk sogenannten
„philosophischen Erziehungssystemes“ den Heranwachsenden auf alles
andere eher vorbereitet, denn auf das V yvw&t oavzov* in dem vor¬
erwähnten Sinn. Von dem allgemeinen Naturgeschehen lernen wir
dort einen dem Fachmanne unerläßlichen, eine allgemeine Bildung,
einen weiten Überblick aber nur hindernden Formelkram, von dem
Leib des Menschen und von seinen Funktionen wird uns im falschen
Sittlichkeitsdusel nur die obere, gewissermaßen salonfähige Hälfte in
elenden Bruchstücken vorgeführt and das psychische Geschehen lernen
wir nicht nach den heute einwandsfrei bewiesenen naturwissenschaft¬
lichen Tatsachen und den darauf sich aufbauenden Folgerungen
kennen, sondern in Form einer in den spanischen Stiefel einer philo¬
sophisch-religiösen Dogmatik eingeschntirten Dauphinen-Psycbologie
und Logik. Die klassischen Sprachen, deren das logische Denken
fördernder Einfluß zu ihrem Schutze immer wieder angeführt wird,
vollenden dann das Werk, uns als weltfremde, ihres Menschen-
tumes und ihrer Menschlichkeit unbewußte Geschöpfe in das
Leben zu schicken!
Dies ist der erste Teil der naturwissenschaftlichen Schulung
der angehenden Rechtsbeflissenen! Und nun zum zweiten, dem
Kolleg aus gerichtlicher Medizin, das während eines Semesters auf
der Hochschule gelesen wird. Es soll den Zweck haben, den Hörer
der juridischen Fakultät vertraut zu machen mit der Tätigkeit des
Arztes vor dem richterlichen Forum, und steht mit der Tendenz des
Vorhergesagten in vollem Einklänge. Die Absicht ist durchaus löb¬
lich! Nun soll aber auch nicht verschwiegen werden, wie dieser
Zweck in der Tat erreicht wird: Von vornherein stehen sich der
Lehrer der forensischen Medizin nnd seine Zuhörer etwa so gegen¬
über, wie zwei Menschen verschiedener Nationalität, die es nicht ge¬
lernt haben, in der Sprache ihres Widerpartes zu denken oder zu
sprechen! Ein zwar ergötzliches, aber im Hinblick auf das Vorher¬
gesagte doch ernst zu beurteilendes Schauspiel! Der Lehrer erkennt
die Unmöglichkeit, im Verlaufe weniger Unterrichtsstunden die ge¬
gebene Basis derart zu verändern, daß daraus auf ein wirkliches Ver¬
ständnis zu hoffen wäre, und sieht sich daher darauf angewiesen, eine
kursorischen Überblick über die menschliche Physiologie und Patho¬
logie zu geben und die wichtigsten Punkte anzuführen, in denen der
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60
V. Pfeiffer
Ausspruch des Arztes dem Forum von Belang ist Dabei mache ich
immer die Erfahrung, daß der Eindruck dieser Ausführungen ent¬
weder tödliche Langeweile ist oder aber jenem verzweifelt ähnlich
wird, wie ihn die Kinder in einem Zaubertheater empfangen: Von
einem Verstehen, von einem Eindringen und Durchdringen des Stoffes,
von einer Anpassung an medizinisches Denken kann um so weniger
die Rede sein, als die Mehrzahl der Hörer die wesentliche Bedeutung
des Vorgebrachten gar nicht einsieht. Als konkreten Ausdruck dafür
möchte ich die Tatsache erwähnen, daß die Frequenz der Vorlesungen
in dem Augenblicke etwa um das Dreifache steigt, wo die sexuellen
Delikte vorgeführt werden, daß aber z. B. die Besprechung nervöser
Vorgänge nur wenige Tapfere über sich ergehen lassen!
Ich möchte hier nicht mißverstanden werden! Unseren Studenten
mache ich aus diesen Tatsachen den allergeringsten Vorwurf! Es
fehlen ihnen eben alle Vorbedingungen dazu, mit wirklichem Ver¬
ständnisse, das allein einen ‘guten Willen’ zu zeitigen vermag, mit
der Möglichkeit eines Unterscheidungsvermögens zwischen Wichtig
und Unwichtig den Worten des Vortragenden zu folgen. Der
Vorwurf trifft vielmehr ein Erziehungssystem, welches es mit
sich bringt, daß zwei ihrem innersten Wesen nach demselben
Ziele zustrebende Geistesrichtungen so verständnislos einander gegen¬
überstehen.
Aus all dem früher Erörterten wirft sich die Frage auf, wie
denn hier Wandel zu schaffen, wie denn hier als notwendig erkannte
Verbesserungen anzubringen wären?
Wenn ich das Wort Verbesserung hier ausgesprochen habe, so
muß ich mich abermals gegen den Verdacht verteidigen, als hätte ich
es in der Hoffnung, in dem allerdings unverzeihlichen Optimismus
getan, aus den festgestellten Tatsachen heraus auch eine praktische
Konsequenz hervorgehen zu sehen. Ich habe von dem Beharrungs¬
vermögen menschlicher Einrichtungen eine viel zu hohe, von der
Überzeugungskraft des Wortes, ja selbst der Tatsachen eine viel zu
geringe Meinung, als daß ich es erhoffen könnte, in dem einmal ein¬
gebürgerten, festgelebten System einen Wandel eintreten zu sehen.
Wenn ich es dennoch unternehme, in einigen Andeutungen darauf
hinzuweisen, wie vielleicht der in uns allen lebendige Wunsch
tatsächliche Gestalt gewinnen könnte, so bin ich mir dessen
wohl bewußt, daß auch die ernsthaftesten und begründetsten Vor¬
schläge dazu gemacht zu sein scheinen, praktische Folgen nicht
nach sich zu ziehen. Aber dennoch! Sie müssen eben einmal ge¬
macht werden!
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Über die Wechselbeziehungen zwischen Jurisprudenz und Naturwissenschaft. 61
In diesem Sinne und nur in diesem bitte ich Sie, m. H., das nun
Folgende aufzufassen!
Da ich auch nicht in Gedanken es zu tun wage, und nicht dazu
berufen bin, an das durch Jahrhunderte lange Gewohnheiten geheiligte
Erziehungssystem des Gymnasiums zu rühren, so möchte ich wenigstens
darauf hinweisen, daß in unserer Sache auch auf der Hochschule
ohne beträchtliche Mehrbelastung des Studenten im Verlaufe seiner
vierjährigen Studien vieles nachgeholt werden könnte! Ich denke
dabei an ein zweistündiges, obligates Kollegium, welches etwa in
Seminarform während des ganzen Studienganges die Einführung in
die Kenntnis der Naturwissenschaften zu leiten hätte. Unter dieser
Voraussetzung ließen sich im ersten Jahre leicht die Grundzüge einer
allgemeinen Biologie, im zweiten jene der Anatomie und Physiologie,
im dritten jene der Pathologie unter besonderer Berücksichtigung des
normalen und krankhaften Seelenlebens bewältigen, während das
vierte Studienjahr für die Darstellung der gerade diesem Hörerkreis
besonders wichtigen forensen Medizin zugewiesen werden könnte.
Beim Unterrichte wäre nicht so sehr auf die Anführung wissenschaft¬
licher Details als auf eine systematische Demonstration der Natur¬
phänomene, auf sein Erleben durch den Schüler Gewicht zu legen.
Es würden sich auf eine Anregung der in Frage kommenden Faktoren
hin sicherlich an jeder Hochschule geeignete Lehrkräfte finden, welche
die angeführten Themen in entsprechender Weise zum Vortrage zu
bringen bereit wären.
Mit den hier angedeuteten beschränkten' Mitteln könnte zwar
nicht das Ideal einer naturwissenschaftlichen Durchschnittsbildung er¬
reicht, wohl aber könnte erzielt werden, daß nicht nur ein volles Ver¬
ständnis für die wichtigen gerichtlich-medizinischen Tatsachen ange¬
bahnt werde, sondern daß auch Rechtskundige ins Leben und
in ihren Berufskreis hinaustreten, denen naturwissenschaftliches
Denken während ihres langen Studienganges nicht völlig fremd ge¬
blieben ist
Damit wäre schon eine ebenso notwendige, wie ein gegenseitiges
Verständnis anbahnende Basis geschaffen, auf der aufbauend kom¬
mende Jahrzehnte dem oben als erstrebenswert hingestellten Ziele zu¬
arbeiten könnten:
Eine Gesetzgebung, einen Richter- und Beamtensland zu schaffen,
die der wesentlichen Bedeutung des „yvß&i oavröv “ im modernen
Sinne sich voll bewußt, den Fortschritt aus ihrer innersten Über¬
zeugung heraus fördernd, zwar der Allgemeinheit geben, was ihr ge¬
bührt, aber auch dem individuellen Geschehen seine gewiß nicht
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62
V. Pfeiffer
gering zu achtenden Rechte vorenthalten. Nur auf dem Wege natur¬
wissenschaftlicher Erkenntnis können wir zu einem vollen Selbstver¬
stehen, nur durch dieses wieder zu einer erschöpfenden Gerechtigkeit
und nur durch diese zu der Erreichung unseres gemeinsamen Zieles
beitragen:
Dem Menschen zu geben was des Menschen ist!
bv Google
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VI.
Mnemotechnik im Unterbewusstsein.
Von
Hans Gross.
Daß es eine solche gibt, und daß sie unter Umständen arg irre¬
führen, also bei Zeugenaussagen wichtig sein kann, hat mir ein
unbedeutender Vorfall vor Kurzem gezeigt.
Bei einer der ersten Seminarübungen des vorigen Semesters
hatte sich ein Student bei der Besprechung eines Vortrages hervor¬
getan; ich ließ mir seinen Namen sagen und als kurz darauf ein
Buch erschien, welches den vom genannten Studenten besprochenen
Gegenstand behandelte, so wollte ich ihm das Buch leihen. Ich sah
ihn aber nicht und sagte dem Pedell, er möge dieses Buch dem
Studenten „von Puchtel“ in meinem Namen geben. Der Pedell ver¬
sicherte, einen Studenten dieses Namens gäbe es gewiß auf der
ganzen Fakultät nicht, und erst nach umständlichen Beschreibungen
gelang es, festzustellen, daß der von mir gemeinte Student ein Herr
von Scheure sei. — Mich interessierte nun die Frage, wie ich dazu
gekommen bin, aus dem klingenden, richtigen Namen den immerhin
etwas lächerlichen „Herrn von Puchtel“ zu machen. Bewußt assoziiert
habe ich sicher nicht, denn daran würde ich mich erinnern, es muß
also etwas im Unterbewußtsein vorgegangen sein: nahezu gewiß in
etwas komplizierter Weise. Offenbar hatte ich, als ich den Namen
des Studenten vernommen habe, empfunden, daß er:
t. Ähnlichkeit mit dem Namen des berühmten Romanisten v. Scheurl
hat und daß:
2. der Name des Studenten sich von dem des Romanisten dadurch
unterscheidet, daß letzterer ein „1“ als Diminutiv angehängt hat
Im Laufe der Tage blieb mir nur etwas mehr Allgemeines im
Gedächtnis und zwar:
l.der Student heißt ähnlich wie ein (ganz allgemein) berühmter
Romanist;
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64
VI. Gross
2. mit dem anhängenden Diminutiv ist es aber anders (ich habe
mir nicht gemerkt, ob der Romanist oder der Student am
Namensende ein „1“ trägt),
3. der Student hat einen adeligen Namen. —
Als es sich nun darum handelte, den Studenten zu nennen, so
erwischte ich vor allem statt des berümten Romanisten Scheurl,
den berühmten Romanisten Puchta und da ich (unbewußt) empfand,
der Unterschied der Namen liege in Diminutiv, so glaubte ich, der
Sache genüge geleistet zu haben, wenn ich aus „Puchta“ nun „Puchtel“
machte. Daß ein „von“ dazu gehört, hatte ich mir gemerkt; das
Ganze hat sich aber so lebendig erhalten, daß ich nötigen Falles
bei Gerichte unter Eid versichert hätte: der Student heiße „von
Puchtel“.
Etwas Ähnliches passierte mir in den letzten Tagen. Ich habe
vor Jahren einmal in einem botanischen Garten eine schwimmende
Wasserpflanze und daneben die Tafel mit ihrem Namen „ Pontederia“
gesehen. Vor kurzem sah ich dieselbe Pflanze in einem Aquarium, und
als meine Frau fragte, wie diese sonderbare Pflanze etwa heiße,
antwortete ich prompt und mit voller Sicherheit: „sie heißt Tartuffia.“
Durch einen Zufall (beim Suchen irgend eines Gegenstandes im
Konversationslexikon) entdeckte ich meinen Irrtum, der ebenfalls durch
unbewußte Mnemotechnik entstanden ist Die Pflanze trägt nämlich,
um schwimmen zu können, am Stengel große, knollige Auftreibungen.
Offenbar haben mich seinerzeit diese Knollen an Kartoffel, der Name
Pontederia an pomme de terre erinnert, und als ich jetzt den Namen
sagen sollte, ging — alles im Unterbewußtsein — die Assoziation
so von sich: „die knolligen Auftreibungen des Stengels erinnern an
Kartoffeln und auch der Name der Pflanze klingt ähnlich wie der
Name der Kartoffel in einer fremden Sprache.“ Dies benutzte ich
korrekt zur Herstellung des Namens, verwechselte aber das franzö¬
sische pomme de terre mit dem italienischen tartufoli und die
Tartuffia war fertig; auch die Richtigkeit dieses Namens hätte ich
erforderlichen Falles vor Gericht beeidet. —
Tatsächlich kommen Bolche Dinge im gemeinen Leben und vor
Gerichte oft vor; irgend einer Mnemotechnik bedient sich mancher,
denn es ist schon eine Art davon, wenn sich jemand einen Knoten
ins Sacktuch macht, oder die Uhr verkehrt einsteckt etc., um etwas
nicht zu vergessen. Aber auch verwickeltere Kunststücke machen
verschiedene Menschen — bewußt oder unbewußt — um sich etwas
zu merken, und von der Verläßlichkeit der verwendeten Mnemotechnik
hängt selbstverständlich auch die Verläßlichkeit der betreffenden Aus-
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Mnemotechnik im Unterbewußtsein.
65
sage ab. Ich habe wiederholt 1 ) darauf aufmerksam gemacht, wie
wichtig es bei maßgebenden Aussagen ist, nachzuforschen, ob und welche
Mnemotechnik in Anwendung gekommen ist und weichen Wert sie
hat. Fragt man dies — oft mit großer Mühe — heraus, so ist man
dann meist über die Verläßlichkeit des Angewendeten völlig beruhigt,
häufig wird aber dann der Verdacht, daß eine Verwechslung vorliegen
kann, erst recht lebendig. Daß Mnemotechnik, oft in bescheidenster
Form, vorliegen kann, wird natürlich dann wahrscheinlich, wenn ein,
sonst verläßlich erscheinender Zeuge, irgend etwas angibt, was nicht
leicht merkbar ist, z. 6. eine Zahl, ein Datum, einen seltenen Namen.
Fragt man dann, wie sich Zeuge das merken konnte, so wird regel¬
mäßig etwas Mnemotechnisches zum Vorschein kommen, worauf aber
immer erst der behauptete Vorgang genau untersucht werden muß.
Ich erinnere mich an zwei Fälle, in welchen die Mnemotechnik ver¬
läßlich schien, es aber nicht war. In dem einen Falle hatte ein
Bauer für ein damals gar nicht wichtig erscheinenden Ereignis ein
bestimmtes Datum angegeben — sagen wir: 27. Juni 1890. Auf die
Frage, wie er sich dieses Datum habe merken können, gab er die
beruhigende Antwort: „weil es mein Geburtstag war.“ Tatsächlich
hatte sich jenes Ereignis an seinem Namenstage, also an einem ganz
anderen Datum zugetragen. —
Ein andermal batte auch ein alter Bauer, den Namen eines
Fremden, der 'vor Jahren ein einziges mal bei ihm war, zu sagen
gewußt; er nannte ihn Josef Kaspar und begründete seine Erinnerung
damit, daß der Mann am Heil. Dreikönigstage bei ihm war, und da
habe er sich gedacht, er habe auch den Namen eines der heil. Drei
Könige (Kaspar, Melchior, Balthasar). In Wahrheit hieß der Mann
aber Josef Melchior. Unter Umständen durch Zufall oder mit großer
Mühe kann man also Mnemotechnik, die auch beim besten Willen
der Zeugen die bedenklichste Verwirrung anrichten kann, allerdings
entdecken und unschädlich machen, vielleicht sogar das richtige ent¬
decken, aber doch nur, wenn sie bewußt angewendet wurde. Zweifel¬
los wirkt sie aber sehr oft unbewußt und wenn der Zeuge von ihrer
Tätigkeit keine Kenntnis bat, wird sie auch der Forschende nur aus¬
nahmeweise entdecken. Beweisend ist also die Begründung mit
Mnemotechnik nur selten.
Z. B. „Kriminalp9ychologie“ 2. Aufl. S. 359.
Archiv für Kriminalanthropologie. 29. Bd
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VII.
Alkohol und Verbrechen nach neueren Statistiken.
Von
Kurt W. F. Boas, Berlin.
Mit Hinsicht auf die ausführliche Behandlung dieses Gegen¬
standes durch Hoppe 1 ) und Baer und Laquer 2 ) will ich nur die
neuesten Angaben berücksichtigen.
Die Beziehungen zwischen Verbrecherrückfälligkeit und
Alkoholismus erhellen aus den Angaben von Neuhaus 3 )
im Jahre
Gewohnheits¬
trinker
Bei d. letzten
Tat betrank.
Land¬
streicher
Prostituierte
1900
1901
1902
Männer
27,4
Proz.
35,4
Proz.
18,2
Proz.
0,6
Proz.
Frauen
22,0
7)
9,2
V
14,2
77
37,6
Männer
25,3
71
33,7
77
16,4
77
0,6
Frauen
19,3
7)
9,0
7 ?
11,9
V
32,5
71
Männer
24,7
77
35,6
7)
15,7
77
0,7
71
Frauen
23,7
7)
9,5
71
16,6
V
38,1
Eine Ergänzung und Rektifikation der Neuhaussehen Angaben
bedeutet die nachfolgende Tabelle. 4 )
1) Hoppe, Alkohol und Kriminalität Wiesbaden 1906. Die forensiche
Beurteilung und Behandlung der von Trunkenen und Trinkern begangenen Delikte,
Zcntralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie, 15. Januar 1906. Der innere
Zusammenhang zwischen Alkoholismus und Verbrechen, Die Alkoholfrage 1906
Bd. 3 p. 199.
2) Baer und Laquer, Die Trunksucht und ihre Bekämpfung 2. Aufl. Berlin
und Wien 1907.
3) Xeuhaus, Zeitschrift des Kgl. Preußischen Statistischen Bureaus, Jahrg.
1904, p. 20s.
4) Statistisches Jahrbuch für den preußischen Staat 1905 Bd. 3 p. 215.
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Alkohol und Verbrechen nach neueren Statistiken.
67
In den preußischen Zuchthäusern betrug:
Jahr
Zahl aller einge- 1
lieferten Rückfälligen 1
_
1902
3234
1903
3247
1904
3096
1904
l Frauen
2S06
290
Darunter
Gewohnheitstrinker
755 = 24,5 Proz.
814 = 24,8 ,
729 = 23,5 „
662 = 23,6
67 = 23,1 „
Bevor wir an die eigentliche Kriminalität herangehen, wollen wir
erst einmal die Beziehungen zwischen Zwangsfürsorge und Korrektions¬
haft und Trunksucht prüfen.
Isermayer 1 ) stellte bei den Fürsorgezöglingen des Frauenheims
zu Hildesheim folgendes fest:
Zahl d. Aufnahmen
in der Zeit vom
1. IV. 1901 bis
1. VIII. 1904
174
Feststellungen an den Vätern:
Trinker
Vagabunden Sittlichkeits-
Raufbolde etc. Verbrecher
Diebe
14 Proz.
7 Proz. 4 Proz.
6 Proz.
Feststellungen an den Müttern:
Moral. Ver¬
kommene
Liederlich bunten Dirnen
Diebinnen
11 Proz.
17 Proz. 3 Proz. 4 Proz.
5 Proz.
Von 1103 bayrischen Zwangszöglingen des Jahres 1904 hatten
241 = 21 Proz. Eltern mit schlechten Neigungen (väterlicherseits: zu¬
meist Trunksucht; mütterlicherseits: Arbeitsscheu und Unsittlichkeit). 2 3 )
Snell 4 ) berichtet, daß unter 100 Korrigenden der Anstalt Wun¬
storf nur 13 waren, die ihrer Angabe nach noch nicht dem gewohn¬
heitsmäßigen Trünke ergeben waren. Ein Korrigend war periodischer
Trinker; wochenlang trank er sehr stark, dann monatelang wieder
gar nicht.
Neißer 4 ) fand bei Fürsorgezöglingen in 20 Proz. Alkoholis¬
mus väterlicher- und mütterlicherseits, Unzucht und Trunksucht in
214 Proz.
Seiffert 5 ) konnte an 354 Fürsorgezöglingen der Anstalt Strauß-
1) Isermayer, Wesen und Wirken der Frauenheime. Straßburg 1904 p. 21.
2) Statistik des Königreiches Bayern 1904.
3) Snell, Alkoholismus in Korrcktionsanstalten. Der Alkoholismus A. F.
Bd. 1 p. 84.
4) Neißer, Psychiatrische Gesichtspunkte in der Beurteilung und Behandlung
der Zwangszöglinge. Halle a. S. 1907.
5) Seiffert, Diskussion zu dem Vortrage von v. Rohden: Jugendliche
Verbrecher. Bericht über den Kongreß für Kinderforschung und Jugendfürsorge
in Berlin (1.—4. Oktober 1906). Langensalza 1907 p. 392.
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68
VIL Boas
berg feststellen, daß von den Eltern 75 wegen Diebstahls, 46 wegen
Trunksucht, 16 wegenTUnzucht vorbestraft waren.
In die Zwangsarbeitsanstalt zu St. Georg, Leipzig, wurden laut
Bericht eingeliefert: 1 )
Im Jahre |
Männer
Weiber
|
Zusammen
i
Trunksücht.
Männer
Trunksucht.
! Weiber
Zusammen
1901
401
31
432
240 = 59,8 °/o
1 • ;
26 = 83,9 °/o
266 =
63,9 %
1902
356 ;
32
3S8
1
199 = 55,9%
17 = 53,1 %
216
1903
357
32
369
264 = 60,5 %
20 = 62,5 °/o ;
224 =
60,7 °/o
n den
3 Jahren |
1094
■
95 j
i
i 1189
638 = 58,3 °/o
63 = 66,3 °/o |
701 =
88,9 %
Die Kriminalität bewegte sich in den letzten Jahren in ständiger
Steigung, was aus nachfolgender Tabelle hervorgeht. 2 )
In verblüffendem Gegensätze dazu steht die Statistik der zum
Ressort des Königlich Preußischen Ministeriums des Innern gehörenden
Strafanstalten und Gefängnisse und der Korrigenden, die in dem mir
vorliegendem größeren Auszuge 3 ) nichts über die Trunksucht als Ur¬
sache der Einlieferung der Korrigenden bringt. Jedoch geht man
njcht fehl anzunebmen, daß bei den anderen Ursachen auch die Trunk¬
sucht, wenn auch nicht gerade entscheidend, mitgewirkt hat.
Art des Verbrechens 1895 1900 1901 1902 1903 1904
Delikte, Verbrechen und Ver¬
gehen gegen Reichsgesetze
überhaupt 478 139 469819 497 310 512329 505353 516967
Delikte gegen Staat, öffentl.
Ordnung und Religion 81231 77254 83093 86069 86638 92679
Delikte gegen die Person 207332 203 177 219447 216035 212960 220164
Delikte gegen das Vermögen 188260 188088 199428 208884 204505 202849
Untersuchungen über den Stand der Verbrecher, die eine
Tat im Alkoholrausch ausführen, liegen von Bonhöffer 4 ) vor. Er
gibt darüber folgende Übersicht:
II Verwaltungsberichte der Stadt Leipzig für die Jahre 1901—03. Leipzig
1903—05 p. 551 bezw. 511 bezw. 525.
2) Vierteljahreshefte zur Statistik des Deutschen Reiches 1905 lieft 4 p. 82.
3) Die Insassen der preußischen Arbeits(Korrektions)-Häuser. Norddeutsche
Allgemeine Zeitung 1907 No. 153 vom 3. Juli 1907 * Beiblatt).
4) Bonhöffer, Beruf und Alkoholdelikte. Monatsschrift für Kriminal¬
psychologie und Strafrechtsreform 1905 Bd. 2 p. 593.
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Alkohol und Verbrechen nach neueren Statistiken.
69
Stand der Gefangenen
; Gesamtzahl
Prozentsatz der
Alkoholiker
Gelegenheitsarbeiter.
Bauarbeiter.
Im Freien arbeitende Wasserarbeiter, Schiffer,
Sandbagger, Ziegelarbeiter, Knechte, Dominial'
arbeiter.
Kutscher, Fuhrleute.
Handwerker.j
Alkoholgewerbe. j
Brennerei- und Brauereiarbeiter, Bierkutscher, j
Bestaurateure, Musiker, Hausierer ....
Fabrikarbeiter.. .
Bäcker, Fleischer, Friseure ........
Kaufleute, Buchhalter, Schreiber.
483
342
114
103
432
54
39
39
28
29.5
20.5
6,3
26,4
3.4
2.4
2,4
1,7
Die Zahl der Professionen gibt auch eine Statistik Malgats. •)
Beruf
Zahl
Darunter
Trinker
°/o
Beruf
Zahl
Darunter
Trinker
°0
Tagelöhner . . .
299
156 = 52,2
Hotelkellner . . .
35
30 = 85,7
Maurer.
185
100 — 54,1
Cafdkellner . . .
35
34 = 97,1
Landleute ....
91
36 — 39,6
Maler.
30
14 = 46,7
Bäcker ....
86
56 — 65,1
Lastträger ....
30
25 — 83,3
Kommis ....
57
30 — 52,6
Bergleute ....
28
18 — 64,3
Schuster ....
j 54 |
28 — 51,8
Küfer.
27
22 = 81,5
Fuhrleute ....
53 1
36 = 67,9
Kolporteure . . .
26
18 = 69,2
Erdarbeiter . . .
52
27 — 51,9
Schlosser ....
25
13 = 52,0
Kutscher ....
49
38 = 77,6
Schneider ....
21
12 — 57,1
Dienstboten . . .
47
25 — 58,2
Gast- u. Schankwirte
17
! 14 — 82,3
Seeleute
47
20 = 42,8
Akrobat., Sänger etc.
16
, 12 = 7,5
Kaufleute . . . .
43
36 — 60,5 !
Beisende ....
9
6 — 66,7
Tischler ....
40
.
26 = 65,0
1
Musiker ....
7
7 — 100
Die meisten der Verbrechen fallen, wie die Unfälle, auf die Tage
Sonnabend, Sonntag und Montag. Schroeter 1 2 ) macht darüber folgende
interessanten Angaben, die er an 2178 wegen Körperverletzung und
1) Malgat, Congrös pdnitcntiaire international 1900 Tome IV p. 100.
2) Schroeter, Zit nach Matthaei, Die Schädlichkeit mäßigen Alkohol¬
genusses. Tages- und Lebensfragen No. 25. Leipzig 1900. Chr. G. Ticnken.
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70
VII. Boas
Totschlag Verurteilten nach dem Berichte von 61 Strafanstalten fest¬
gestellt hat.
32,4 Proz.
verübten die Tat am Sonntag,
58,4 „
V T
„ „ Sonnabend, Sonntag oder Montag,
die übrigen 41 Proz. „ «
„ „an den übrigen Wochentagen.
Quelle
Ort der Unter¬
suchung
Gesamtzahl der
Verbrechen
am Sonntag begangene
Verbrechen in Proz.
Aschaffenburg')
Worms
254
35,1 Proz.
ders.
Heidelberg
261
47,5 „
Lang 2 )
Zürich
141
42,6 .
Löffler 3 )
Wien
288
30
Kais. Statistisches
Amt
97376
34652 = 35,6 Proz.
(Von den übrigen Verbrechen entfielen 69 543 auf Werktage, bei
2181 war der Tag nicht mehr zu ermitteln.)
Wir sehen also, daß auf einen Werktag 198, auf einen Sonn¬
oder Feiertag 578 Verbrechen (schwere Körperverletzungen) fallen.
Was die geographische Verbreitung der schweren Körper¬
verletzung betrifft, so steht die Pfalz mit 663 (auf je 100000 Straf¬
mündige) oder mit 265 Proz. vom Reichsdurchschnitt an erster Stelle,
dann kommen Niederbayern mit 565 oder 236 Proz., Mannheim mit
481 oder 201 Proz. und Oppeln mit 473 oder 198 Proz. des Reichs¬
durchschnitts.
0. Juliusburger 4 ) gibt einen Nachweis Aschaffenburgs
wieder, nachdem in Deutschland die Distrikte mit den meisten gefähr¬
lichen Körperverletzungen, nämlich Bromberg mit 317, Oberbayern
mit 325 und Niederbayem mit 360 und die Pfalz mit 421 auf
10 000 straf mündige Zivilpersonen, während der Reichsdurchschnitt
von 10 Jahren 163 beträgt, den drei Zentren des Schnaps-, Bier- und
Weingenusses entsprechen.
Die Klassen, die am meisten an den „Alkoholverbrechen“ be¬
teiligt sind, sind, wie wir oben gesehen haben, die Arbeiter — und
die Studenten, deren Kriminalität 0. Juliusburger 5 ) uns angibt
1) Aschaffenburg, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft
1899 Bd. 20 p. 80. Das Verbrechen und seine Bekämpfung. Heidelberg 1903.
2) Lang, Alkohol und Verbrechen. Basel 1898. ^
3) Löffler, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 1903.
Bd. 24 p. 509.
4) Juliusburger, Die Motive der modernen Abstinenzbewegung. Die
medizinische Woche f905 No. 30.
5) Juliusburger, Alkoholismus und Verbrechen. Hygienische Rundschau
1906 No. 20.
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Alkohol und Verbrechen nach neueren Statistiken.
71
Jahr
Art des Vergehens oder
Verbrechens
Auf 10 000 Strafmünd,
entfallen davon
Auf 10000 Studenten
entfallen
1S93
Beleidigung
14,3
17,9
1S99
do.
Angaben fehlen
22,2
1893
Gewalt und Drohung gegen
Beamte
4,4
13,9
1899
Sachbeschädigung
4,9
10,5
Völlig im Einklänge hiermit stehen die statistischen Untersuchungen
über die Frage, an welchen Tagen die meisten Verhaftungen wegen
Trunkenheit erfolgen.
Sie sind in der folgenden Tabelle festgelegt.
Quelle
Ort und Jahr der Gesamtzahl
__ . der Arre-
Untersuchung tieningen
Zahl der Verhafteten wegen Trunkenheit
Montag Dienst. Mittw. Donn. Freitag Sonnab. Sonntag
Hildesheim
(1893—1895)
Gerenyi Wien, Bezirk Land¬
straße (1898)
Zusammen 159
35S
922
199
Von 922 Arretierungen fielen die meisten in die
Zeit von Sounabend abend bis Montag früh
ders.
Wien, Bez.Favoriten
(1899)
t
Liverpool (1903)
288
7340
28
1303=
870=
851 =
738=
766 —
2317 =
18 °/o
111,7 o/o
11,6 %
10 %
10,4 °/o|31,6 o/„
132
495=
6,7 o/o
(Die geringe Zahl der Arretierungen am Sonntag ist auf die in
England streng durchgeführte Sonntagsruhe zurückzuführen, die den
Ausschank geistiger Getränke verhindert)
Was die Art der Verbrechen betrifft, so haben die schweren
Körperverletzungen, die in besonders engem Zusammenbange mit der
Trunksucht stehen, in erschreckendem Maße zugenoramen, wie aus
folgender Statistik 1 ) hervorgeht:
Auf die 5 Jahre entfallen durchschnittlich auf 100000 Straf¬
mündige folgende Zahl von gefährlichen Körperverletzungen:
18S3—1887 ... 153
1888—1892 ... 173
1893—1897 ... 219
1898—1902 ... 239
1) Statistik des Deutschen Reiches. Bd. 155, II p. 34.
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72
VIL Boas
Die Steigerung geht somit hervor, wenn man das Jahr 1882 mit
121 gefährlichen Körperverletzungen pro 100000 mit dem Jahr 1901
mit 250 pro 100000 vergleicht
Den Anteil des Alkohols an militärischen Disziplinarver¬
gehen zeigt uns die folgende Statistik 1 ):
Strafbare Hand¬
lungen überhaupt
(Zuwiderhand¬
lungen gegen mili-
tä rische und bürger¬
liche Strafgesetze)
Preußen
11275
Bayern
1991
Sachsen
803
Württemberg
386
Deutsches Heer
14455
(im Jahre 1903)
14728
Kaiserl. Marine
1295
Strafbare Handlungen gegen die
militärische Disziplin
urtei-
lungen
im ganzen
Kriegs- Stand¬
gerichtlich gerichtlich
abgeur- abgenr-
teilte Fälle teilte Fftl le
in trun¬
kenem
Zustande
9934
1375
1461
276
1854
39
212
37
739
89
92
5
346
27
38
4
12873
1530
1803
322 =
9,7 0/o
3333
13149
1499
1654
339=
10,8 0/ 0
3153
1161
207
101
49-4-
15,9 o/o
308
v. Müller 2 ) gibt folgende Übersicht:
Art des Verbrechens Auf 100 Verbrechen kommen
: :: : XltirSKr
Ungehorsam.35 J
Hiermit stehen die Erfahrungen Schultzes 3 ) völlig in Ein¬
klang, der den Nachweis führte, daß die Hälfte der Militärgefangenen
Trinker sind.
Marambat 4 ) fand unter 2950 Verurteilten folgendes Verhältnis:
1) Vierteljahrshefte der Statistik des Deutschen Reiches. 1905. Heft 2
II p. 1S9.
2) v. Müller, Alkohol und Wehrkraft Berlin 1905. Mäßigkeitsverlag.
3) Schultze, Weitere psychiatrische Beobachtungen an Militärgefangenen.
Jena 1907.
4) Marambat, ref. Deutsche med. Wochenschrift ISSS p 10SO.
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Alkohol und Verbrechen nach neueren Statistiken.
73
Art des Verbrechens prozentualiter
Diebstahl.
. . . 70,9
Proz.
Vertrauensmißbrauch.
. . . 70,9
T)
Betrug.
. . . 70,9
7 ?
Körperverletzung.
. . . 88
71
Gewaltsame Einbrüche.
... 11
r>
Vergehen gegen die Sittlichkeit . .
53
7)
Vagabondage etc. .......
. . . 79
7 ?
die in der
/ Trunkenheit
verübt sind.
Bei den in St Petersburg begangenen Kriminalverbrechen waren
40,5 Proz. der Verbrecher Gewohnheitstrinker, während in 44,9 Proz.
aller Verbrechen überhaupt der Alkohol eine Rolle spielte (Gri-
gorjeff*)). Von der Gesamtzahl aller Angeklagten, die sich vor
dem Petersburger Kreisgericht für Vergehen verantworten mußten,
waren 47 Proz. Gewohnheitstrinker oder in trunkenem Zustande
bei Begehung des Verbrechens (48,2 Proz. Männer und 38 Proz.
Frauen).
Die Ursache dieser hohen Kriminalität ist in dem hohen Alkohol¬
konsum in St Petersburg zu suchen. Während nämlich im europäi¬
schen Rußland in den Jahren 1886—1897 auf 714,2 Einwohner eine
Alkoholverkaufsstelle kam, kommt in St Petersburg eine auf 394,4.
Der durchschnittliche jährliche Alkoholkonsum (40 Proz. Branntwein)
betrug in den Jahren 1887—1896 2,2 Wedro (l Wedro = 12,299 Liter)
pro Person und war viermal so groß als der Konsum der Gesamt¬
bevölkerung des europäischen Rußlands (0,62 Wedro).
Wir kommen nunmehr zu einer Art Verbrechen, die mehr wie
jedes andere auf das Konto des Alkohols zu setzen ist, ich meine
die Sittlichkeitsverbrecben.
Daß Alkohol den natürlichen Geschlechtstrieb in einen perversen
ausarten läßt, ist zur Genüge bekannt. So haben Forel 1 2 ), Bleuler-
Was'er 3 ) und U11 mann 4 ) auf die Gefahren des Alkohols namentlich
bei jugendlichen Personen hingewiesen.
Und daß auch — nebenbei bemerkt — der Alkohol die Ent¬
stehung von Geschlechtskrankheiten (Syphilis, Impotenz) befördert, das
1) Grigorjeff, Alkoholismus und Verbrechen in St Petersburg. 1900
2) Forel, Die Rolle des Alkohols bei sexuellen Perversionen, Epilepsie
und anderen psychischen Abnormitäten. Deutsche med. Wochenschrift 1894
No. 52.
3) Bleuler-Waser, Der Einfluß des Alkohols auf das Verhältnis der
beiden Geschlechter. Berliner Frauenkongreß 1904.
4) Ullmann, Über sexuelle Aufklärung der Schuljugend. Monatsschrift
für Gesundheitspflege 1906 No. 1.
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UNIVERS1TY OF CALIFORNIA
74
VII. Boas
zeigen uns die Beobachtungen von Schwetz 1 ) und Dam mann 2 )
an, auf die ich leider wegen Baummangels hier nicht eingehen
kann.
Wir wollen vielmehr die statistisch nachweisbare Rolle des Alko¬
hols bei Sittlichkeitsverbrechen feststellen.
Baer 3 ) fand unser den Sittlichkeitsverbrechern 77 Proz. Alko¬
holiker (73,3 Proz. Männer und 26,7 Proz. Weiber) und unter den
Not- und Unzuchtsattentätern 60,2 Proz. (61,2 Proz. Männer und
38,8 Proz. Weiber). Ausführliche Mitteilungen über das Verhältnis
der Sittlichkeitsverbrechen auf alkoholischer Basis zu. den anderen
Alkoholverbrechen macht auch Geill 4 ), dessen umfangreiche Be¬
obachtungen an dänischen Verbrechern jedoch hier nicht wiederge¬
geben werden können.
Unter 116 Sittlichkeitsverbrechern, die derselbe Geill 5 ) in den
Jahren 1898—1903 beobachtet hat, waren zur Zeit des ersten Sittlich¬
keitsverbrechens 57 = 49 Proz. trunksüchtig, 38 davon zur Zeit der
Tat berauscht Außerdem waren noch von den 55 nicht Trunksüchtigen
19 = 16,38 Proz. berauscht bei der Tat, sodaß der Alkohol im
Ganzen bei 76 = 56,2 Proz. eine Rolle spielte. Die weiteren Resul-
täte erläutert folgende
Tabelle:
Davon
Nicht
Von den nicht
Zahl und Art der
Chronische
zur Zeit
Trunksücht.
Sittlichkeitsverbrechen
Alkoholisten
der Tat
berauscht
Trunk¬
süchtige
zur Zeit d. Tat
berauscht
19 Notzucht an Erwachs.
4 Unzucht mit Mädchen
unter 16 Jahren (Not¬
14=16,38%
12
5
4=21,05 0/ 0
zucht, Blutschande
12 Unzucht m. Individuen
gleichen Geschlechtes
10 Exhibitionisten
38=51,35 %
4=33 %
1 = 10 %
25
1
12=16,22 0/0
3=30 °/ü
1) Schwetz, Ein Fall von galoppierender maligner Syphilis mit Alkoho¬
lismus kompliziert. Revue mödicale de la Suisse Romaine 20 f§vr. 1906. Ref.
Deutsche Medizinalzeitung 1906 No. 44.
2) Baer, Über Trunksucht, ihre Bekämpfung und ihre Folgen. Die deutsche
Klinik am Eingänge des 20. Jahrhunderts. Bd. 6 Abt. 2 p. 225.
3) Dammann, Die Impotenz und ihre Behandlung. Medizinische Klinik
1906 No. 52. Die geschlechtliche Frage. Leipzig 1907.
4) Geill, Alkohol und Verbrechen in Dänemark. Der Alkoholismus. 1904
N. F. Bd. 1 p. 203.
5) Geill, Kriminalanthropologische Untersuchungen dänischer Sittlichkeits¬
verbrecher. Archiv fiir Kriminalanthropologie 1905.
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Alkohol und Verbrechen nach neueren Statistiken.
75
ad 1) Der Alkohol hatte also bei der Notzucht in nicht weniger
als 19 Fällen oder in 94,73 Proz. einen Einfluß ausgeübt
ad 2) Bei 50 = 67,57 Proz. der Notzuchtsverbrecher und Blut¬
schänder spielte der Alkohol eine Rolle.
ad 3) Von den Männern, die sich der Unzucht mit Individuen
gleichen Geschlechtes schuldig gemacht hatten, waren 4 = 33 Proz.
Alkoholiker.
ad 4) Bei den Exhibitionisten hatte der Alkohol bei 4 = 40 Proz.
mitgewirkt.
Außer den exakten Untersuchungen Geills besitzen wir noch
die Studien Leppmanns *). In seinen Fällen kam bei 38 der
90 Sittlichkeitsverbrecher oder bei 42,2 Proz. der Alkohol in An¬
schlag. Bei 24 = 26,7 Proz. der Fälle konnte Trunkenheit oder
Gastwirtschaftsaufenthalt bei bezw. vor Begehung der Tat festgestellt
werden. ,
Aus den Zeitungsberichten des Jahres 1903 konnte Schmidt 1 2 )
124 Fälle von Mord bezw. Selbstmord feststellen, die auf unmäßigen
Alkoholgenuß zurlickzuführen waren.
Endlich will ich noch eine kleine Statistik 0. Juliusburgers 3 )
anfuhren, die er aus Berliner Zeitungsberichten in dem Zeitraum vom
2. November 1901 bis 10. Dezember 1902 gewann:
Art des Verbrechens etc. ^ . ,^ er
Trinker
Fahrlässigkeit im Dienst .... 1
Duelle. 1
Majestätsbeleidigung.2
Mord und Selbstmord.2
Widerstand gegen die Staatsgewalt . 3
Grober Unfug.3
Schlägerei mit tödlichem Ausgange . 6
Selbstmord.7
Schlägerei mit Körperverletzungen . 8
Summa 33 Fälle
1) Leppmann, Die Sittlichkeitsverbrecher. Vierteljahrsschrift für gericht¬
liche Medizin und öffentliches Sanitätswesen. 1905 Heft 2 und 3.
2) Schmidt, Ein Beitrag zur Kriminalstatistik. Der Alkoholismus 1904 N. F.
Bd. I p. 42.
3) O. Juliusburger, Zur sozialen Bedeutung der Geisteskrankheiten.
Berlin 1903. Franz Wunder.
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76
VII. Boas
Jüngst hat Öhlert 1 ) im Gegensatz zu Aschaffenburg auf
Grund statistischer Erhebungen ermittelt, daß die Kriminalität der Wein¬
trinker gegenüber der der Schnaps- und Biertrinker weit geringer sei.
Auf die Einwände, die gegen Aschaffenburgs und Öhlerts
Statistiken geltend gemacht sind (Schenk 2 )), will ich hier nicht weiter
eingehen.
Anmerkung bei der Korrektur. Nach Abschluß dieser
Arbeit erschienen eine Reihe von Aufsätzen über unser Thema, die
den Gegenstand in mehr oder weniger erschöpfender Weise behandeln.
Hervorgehoben sei besonders die monographische Darstellung von
Stump und Willenegger 3 ) und die Arbeit Kräpelins. 4 )
Auf Seite 74 Zeile 1 v. o. muß es hinter Ullmann heißen
Schütte 5 ), Hirschfeld 6 ) u. a.
1) Öhlort, Der Wein und die Kriminalität. Monatsschrift für Kriminal¬
psychologie und Strafrechtsreform 1906 Bd. 2 p. 705.
2) Schenk, Alkohol-Statistik Medizinische Reform 1907 No. 32.
3) Stump und Willenegger, Zur Alkoholfrage. Zürich 1907.
4) Gruber und Kräpelin, Wandtafeln zur Alkoholfrage nebst begleitendem
Text München und Berlin 1907.
5) Schütte, Therapeutische Erfahrungen mit „Barta“ bei Neurasthenie
Hysterie, Impotenz. Monatsschrift für Harnkrankheiten und sexuelle Hygiene
1907, Heft 9.
6) Hirschfeld, Der Einfluß des Alkohols auf das Geschlechtsleben. Flug¬
schriften des Deutschen Arbeiter-Abstinentenbundes No. 7. Berlin 1906.
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Meineidig?
Von
Rechtsanwalt Dr. jur. Fritz Böckel, Jena.
In dem Dorfe V. bei Weimar liegen an der einen Seite der Dorf¬
straße das Scbulhaus und, durch den 3,45 Meter breiten Hof des
Schulhauses davon getrennt, das Gehöft des Landwirtes B. Der Ein¬
gang in das Lehrerhaus führt durch den mit einer Bretterwand von
der Dorfstraße abgeschlossenen Hof; im Erdgeschoß sind die Schul¬
räume, im ersten Stock Vorsaal, Stube und Kammer des Lehrers.
Sowohl von der Stube, die auch nach der Dorfstraße zu zwei Fenster
hat, wie vom Vorsaal aus, führen Fenster auf den Hof. Das Gehöft
des B. hat nach dem Schulhofe keine Fenster, sondern das schräge
Dach. In dem Dache jedoch befindet sich ein Glasziegel, auch ist
unweit davon ein Ziegel von 2 l /i Zentimeter Länge ausgebrochen, so-
daß man von dem Boden aus an zwei Stellen in die etwa 4,50 Meter
entfernte Wohnung des Lehrers L. hinüber sehen kann. Gegenüber
dem Schulhause, über die etwa 14 Meter breite Dorfstraße hinweg,
liegt das Gehöft des Landwirts A.; von seinem Hause aus kann man
zu der Stube und Kammer des Lehrerhauses hinübersehen. Neben
A. wohnt der Landwirt H. H.’s Tochter Anna hat schon als Schul¬
mädchen bei dem Lehrer L. Aufwartedienste geleistet und solche
auch, nachdem sie 1903 aus der Schule entlassen war, bis 1. Oktober
1904 weiter verrichtet, indem sie regelmäßig von 5 Uhr morgens an
bis 9 oder 10 Uhr abends im Lehrerhause arbeitete. Kost und
Wohnung erhielt sie jedoch im elterlichen Hause.
L. ist als junger Lehrer etwa 1892 nach V. gekommen; er hat
sich dann etwa 1893 mit einem drei Jahre älteren, vermögenden,
körperlich jedoch höchst unansehnlichen Mädchen verheiratet. Die
Ehe ist kinderlos geblieben.
Seit Jahren schon ging nun in V. ein Gerücht von unsittlichen
Beziehungen zwischen Lehrer L. und Anna H. Dieser Gerüchte
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78
VIII. Buckel
suchten sich L. und der Vater der Anna H. durch Privatklagen zu
erwehren. So verklagte L. eine Dorfbewohnerin Amalie La., ein bei¬
nahe lächerlich häßliches 50 Jahre altes Weib wegen Beleidigung.
Die La. wurde auch vom Schöffengericht mit einer empfindlichen
Gefängnisstrafe belegt; in der Berufungsinstanz aber schlossen die
Parteien einen Vergleich, in dem die La. ihre Äußerungen als un¬
wahr widerrief und die Kosten übernahm. In der Privatklagesache
des Vaters der Anna H. gegen seine Nachbarn, die Eheleute A.,
blieben diese unter Angebot des Wahrheitsbeweises dabei, nicht bloß
von ihrem eigenen Hause aus einen unsittlichen Verkehr zwischen
L. und Anna H. beobachtet zu haben, sondern auch durch den Glas¬
ziegel und den Spalt im Dache des Hauses des B. Landwirt B. und
seine Tochter, die verehelichte Sch., wurden als Zeugen eidlich ver¬
nommen. B. bekundete, er habe von seinem Dachboden aus
1. an einem Sonntag Nachmittag im Juli 1904 gesehen, wie die
Anna H. dem auf dem Sofa liegenden Lehrer an den Beinen herauf¬
gekrabbelt sei und wie der Lehrer sie dann an sich gezogen habe,
2. später einmal beobachtet, wie der Lehrer vor der stehenden
Anna H. gekauert und mit dem Kopf unter ihren Röcken gesteckt .
habe. Die Sch. wollte, ebenfalls vom Dachboden aus, zugesehen
haben, wie der Lehrer vor der auf dem Stuhle sitzenden Anna H.
gekniet und ihr unter die Röcke gegriffen, wie er sie ein anderes
mal auf den Armen nach dem Sofa im Wohnzimmer getragen und
wie er ihr auch einmal auf dem Vorsaal unter die Röcke gegriffen
habe. Trotz dieser beschworenen Aussage wurden A.’s auf Grund
der Erklärung des Lehrers und der Anna H. bestraft. Auf wieder¬
holte umfangreiche Eingaben des Lehrers L. wurde nunmehr gegen
B. und seine Tochter die Voruntersuchung wegen Meineides eröffnet.
Die Angeschuldigten hielten ihre Angaben aufrecht und beriefen
sich auf das Zeugnis ihrer Angehörigen und anderer Dorfbewohner,
die ebenfalls durch den Glasziegel und den Spalt Beobachtungen ge¬
macht hätten. Die Eheleute A. bestätigten mit aller Bestimmtheit die
Beobachtungen der Angeschuldigten. Die 28jährige Ehefrau A. gab
bei mehreren Vernehmungen an, von dem Beobachterposten, aber auch
von ihrem eigenen Hause aus, wiederholt unsittliche Vorgänge zwischen
L. und Anna H. beobachtet zu haben, auch daß die Anna H. abends
beim Fortgehen in Abwesenheit der Frau dem Lehrer die Hand ge¬
reicht habe. Ihr 43jähriger Ehemann bekundete aus eigener Wahr¬
nehmung einen Fall zärtlichen Verkehres zwischen dem Lehrer und
dem Mädchen und weiter, daß ihm seine Ehefrau ihre erwähnten Be¬
obachtungen geschildert habe. Weiter bezeugte die Amalie La. ge-
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Meineidig?
79
sehen zu haben, wie der Lehrer an einem Juni-Abend 1904 der
Anna H. die Hand auf die Schulter gelegt habe. Auch wußte sie
zu berichten, wie sich die Anna H. in Gegenwart des Lehrers so
auffallend ungeniert und unpassend hingestreckt habe, daß sie
„ordentlich erschreckte“. Demgegenüber waren jedoch die Angaben
des Lehrers und der Anna H. derart bestimmt, auch die übrigen
Umstände, insbesondere der Leumund des B., sprachen so sehr gegen
die Angeschuldigten, daß sie der Untersuchungsrichter nach einer
Augenscheinseinnahme mit Zeugenvernehmung in V. in Haft nahm.
Das machte in V. ungeheueres Aufsehen, und alsbald erschienen vor
dem Untersuchungsrichter die Eheleute A. Der Ehemann erklärte:
„Ich habe seit meiner Vernehmung verschiedene Proben mit meinen
Augen angestellt, deren Lider immer eitern, nämlich wiederholt nach
Gegenständen hingesehen, die mir doppelt erschienen sind, und bin
infolgedessen zu der Überzeugung gekommen, daß ich mich bei der
von mir bekundeten Gelegenheit, bei welcher ich, zwischen Ostern
und Pfingsten 1903, in der Kammer des Lehrers diesen mit der
Anna fl. zusammen in verdächtiger Stellung erblickt haben wollte,
offenbar geirrt habe. Diesen Teil meiner Aussage will ich hiermit
zurücknehmen.
Auf Vorhalt, daß er bei seiner Vernehmung auf das Peinlichste
befragt worden sei und seine fraglichen Bekundungen mit der größten
Bestimmtheit, unter ausdrücklichem Ausschluß jeder Verwechselung
gemacht habe: „Ich habe damals so ausgesagt, weil ich noch keine
Proben mit meinen Augen gemacht hatte.“
• •
In amüsanter Übereinstimmung erklärte dann seine Ehefrau:
»Seit meinen Vernehmungen habe ich verschiedenfach Versuche an¬
gestellt, ob ich aus gewissen Entfernungen und unter ähnlichen Um¬
ständen wie den von mir bekundeten auch wirklich ganz genau der¬
artiges sehen könne, wie ich es ausgesagt habe. Da bin ich denn
zu der Überzeugung gekommen, daß ich mich doch bei sämtlichen
von mir bekundeten Vorgängen getäuscht und aufgepauscht haben
kann, die in Wirklichkeit vielleicht ganz harmlos waren, daß mir
auch Personenverwechselungen unterlaufen sein können. Ich kann
also meine früheren Aussagen nicht so aufrecht erhalten, wie ich sie
gemacht habe.“ Auf Vorhalt, daß sie s. Zt. auf das Peinlichste be¬
fragt und auf die Tragweite ihrer Aussage hingewiesen worden sei,
aber stets mit Bestimmtheit die Zuverlässigkeit ihrer Bekundungen
behauptet habe: „Das kann ich nicht leugnen; ich war eben s. Zt.
ganz befangen dadurch, daß mir die Angeschuldigte Sch. stets von
Unzüchtigkeiten des Lehrers mit der Anna H. und davon, daß sie
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80
VIII. Böckel
solches selbst gesehen habe, erzählt, mich zu eigener Beobachtung
aufgefordert und hierbei gewisse Dinge als ganz deutlich von ihr ge¬
sehen hingestellt batte. Ich bildete mir daraufhin selber ein, diese
Dinge ebenfalls zu sehen.“ Auf Vorhalt, daß sie doch aber auch
selbständige Dinge bekundet habe: „Auch insoweit habe ich mich
beirren lassen und zwar dadurch, daß mir die Sch. gleichartige Vor¬
gänge als von ihr gesehen erzählt hatte, weshalb ich bei allen meinen
Beobachtungen durch die Brille der Angeschuldigten sah.“
Auf Grund der Ergebnisse der Voruntersuchung wurden nun B. und
die Sch. angeklagt, ihre erwähnten zeugenschaftlichen Bekundungen
wissentlich falsch angegeben zu haben. Aus der Schilderung der
Ergebnisse der Voruntersuchung in der Anklageschrift ist folgendes
herauszuheben:
„Der Lehrer L. sowohl wie auch die Anna H. bezeugen
auf das Bestimmteste, daß zwischen ihnen niemals das Geringste
vorgekommen ist, was gegen die guten Sitten verstößt. Ebenso¬
wenig haben die Ehefrau L. und die Eltern der H. jemals etwas
wahrgenommen, was auf einen unsittlichen oder unschicklichen Ver¬
kehr der Beiden auch nur im Entferntesten habe schließen lassen.
Im Gegenteil kann dem L. bezeugt werden, daß er sich in sittlicher
Hinsicht des besten Rufes erfreut und auch der H. ist nichts nach¬
zusagen. Schon diese Umstände sind zur Überführung der Ange¬
schuldigten hinreichend, zumal wenn man ihre bis aufs Äußerste ge¬
steigerte Bosheit gegen L. in Betracht zieht Die Untersuchung hat
aber noch andere schwerwiegende Belastungspunkte ergeben. Zwar
bestätigt die Ehefrau B. die Angaben des Angeschuldigten und be¬
zeugt insbesondere den Vorgang, der sich nach der Sch. Behauptung
am 10. Juli 1904 nachmittags gegen Uhr zugetragen haben soll,
auch hinsichtlich dieser Zeitangabe. Der Parkarbeiter Karl C. hat
aber an diesem Tage den L. nach 1 Uhr und vor ’/23 Uhr nachmittags
nach Buchfart zu gehen sehen, wo L. in der Tat auch nicht später
als um 3 Uhr im Gasthof „zum Stern“ gewesen ist. Sonach wird
die Unrichtigkeit der einzigen noch nachzuprüfenden Zeitangabe der
Angeschuldigten unmittelbar nachgewiesen.
Die Amalie La. will eines Abends im Juni 1904 vor ihrem
Hause gestanden und von dort gesehen haben, wie die H. in der
Wohnstube der Lehrerwohnung gestanden hat und plötzlich L. von
hinten auf sie zugegangen ist und ihr die Hand auf die linke Achsel
gelegt hat. Sie hat sich mit Max C. sowie Lene und Berta D.
gleich über dieses Auffällige des Vorganges unterhalten, wie sie
bekundet.
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Meineidig?
81
Muß schon die Tatsache, daß sie im Sommer 1904 auf das Zeug¬
nis des L. hin wegen Beleidigung der Großmutter der Anna H. vom
Schöffengericht Weimar zu einer Geldstrafe von 25 Mark verurteilt
worden ist, Bedenken gegen ihre Unbefangenheit erwecken, so be¬
weisen die damals mit ihr zusammengewesenen drei Zeugen über¬
einstimmend, daß sie auf die Behauptung der La. hin, „der Lehrer
habe die Anna H. am Kopfe“, zwar auch den Vorgang in der Lehrer¬
wohnung beobachtet, aber alle drei die Anna H. nicht haben ent¬
decken können, sodaß sie gleich der Überzeugung waren, die La.
stelle nur aus Gehässigkeit diese unwahre Behauptung auf. In
der Tat war Anna H. an jenem Abend zu Hause, wie ihr Vater
bezeugt.
Weiter haben auch Anna A. und Karl A. zunächst auf das
Allerbestimmteste die Angaben der Angeschuldigten bestätigt, indem
sie mehrere Ereignisse bezeugt haben, bei denen es nach ihrer eigenen
Wahrnehmung zu Unsittlichkeiten zwischen L. und der H. gekommen
sein soll. Sie haben jedoch in der auffälligsten Weise später ihre
Aussagen widerrufen und geben zu, daß sie keine ihrer früheren
Bekundungen aufrecht erhalten können, vielmehr ihre falschen An¬
gaben, durch die ständige Beeinflussung der Sch. und die Unsicher¬
heit ihrer Augen in Irrtümer versetzt, getan hätten. Daß die letztere
Aussage durchaus haltlos ist, bedarf keiner Darlegung.
Der Anna A. ist überdies noch anderweit nachzuweisen, daß sie
bewußt die Unwahrheit gesagt hat Sie hat zweimal versichert, daß
sie am 29. August 1904 vormittags gegen 9 Uhr gesehen
habe, wie die H. in der Lehrerwobnung sich selbst in unsittlicher
Weise betastet habe.
An diesem Morgen ist aber die H. von 7 bis nach 11 Uhr un¬
unterbrochen in der Hofraite ihrer Eltern gewesen.“ —
Die erste dreitägige Verhandlung vor dem Schwurgericht (Mai
1905, in der die Eheleute A. bei dem Widerruf ihrer ersten Aussage
stehen blieben i führte nach Vernehmung von 34 Zeugen zur Ver¬
urteilung beider Angeklagten wegen fahrlässigen Falscheides nach
§ 163 Str. G. B.
Die Verurteilten legten nunmehr durch andere Verteidiger Re¬
vision ein. Das Rechtsmittel führte zur teilweisen Aufhebung des
Urteils wegen Verletzung der Vorschriften über die Öffentlichkeit des
Verfahrens und zur Zurückverweisung zwecks anderweiter Verhand¬
lung über die Anklage wegen Meineids, nicht bloß wegen fahrlässigen
Falscheides, (vergleiche meine Mitteilung und Kritik der Begründung
in der „Zeitschrift für Rechtspflege in Bayern“ 1906 S. 43$ f.).
Archiv für Kriminalanthropolofrie. 29. Bd. 6
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VIII. Böckel
Die neue Schwurgerichtsverhandlung (Juni 1906) verlief zunächst
wieder in den Geleisen der früheren. Die Eheleute A. erklärten
wieder, ihre Sinne hätten sie getäuscht, die Angeklagten hätten ihnen
solange eingeredet, daß sie derartige Dinge gesehen, bis sie selbst
geglaubt hätten, solches wahrzunehmen. Sie blieben dabei, trotzdem
festgestellt wurde, daß sie früher anderen Zeugen die geschilderten
Vorgänge als von ihnen beobachtet erzählt und auch andere in ihr
Haus geführt hatten mit genauen Angaben darüber, von welcher
Stelle aus und was sie im Lehrerhaus beobachtet hätten. Lehrer L.
und Anna H. bestritten jedweden, über den rein dienstherrlichen
hinausgehenden, noch so unverfänglichen Verkehr miteinander, ins¬
besondere auch, deß die Anna H. jemals eine bewußte Ungeniertheit,
wie die von der Amalie La. bekundete, sich erlaubt habe, ja sogar
auch, daß die Anna H. im Laufe der Jahre, die sie bei dem Lehrer
in Stellung gewesen sei, ihm jemals die Hand gereicht habe. Die
Aussagen beider Zeugen waren durchaus klar und entschieden, die des
Lehrers dazu von einer feindseligen Schroffheit.
Während der Voruntersuchung hatte L. selbst die Möglichkeit
eröffnet, die angeblichen Beobachtungen der Angeschuldigten als
einer irrtümlichen Auffassung unverfänglicher Vorgänge entsprungen
aufzuklären. Das angebliche Handreichen .sei vielleicht ein Aus¬
zahlen des Lohnes oder [von Geld zu Besorgungen gewesen. Daß
er der Anna H. die Hand auf die Schulter gelegt habe, habe viel¬
leicht so geschienen, wenn er der Anna H., die für ihn schriftliche
Arbeiten gemacht habe, über die Schulter gesehen und dabei die
Hand auf die Stuhllehne gestützt habe. Nicht die recht schwere
Anna H. habe er einmal nach dem Sopha getragen, wohl habe er
seine kleine und schwächliche Frau einige Male beim Hanteln im Scherz
als Kraftübung mit dem einen Arm vom Boden hochgehoben und
so nach dem Sopha getragen. Vielleicht habe er auch einmal,
während die Anna H. an seinem Schreibtische am Fenster saß, ein
unten an der Seite befindliches Schreibtischfach geöffnet; daraus
hätten dann die Beobachter drüben (zur Seite) sich eingebildet, er
greife dem Mädchen unter die Röcke. Die Behauptung des B., daß
L. einmal mit dem Kopfe unter den Röcken der H. gesteckt und
dann eine rote Dose hervorgebracht habe, erkläre sich vielleicht da¬
hin: Er trage im Sommer rote Schuhe, die er Belbst mit einem durch
die Glasdose schimmernden roten Creme einreibe, vielleicht habe er sich
nun einmal in Gegenwart der Anna H., gebückt oder kniend, seine
Schuhe mit diesem roten Creme eingerieben. Diese Aufklärungs¬
versuche wollte nun L. auf Befragen der Verteidigung nicht mehr
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Meineidig?
83
zugeben mit der Begründung, daß er früher von den Angeschuldigten
eine bessere Meinung gehabt habe als jetzt. Auf die Frage, ob er
etwa in der Stube oder auf dem Vorsaal seiner Frau gegenüber
Intimitäten vorgenommen habe, verweigerte er das Zeugnis; das Ge¬
richt erklärte die Frage für unerheblich!
Am zweiten Verbandlungstage wurde u. a. die Ehefrau des L.
vernommen. Sie sagte aus, daß sie niemals etwas Verdächtiges wahr-
genommen habe, denn sonst würde sie das Mädchen entlassen haben.
Wie die Zeugin, die auf beiden Augen zu schielen scheint, in ihrem
Schwarzseidenen auftrat, war der Eindruck ein allgemeiner, dem
beim Mittagessen ein paar Geschworene dahin Ausdruck liehen: im bis¬
herigen Verlaufe des Prozesses sei das Ungünstigste für den Lehrer
und die Anna H. die körperliche Erscheinung der Frau Lehrer.
Dazu bemerkte ein anderer Geschworener: er kenne die Frau Kantor
schon seit ihrer Mädchenzeit, .sie habe jedoch vor 20 Jahren schon
ebenso ausgesehen wie jetzt!
Die Zeugin Amalie La. hielt ihre früheren Aussagen aufrecht,
während die anderen Zeugen, die sie auf den verfänglichen Vorgang
aufmerksam gemacht hatte, dabei blieben, daß sie nichts gesehen
hätten. Als ein neuer Zeuge bekundete der 62jährige Landwirt R.
zu dem viel erörterten 10. Juli 1904, daß er an diesem Sonntag
mittag 1 Uhr beim Lehrer die Steuern bezahlt und beim Eintreten
den L. und die Anna H. „ganz intim“ zusammen auf einer Bank
sitzend getroffen habe; die ihm verschwägerte Zeugin C. dagegen
behauptete, daß R. die Steuern erst 14 Tage später bezahlt habe.
Nachdem die 31 Zeugen vernommen waren, erklärte die Ver¬
teidigung, noch eine Frage dem Lehrer und der Anna H. vorlegen
zu wollen. Nach Abtreten der Anna H. wurde nun L. befragt, ob
er mit der Anna H., nachdem sie die Stellung bei ihm aufgegeben
hatte und in Weimar in Dienst getreten war, noch brieflich oder
persönlich verkehrt habe. Darauf verweigerte der Zeuge zum all¬
gemeinen Erstaunen die Antwort. Bei der Weigerung beharrte er.
Nunmehr teilte der Verteidiger mit, daß ihm am Abend des ersten
Sitzungstages durch die Post ein Brief zugegangen war, in dem sich
ohne jedes Begleitschreiben und ohne Bezeichnung des Absenders
drei Briefe der Anna H. an den Lehrer befunden hatten* Die drei
Briefe, deren jeder 4 Seiten füllte (bei zweien war noch an die Seite
geschrieben), wurden unter höchster Spannung verlesen. Dabei ent¬
schlüpfte dem Lehrer die Bemerkung, die Briefe seien mit einer ver¬
blüffenden Kenntnis der internsten Vorgänge seines Hauses geschrieben.
Auf Vorlegen bestritt L., die Briefe erhalten zu haben; sie seien Fal¬
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VIII. Buckel
schlingen. Er bedaure jetzt, seine Antwort verweigert zu haben: die
Anna H. habe ihm allerdings einmal geschrieben, ihn jedoch nur um
eine Auskunft beim Aufsuchen einer neuen Stellung gebeten. „Seit¬
dem das Mädchen in Weimar ist, hat man mich fortwährend um¬
lauert und beobachtet. Meine Frau hat mindestens 5—6 anonyme
Briefe bekommen. Einen habe ich versehentlich geöffnet, ihr aber
nicht gegeben, es handelte sich um eine Bestellung der Anna H. Anna H.
bat von mir Auskunft über manches verlangt, ich habe ihr solche
stets gegeben. Die jetzige Stellung in Erfurt habe ich der H. mit
Wissen und Willen meiner Frau verschafft; man wird mir deshalb
keinen Strick drehen können, wenn ich einem Schulmädchen von
mir, das meinem Haushalt so nahe gestanden hat, eine Stelle ver¬
schaffe.“
Danach wurde die Anna H. hereingerufen und befragt, ob sie
mit L. nach dem Ausscheiden aus ihrer Stellung noch brieflich oder
persönlich verkehrt habe. Die Zeugin verneinte das kurzweg, auch
als ihr die Frage mit Nachdruck wiederholt wurde.
Präsident: „Haben Sie ihm denn nie geschrieben, als Sie in
Weimar in Stellung waren? Keine Briefe von ihm bekommen?“
Zeugin: „Nein, nie!“
Präsident: „Haben Sie nicht einmal an ihn geschrieben, um
wegen einer Stellung Auskunft zu erbitten?“
Zeugin: „Nein, nie!“
Während von allen Seiten Befremden laut wurde, fügte sie hin¬
zu: „Ich habe ja den Lehrer manchmal in Weimar getroffen. Da
haben wir miteinander gesprochen.“ Auf Vorhalt der drei Briefe
erklärte sie mit großer Festigkeit, Erstaunen und Unwillen im Tone:
„Diese Briefe habe ich nicht geschrieben. Auch in Erfurt sind
wieder anonyme Briefe an mich gekommen. Ich muß auf Ehre
sagen, ich habe diese Briefe nicht geschrieben, ich nehme dies getrost
auf meinen Eid.“
Dabei blieb sie trotz des Zuredens, daß sie ruhig zugeben könne,
die Briefe geschrieben zu haben. Da auch der Vater der Anna H.
behauptete, die Handschrift der Briefe sei nicht die seiner Tochter,
so ließ das Gericht die Zeugin sofort während einer Unterbrechung
der Verhandlung nach Diktat aus den Briefen Schriftproben anfertigen.
Bei Wiedereintritt in die Verhandlung wurden die Schriftproben der
Anna H. vorgelegt. Die Schrift war, vor allem der Höhe nach, eine
wesentlich andere als in den drei Briefen. Nur die Unterschrift, die
ja freilich auch unter einem Protokoll der Gerichtsakten zu sehen
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Meineidig?
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war, zeigte eine überraschende Ähnlichkeit. Interessant war es,
während das Gericht nun beriet, ob die Briefe und Schriftproben
einem Sachverständigen zu übersenden seien, die Geschworenen, unter
denen sich mehrere Fabrikanten befanden, zu [hören. Sie meinten,
sie brauchten keinen Schreibsachverständigen; sie seien als Kaufleute
sachverständig genug, und hier könne jeder auf den ersten Blick
sehen, daß die Anna H. die Schreiberin der Briefe nicht sei!
Das Gericht beschloß, die Verhandlung auf drei Tage zu unter¬
brechen, um einen Schreibsachverständigen zu hören. Die Angeklagten
wurden unter Ablehnung ihrer Bitte, sie nach Hause zu entlassen,
wo die Feldarbeit ihre Anwesenheit dringend nötig mache, während
der Unterbrechung im Untersuchungsgefängnis „in Gewahrsam ge¬
halten“ : „mit Rücksicht darauf, daß offenbar auf Zeugen und den
Gang der Verhandlung durch alle Mittel (siehe anonyme Briefe)
eingewirkt werde, weshalb dies seitens der Angeklagten verhindert
werden soll.“
Am 3. Verhandlungstage bekundete zunächst der auf Antrag der
Verteidigung noch nachträglich geladene Ortspfarrer von V., daß das
Dorf V. in zwei Parteien gespalten sei, daß viele Leute der Kirche
fern geblieben seien, so lange der Lehrer, der in so bösem Gerede
stand, Organistendienste verrichtet habe, daß sich der Kirchenbesuch
aber, seitdem L. von V. wegversetzt worden sei, auf fast das Doppelte
gehoben habe. „Beschwerden gegen denselben sind vorgekommen,
hauptsächlich wegen liebloser Behandlung der Kinder. Etwas war
immer an den Beschwerden, besonders wurde immer der unan¬
genehme Ton seitens des Schulinspektors gerügt. Ich habe den Eindruck,
daß L. eine unglückliche Ehe führt. Ich bin während der 13 Jahre
immer ab und zu in seinem Hause gewesen und habe dabei gehört,
daß L. seiner Frau immer etwas zurief in einem Tone, der Un¬
zufriedenheit ausdrückte, sodaß ich die Frau bedauert habe. Sicher
ist, daß in V. die Angst der Leute seit einiger Zeit ganz schrecklich
ist und niemand sich getraut, etwas zu sagen.' Das empfinde ich
als Pfarrer sehr. Ich habe den Eindruck, sie fürchten den Lehrer
L., wenn sie ein Unrechtes Wort sprechen und dann unangenehmes
erleben, denn der droht immer mit Klagen und hat solche auch er¬
hoben. —“
Diese Aussage führte zu scharfen persönlichen Vorwürfen des
Lehrers gegen den Pfarrer, die dieser unter Darstellung des Sach¬
verhalts zurückwies. Danach gab der Grapholog I^ingenbruch aus
Berlin sein eingehend begründetes Gutachten überzeugend dahin ab,
daß, wer die Schriftproben vor Gericht gefertigt habe, zweifellos auch
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86
VIII. Bocket.
die drei Briefe geschrieben habe. Die Handschrift in den gericht¬
lichen Schriftproben sei, wie der Zeuge im einzelnen, insbesondere
an den Korrekturen, nachwies, verstellt Diese Bekundungen des
Sachverständigen riefen große Bewegung hervor. Trotzdem blieb
die Anna H. dabei, die Briefe nicht geschrieben, und L., sie nicht
empfangen zu haben.
Dazu überreichte die Verteidigung nun noch ein Notenblatt mit
Text nnd einen umfangreichen Brief an den Ortspfarrer. Beide Schrift¬
stücke erkannte Anna H. als von ihr geschrieben an. Sie erwiesen
aber unwiderleglich, daß Anna H. auch jene drei Briefe geschrieben
hatte; denn die Schrift war ganz die gleiche und der eine Brief zum
Überfluß auch noch mit derselben auffallenden blauen Tinte ge¬
schrieben, wie der Brief an den Pfarrer. Und immer noch leugnete
die Anna H., die Briefe geschrieben, der Lehrer, sie erhalten zu haben.
Der Vorsitzende tat der Anna H. erneut ernstlichen Vorhalt und
verlas dabei einen ihm erst am Abend zuvor eingeschrieben zu-
gegangenen Brief der Frau Oberförster Schm., der früheren Dienst¬
herrin der Anna H. in Weimar. Frau Schm, schrieb darin: An¬
gesichts des Zeitungsberichtes, daß der Lehrer wie die Anna H. unter
ihrem Eide jeden Verkehr in Weimar in Abrede genommen hätten,
halte sie es für ihre Gewissenspflicht, dem Gerichte mitzuteilen, daß
die beiden, als die Anna H. bei ihr in Dienst war, in regem persön¬
lichen und schriftlichen Verkehr gestanden hätten. Und dennoch
bestritt der Lehrer weiter den behaupteten Verkehr, und die Anna
H. erklärte hochfahrend und höhnisch: „Nun, die Frau Oberförster,
die werde ich schon noch zur Rechenschaft ziehen!“
Präsident: „Dazu werden Sie noch heute Gelegenheit haben.
Ich habe die Dame sofort laden lassen. In einer halben Stunde
wird sie hier sein.“
Die Verhandlung wurde bis zur Ankunft der Zeugin Schm,
unterbrochen. In der Pause machten Leute, die von V. mitgekommen
waren, den im Schwurgerichtssaale stationierten Gendarmen, auch
Verteidiger und Geschworene, darauf aufmerksam, daß der Lehrer L.
einen scharf geladenen Revolver bei sich habe und sicher Böses im
Schilde führe. Bei Wiedereröffnung der Verhandlung teilte das ein
Geschworener dem Präsidenten mit, der den Zeugen L. vorrief. In
der Tat trug L. einen scharf geladenen Revolver in seiner Tasche.
Den mußte er nun an den Präsidenten ausliefern.
Die 56jährige Zeugin Schm., die einen vorzüglichen Eindruck
machte, bestätigte alsdann den Inhalt ihres Briefes: Sie wisse ganz
genau, daß der Lehrer und die Anna H. sich häufig getroffen hätten
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Meineidig?
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das Mädchen habe sich von ihr gerade zu diesem Zwecke Urlaub
geben lassen; sie habe der Anna H. sogar deshalb Vorhalt getan.
Sie wisse ferner, daß der Lehrer dem Mädchen sehr häufig ge-
schrieben habe; denn die Briefe seien durch ihre Hand gegangen
und sie hätte die Handschrift des Lehrers L. von einem Briefe her
gekannt, den sie selbst von ihm empfangen habe. Die Anna H. habe
für den Lehrer Vorträge abgeschrieben und ihr gelegentlich erzählt,
L. hätte ihr 25 Briefumschläge gegeben, auf die er selbst seine Adresse
geschrieben habe, damit man in V. nicht an der Handschrift der
Anna H. erkenne, daß sie mit ihm in brieflichem Verkehr stehe.
Anna H. erklärte die Angaben der Zeugin rundweg für unwahr,
auch hinsichtlich der Briefumschläge, während L. zugab, dem Mäd¬
chen ein paar lange Briefumschläge mit seiner Adresse gegeben zu
haben, damit sie ihm darin die abgeschriebenen Vorträge zuschickte.
Die weitere Vernehmung der Zeugin ergab auch, daß nur die Anna
H. jene drei Briefe geschrieben haben konnte. So wiesen ver¬
schiedene Angaben der Briefe daraufhin, daß der Schreiber zum
Hausstande der Frau Oberförster gehörte. Vor allem war in einem
der drei Briefe L. für den nächsten Donnerstag zu der Absenderin
bestellt worden mit der Bemerkung, daß an diesem Tage der Besuch
abreisen werde. Es ließ sich nun feststellen, daß der Besuch der
Frau Schm, ursprünglich an jenem Donnerstag hatte abreisen wollen,
daß davon aber schwerlich jemand, der nicht zum Hause gehörte,
hatte Kenntnis erlangen können.
Während dieser Vernehmung wurde der Verteidigung ein soeben
mit der Post eingetroffener Brief überreicht. Wieder ein anonymer.
In wenigen mit Bleistift geschriebenen Zeilen wurde mitgeteilt, der
Lehrer habe die Anna H. am zweiten Verhandlungstage nach Erfurt,
wo sie in Stellung war, gebracht und sie genau instruiert, was sie
in der weiteren Verhandlung aussagen solle. Die Handschrift dieses
Briefes zeigte eine große Verschiedenheit von den bisher vorgelegten
Schriftproben. Als der Brief verlesen wurde, brach die Anna H. in
die Worte aus, in denen sich Entrüstung, Triumph und Hohn
mischten: „Das ist aber doch zu stark! Da sieht man wieder, was
die für Lügen fabrizieren!“ usw. Lehrer L. aber trat vor und er¬
klärte triumphierend und mit höchstem Nachdruck: „Jetzt können
wir einmal die Lügen nacbweisen. Ich kann am Mittwoch Stunde
für Stunde durch Zeugen beweisen, wo ich gewesen bin und daß ich
überhaupt nicht nach Erfurt gekommen bin!" Gerade diese Äuße¬
rungen aber legten den Gedanken nahe, daß der neue anonyme Brief
gefertigt worden sei, damit er widerlegt und damit auch die frühere
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VIII. Böckel
anonyme Zusendung diskreditiert werde. Der neue Brief wurde dem
Sachverständigen vorgelegt und die Verhandlung wieder auf kurze
Zeit unterbrochen. Dann gab der Sachverständige sein Urteil dahin
ab: Gr könne zwar schon mit Rücksicht auf die Kürze der Zeit,
die ihm zur Prüfung zur Verfügung gestanden habe, nicht mit der
zweifelsfreien Bestimmtheit wie bei der ersten Prüfung sein Gutachten
abgeben, doch erbrächten verschiedene Umstände eine hohe Wahr¬
scheinlichkeit dafür, daß die Anna H. auch ;den anonymen Bleistift-
Brief verfaßt habe. Danach wurde die Beweisaufnahme geschlossen.
Interessant war an diesem hochdramatischen dritten Verhand¬
lungstage noch, wie sich mit dem ersten Gutachten des Sachver¬
ständigen auf einen Schlag die Rollen verschoben. An den beiden
ersten Verhandlungstagen hatten die Angeklagten im Mittelpunkt der
Verhandlung gestanden. Der 70jährige Angeklagte B. war mit er¬
staunlicher Sammlung und Anspannung seiner geistigen und körper¬
lichen Kräfte der Verhandlung gefolgt, beständig eingreifend, be¬
ständig den Zeugen Vorhalt tuend, teilweise mit einer solchen Be¬
stimmtheit und Schärfe, daß der Vorsitzende ihn einmal hart anließ
mit dem Bemerken, er und nicht der Angeklagte habe die Verhand¬
lung zu leiten. Jetzt aber waren L. und die Anna H. die Ange¬
klagten geworden, deren Existenz auf dem Spiele stand. Die An¬
geklagten B. und Sch. beteiligten sich kaum noch an der Verhand¬
lung. Dazu noch der von der Unschuld seiner Tochter überzeugte
Vater H. mit seinen erregten Beweisanträgen!
In den Schlußplaidoyers malte der Staatsanwalt zunächst die
Angeklagten und ihr Verhalten zu dem Lehrer in den grellsten
Farben, dann aber schwenkte er ab: angesichts des Ergebnisses
des letzten Verhandlungstages müsse er zu einem non liquet und
damit zu dem Anträge kommen, die Schuldfragen zu verneinen. Das
taten denn auch die Geschworenen.
Auf den Antrag der Verteidigung, den Angeklagten für die er¬
littene Untersuchungshaft eine Entschädigung zuzubilligen, wurde — ein
neuer Beleg für die schou wiederholt gerügte, dem allgemeinen
Rechtsgefühl widerstreitende Anwendung des Gesetzes vom 14. Juli 1904
— den rechtskräftig Freigesprochenen zwei Wochen später der Be¬
schluß des Schwurgerichts zugestellt, daß der Antrag abgelehnt
worden sei, „da das Verfahren weder die Unschuld der Angeklagten
ergeben, noch dargetan hat, daß gegen sie ein begründeter Verdacht
nicht vorliege."
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Kleinere Mitteilungen.
Von Hans Groß.
1 .
Über Zeugenaussagen Leichttrunkener. Von Hans Groß.
Die Universität Graz hat einen alten, vielbewährten, braven Diener, der
sich als Korporal des steierischen Infanterie-Regiments in der Schlacht bei
Königgrätz die silberne Tapferkeitsmedaille verdient hat; nennen wir
ihn M. Als ich nun am 3. Juli 1906, dem 40. Gedenktage jener
Schlacht, morgens, dem alten Manne, meinem Regimentskameraden, auf den
Gängen der Universität begegnete, beglückwünschte ich ihn zum Erinne¬
rungstage und fragte, ob ihm denn damals nichts geschehen sei; er sagte
wörtlich: „Gott Lob und Dank, so arg es damals auch zugegangen ist,
geschehen ist mir nicht das Mindeste.“ Am selben Nachmittag hatten
wir von 3 bis gegen 8 Examina, und M. hatte sogenannten „Türdienst“.
Beim Kommen, um 3 Uhr, bemerkte ich, daß er seine 4 0jährige Erinnerung
etwas befeuchtet haben mußte und wiederholte zur Probe gerade dieselben
Worte, die ich am Morgen zu ihm gesagt hatte. „Eigentlich ist mir nichts
Rechtes geschehen,“ sagte der alte Krieger, „aber eine Kugel ist mir quer
durch den Tornister gegangen und hat mich ein wenig gestreift; das hat
höllisch gebrannt.“
Nach den Prüfungen, also um 8 Uhr, bemerkte ich, daß M. entweder
noch einen Schoppen hatte nachfolgen lassen, oder daß die Mittagsration
erst recht in Wirkung getreten ist. Ich setzte also meine Studien fort und
sagte wieder dasselbe, ohne daß M. die neuerliche Wiederholung wahrnahm,
und als ich meiner Freude darüber Ausdruck verlieh, daß ihm nichts
geschehen ist, sagte er etwas weinerlich: „So, nichts geschehen ? da — hier¬
bei zeigte er mitten auf die Brust, — hat der verdammte Preuß herein¬
geschossen, und da, fest neben dem Rückgrat, ist die Kugel hinausgeflogen.
Geheilt haben sie mich, aber alle Tage habe ich fürchterliche Schmerzen
seit 40 Jahren, aber ich leide sie gerne für Kaiser und Vaterland.“ Vor
Rührung rannen ihm dicke Tränen über die Backen. Dann erinnerte er mich
gewohntermaßen an meine morgigen Examina, 'nannte richtig Stunde
und Namen der Kandidaten, kurz seine Benommenheit war kaum für den
merkbar, der ihn gut und seit langem kannte. —
Die Erklärung des Sachverhaltes ist sehr einfach. Die Wirkung,
gelinder Alkoholintoxikationen ist bei verschiedenen Menschen bekanntlich
auch verschiedqji: Der eine wird fröhlich, der zweite rauflustig; der dritte
bekommt eine versöhnliche, Millionen umarmen-wollende Stimmung, der
vierte wird stumm und der fünfte bedauert und beweint sich selbst wegen
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Kleinere Mitteilungen.
wirklichen oder eingebildeten Unglückes. Dieser letzte, unter dem Namen
des „besoffenen Elends“ vielbekannte Zustand scheint bei unserem M. ein¬
getreten zu sein. Er hat etwas getrunken, verträgt mit seinen Jahren nicht
mehr viel und hatte offenbar die 5 Stunden, die er vor der Türe des Prüfungs¬
saales sitzen mußte, dazu benutzt, um die Erinnerungen des 3. Juli 1866
wachzurufen. Hierbei stellte er sich vor, in welch’ gefährlicher Lage er damals
war, wie viele Kameraden gefallen sind, wie leicht auch ihn eine Kugel hätte
treffen können, wie es gewesen wäre, wenn er verwundet worden wäre, was er
dann hätte leiden müssen und welche Schmerzen ihm vielleicht auf Lebens¬
zeit entstanden wären. Das hat er sich dann immer kräftiger vorgestellt,
vielleicht ist er auch vorübergehend auf seinem Sessel eingeschlummert und
schließlich floß Wahrheit und Phantasie zusammen und er glaubte wirklich,
was er mir erzählt hat. Vielleicht verwechselte er auch seine Verdienste
die durch die Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet wurden, mit seinen einge¬
bildeten Leiden für Kaiser und Vaterland und er legte mehr Wert auf
das nicht Existierende als auf seine wirklichen damaligen Leistungen. —
Ich wiederhole: Die Benommenheit des alten Mannes war sehr gering
und kaum merkbar, bewußt gelogen hat er ganz bestimmt nicht und wenn
er als Zeuge vernommen worden wäre, so hätte er gewiß ebenso unrichtig
ausgesagt, als der Vernehmende an dem ihm sonst fremden Menschen die
Spuren von Rausch sicher nicht entdeckt und ihm daher geglaubt hätte. —
Von Dr. P. Lublinsky in St. Petersburg.
2 .
Die Ermordung eines Antichristen. Der Fanatismus spielt
in der Geschichte der Verbrechen bis jetzt noch eine bedeutende Rolle.
Das Leben führt uns Fälle vor, in denen der Fanatismus nicht nur den
individuellen, sondern auch den kollektiven Verbrechen als Quelle dient, in
gewissen Fällen dient er zur Glaubenswut, die charakteristisch für die Taten
der Menge ist, welche keinen inneren Halt hat.
In dieser Beziehung kann als krasse Erläuterung die Ermordung eines
Kindes durch die fanatische Menge dienen, die im verflossenen Sommer in
einem entfemden Bezirk des Moghilewschen Gouvernements stattfand. Wir
führen unseren Lesern eine ungekünstelte Erzählung vor, die von einem
Augenzeugen, dem Priester J. Ktitarew herstammt. Klar und deutlich
illustriert er den psychischen Zustand der Gesellschaft, auf Grund dessen
solche Tatsachen möglich sind.
Im Horez’schen Bezirk des Moghilewschen Gouvernements befindet
sich das Dorf „Ssisojewo“. Es besteht aus fünfunddreißig Höfen. Die
Häuser sind verhältnismäßig gut gebaut. Jeder Bauer hat sein Vieh und
besitzt einen gut gepflegten Gemüsegarten. Eine Menge Kinder laufen
umher, die alle gnt gekleidet sind; 50 °/o sind des Lesens und Schreibens
kundig. Unter den Ssisojewozern nimmt der Bauer Michael Kolschewsky
eine angesehene Stellung ein. Er ist dreiundzwanzig Jahre alt; schwere
Arbeiten kann er nicht verrichten, da er brustleidend ist. Seine kleinen
braunen Augen blicken sanft, die Züge sind regelmäßig und fein, seine
Bewegungen sind leicht, ruhig, sein Wesen nachdenklich und sanftmütig.
Mit großer Vorliebe liest er religiöse Bücher; oft betet er inbrünstig zu
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Kleinere Mitteilungen.
91
Gott. Nicht selten versammeln sich die Bauern bei ihm und erörtern ver¬
schiedene religiöse Fragen. Bei diesen Zusammenkünften ermahnt Michael
sie, Gott zu fürchten, den Kaiser zu lieben, die Geistlichkeit zu ehren, wobei
er oft niederkniet und betet. Das Hauptthema war aber die politische
Lage Rußlands, dann Mißernten, Feuersbrünste usw. Oft besuchte er die
Romanowsche Kirche, die zwei Werst vom Dorfe entfernt war, und zeigte
nie Neigung einer besonderen Sekte anzugehören. Die Bauern hielten ihn
alle für einen gottesfürchtigen Mann. Er war verheiratet. — In dem nach¬
folgenden Drama erscheint er als Hauptperson.
Der Schauplatz des Vorganges war die Familie eines anderen Bauern,
eines jungen, ehemaligen Soldaten, Emiljan Gorbatschewsky. Dieser war
zwei Jahre verheiratet und lebte mit seinen Eltern. Er besaß einen kleinen
Knaben, der sehr blaß und schwächlich war. Aus Kolschewskys und
Gorbatschewskys Geständnissen geht hervor, daß sie in der Jugend heim¬
lich Selbstbefleckung getrieben hatten, und daß sie beide fürs Eheleben
untauglich waren; wiederholt wandte sich Emiljan an „Zauberer“ und „Flü¬
sterer“, um das „Fleisch zu besprechen“. Trotzdem wurde ihm ein Kind
geboren. Kolschewsky war der festen Überzeugung, daß das Kind vom
Teufel abstammt, umsomehr da er gelesen hatte, daß Antichristen unbedingt
vom befleckten Fleisch und vom bösen Geist geboren werden. Durch diesen
Gedanken wurde er noch mehr bestärkt, als Emiljan’s Frau, Marie, die es
wußte, daß ihr Mann mit Zauberern verkehrt, das Kind gleich nach der
Geburt verflucht hatte. Diesen Umstand hatte Emiljan dem Michael in
freundschaftlichem Gespräch mitgeteilt. Nun kam Kolschewsky zum festen
Entschluß, es zu beseitigen. Die angeborene Neigung zu Mystizismus
erhielt eine bestimmte Form und einen besonderen Inhalt. Um zehn Uhr
abends vom 16. auf den 17. Juli begab sich Kölsch, ins Dorf und lud die
Bauern zu einer großen Versammlung zu sich ein. Unter den Eingeladenen
befanden sich zwei Bauernälteste, die am japanischen Kriege teilgenommen
hatten, außerdem war auch unter ihnen ein ehrwürdiger Greis, der im Jahre
7$ auf dem Kriegsschauplätze gewesen war. Diese Männer genossen
großes Vertrauen beim Volke. Michael ließ die Reste der Lichter vom
Gründonnerstag holen, gebot allen zu beten und sprach laut selbst das
Gebet. Keiner staunte, da es Sitte in seinem Hause war. „Betet, betet
inbrünstig,“ sagte Michael sich zu seinen Freunden wendend. Alle Anwe¬
senden beteten mit großer Begeisterung: „Unseren Kaiser quälen verschie¬
dene Unruhen,“ predigte Michael, „und der „heilige Eutstasig“ schreibt Gedichte,
in denen er von verschiedenen Antichristen redet. Alles Unglück stammt
von ihm.“ Die Zuhörer gerieten in große Furcht und blickten sich scheu
um. „Was wird nun geschehen?“ fragte jemand aus der Menge. „Man
wird ihn vernichten,“ antwortete Kölsch. „Man muß es dem Priester mel¬
den,“ bemerkte wieder jemand. „Nein, wir tuen es eigenhändig,“ sagte
Michael, „dann wird endlich Rußland Ruhe haben.“ Gott hat mir den
Wohnort des Teufels mitgeteilt, der über ein Jahr unser Land peinigt. Vor
Furcht zitternd, Gebete flüsternd, mit angezündeten Kerzen, mit Gottesbil¬
dern und mit dem Evangelium in der Hand, wie es während kirchlichen
Prozessionen geschieht, wandte sich die Menge dem Ausgange zu. Michael,
der früher hinausgetreten war, fragte nervös Emiljan: „Siehst Du Deine
Sünde ein?“ „Verzeih mir, und bete für mich,“ antwortete Gorbaschewsky,
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92
Kleinere Mitteilungen.
„Gott heiliger Geist, erscheine uns! Folget mir, seid tapfer, Brüder, folget
mir I“ Die sonderbare Prozession verließ die Hütte. Zweiundzwanzig
Männer und sieben Frauen, sich beständig bekreuzigend, machten sich
daran, den Teufel zu suchen, mit der Absicht, ihn zu töten, und im Glau¬
ben, den Kaiser und das Vaterland zu retten. Sich Emiljans Hütte nähernd,
rief der Prophet: „Hier befindet sich der Feind der Menschheit, hier ist
der Antichrist. Emiljan öffne die Pforte.“ — In der Wiege lag der bleiche,
magere Knabe und schlief sanft. „Gott, zeige mir Deinen Feind, zeige den
Antichristen und übergib ihn mir, damit ich Deinen Willen erfülle.“ Kölsch,
fiel in die Knie. Die Menge folgt ihm. „Dieser Säugling trägt den bösen
Geist in sich, Emiljan bedenke, Abraham hat seinen einzigen Sohn nicht
verschonet, den Isaak; im Namen des Herrn befehle ich Dir, nimm das
Kind aus der Wiege und übergib es der Mutter; das verfluchte Kind.“
Gorbasch. tat, wie ihm geheißen wurde. „Du Weib, das durch den Ein¬
fluß des Teufels den Satan geboren hat, zeige seine Geburtsstelle, damit
wir ihn dort umbringen.“ Zuerst sträubte sich die Mutter, doch der Mann
hielt sie zurück mit den Worten: „Wir wissen nicht, was mit dem Kinde
ist, wir müssen unsere eigene Seele retten.“ Marie, die von ihrem Manne
beredet wurde, brachte das Kind in die alte Hütte, die in der Nähe stand
und legte es auf den Kücken in den rechten Winkel des Ofen. „Betet,
Brüder, damit Gott uns die Kraft gibt, den Feind zu bekämpfen.“ Alle
beteten inbrünstig um Hilfe. -Drehe das Kind um,“ befahl er. „Betet,
betet“, keuchte er. ,0 Gott, hilf, hilf Deinem Knechte!“ Die Menge erstarrte.
Der „Heilige“, mit brennendem Licht in einer Hand und mit dem Gottes¬
bild in der anderen, den Blick noch oben gewendet, stellte sich auf den
Rücken des Kleinen. Die Menge regte sich. Der „Heilige“ wiederholte
noch zweimal die grausame Tat, dann war das Kind tot. „Betet Brüder“.
Darauf ergriff Michael das Kind am Beinchen, hob es mit begeistertem
Geschrei empor: „Ehre sei Dir, der uns den Weg zum Heil gezeigt hat“.
Marie, die Mutter, stand versteinert da. Einige liefen hinaus. „Nehmet
Brüder diesen Teufel, zerreißen wir ihn!“ Der Vater nahm das Kind an
den Schultern, der Prophet an den Beinen, darauf zerrten und rissen sie es.
„Betet, betet, der Feind ist stark, wir können ihn nicht bekämpfen.“ Auf
Befehl des „Heiligen“ wurde ein Beil gebracht und das Kind in Teile
geteilt. Ein Pferd wurde vorgeführt, an dessen Schwanz man die Leiche
anband, der Prophet bestieg es und betete zu Gott, der sollte ihm den Ort
angeben, wo man das Kind wegwerfen sollte. Die Menge folgte ihm. Alle
mußten sich noch einmal Umsehen und dreimal ausspeien. — Das Pferd
ging die Straße entlang, bis es an einen Graben kam, der mit Wasser
gefüllt war, in diesen warfen sie die Reste des Kindes. Darauf kehrten
sie in die Hütte zurück, wo das Verbrechen vollführt war. Michael ver¬
langte einen Eimer mit Wasser, wusch seinen Genossen die Füße, wie
Christus es getan hatte, und trocknete sie mit dem Saume seines Kleides.
Alles wurde mit Gebet und großer Ehrfurcht vollbracht. Die Menge ver¬
beugte sich vor ihm. „Wir bitten um Vergebung, bete für uns.“ Michael
nahm das Bildnis des Priesters Johann von Kronstadt und alle küßten es. —
Am Morgen sahen die Leute ein, was sie getan hatten; erschöpft und
weinend kehrten sie in ihre Hütten zurück. Die Weiber überhäuften sie
mit Vorwürfen. Bald bildete sich auf der Straße ein großer Haufe, alle
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erzählten, was geschehen war. Der Vater des Kindes begab sich zum
Urjadnik (Amtmann), der mit ihm zum Priester nach Romanowo ging.
Dieser glaubte ihm einfach nicht, da er ihn für trunken hielt und ging
seinen eigenen Geschäften nach. Bald erschien aber die Polizei. Die Reste
des Kindes wurden aufgesucht. Der zweite Priester von Romanowo behauptete,
das Kind wäre sehr feierlich beerdigt worden, das ganze Dorf hat „geheult“.
Einundzwanzig Männer und sieben Frauen wurden arretiert. Wir
trafen Ssoewtzy auf dem Wege von Dubrowno, wohin sie zur Unter¬
suchung berufen waren. „Ich,“ sagt Priester Ktitarew, „war bei ihnen im
Gefängnis, keiner von ihnen trägt die Spuren eines Verbrechers, alle sind
gewöhnliche, friedliche Bauern, die durch das Geschehene selbst sehr erschüt¬
tert sind.“ Ein Weib nähert sich dem Untersuchungsrichter, als er in
„Ssisojew T o“ die Namen der Bauern aufschrieb, und bat ihn, sie auch zu
notieren. „Hast Du denn gemordet?“ „Nein, Herr, ich habe nicht gemor¬
det, ich stand nur mit dem Lichtchen dabei, hoffentlich bekomme ich aber
auch eine Belohnung von den Vorgesetzten Behörden für die Ermordung
eines ,Antichristen 4 .“
Von I)r. H. Svorcik in Reichenberg.
3.
Zum Briefwechsel der Prostituierten und dem Bordell¬
besitzer. Ich habe in dieser Zeitschrift (Band 2 b Seite 202) die brief¬
liche Bitte einer Prostituierten um Aufnahme in ein hiesiges Lupanar zur
Veröffentlichung gebracht; in einer Untersuchung gegen eine Bordellbesitzerin
wegen Verbrechens nach § 93 St.-G. (öffentliche Gewalttätigkeit durch
unbefugte Einschränkung der persönlichen Freiheit eines Menschen) und
§§ 197 200 St.-G. (Betrug), legte die Beschuldigte 2 Briefe vor, durch
welche sie den Beweis erbringen wollte, daß sie die Mädchen liebevoll und
in uneigennütziger Weise behandelt hat.
Ich bringe diese Briefschaften den Lesern des A. zur Kenntnis; vor¬
ausschicken muß ich, daß durch übereinstimmende Zeugenaussagen erwiesen
zu sein scheint, daß die Mädchen von der Beschuldigten in roher Weise
körperlich mißhandelt und zur Strafe in ihren Zimmern eingesperrt wurden,
außerdem wurden sie bei dem Verkaufe der Bordellkostüme, den die
Beschuldigte besorgt hat, sowie beim Verkaufe verschiedener Toilettengegen¬
stände geradezu schamlos übervorteilt, bei der Abrechnung mit der „Madame“
resultierte für sie stets eine neue Schuldenlast, so daß diese Personen außer
der Beherbergung und des Essens (welches bei der Abrechnung stark berück¬
sichtigt wurde),' von der Ausübung ihres Berufes so gut wie keinen materiellen
Vorteil hatten.
Die Briefe haben folgenden Wortlaut:
I
Magdeburg 30./8. 07.
Ihro Wohlgeboren!
Liebe Madam! Ihr liebes Schreiben von gestern dankend erhalten,
wie lieb von Ihnen — Reisegeld hätte ich wohl, doch wenn ich fahren
will — muß ich von demselben meine Miete noch bezalen, außerdem
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Kleinere Mitteilungen.
noch Kleinigkeiten. Da würde das wohl nicht hinreichen mehr, da ich
doch an die 50 Mark in unserem Gelde 26 Gulden von hier bis Reichen¬
berg brauche. Wenn Sie die Güte haben würden, mir Sümchen zu
leihen! Wenn nicht, bitte nochmals um Adressen. Bitte mir sofort zu
teil werden zu lassen, da ich mich mit meinem Gelde nicht lange mehr
halten kann. — Gewiß würde ich mich auch wieder wohl fühlen bei
Ihnen! Es war doch so traulich bei Ihnen! So wie zu Hause. Tausend
Grüße an Sie liebste Madam sowie Herrn Gemahl, Heini u. Marti erge¬
bene Lisi. J.
Ist mir eigentlich recht bange so ganz allein in dieser Großstadt.
Ja wenn es hier ein so gutes Herz gäbe, wie Madam es haben. Wie
freue ich mich, wieder mit Ihnen sprechen zu können. Nochmals
grüßend Lisi.
II
Geehrte Madam
Ihre Karte habe ich erhalten, wenn Sie wüßten, wie ich mich
geärgert habe ich wollte Abends schon wieder zu Ihnen zurück, Sie
waren aber so schlecht und ließen mich unschuldig einsperren wo ich
gar keine Gedanken hatte um am Strich zu gehen, das wahr von Ihnen
nicht schön dabei kam ich noch am Schupp ] ) ich wo ich noch mit
keinem Polizisten zu thun hatte, noch keine halbe Stunde Strafe gehabt,
den dies hatt Ihnen ein jeder für übel gehabt. Wenn Sie würden beim
Rathaus zu mir gekommen und hätten gesagt Elwira kommen Sie zurück,
ich wäre mit Ihnen gegangen und die H. hätte ich gehen lassen wohin
Sie wollte und das hatte nicht sein müssen. Ich aber w r erde alles ver¬
gessen und komme sehr gerne wieder zu ihnen und habe ich kein Reise¬
geld. Sind sie deshalb so gut und schicken Sie mir 10 fl Telegraphisch
und ich komme sofort nach Erhalt dieses Geldes.
Herzlichen Gruß und Kuß
Elwira B.
bin bei den Eltern.
Die Einvernehmungen der Prostituierten ergaben gegenseitige Beschul¬
digungen homosexueller Handlungen, insbesondere wurde die Zeugin T. als
„warme Schwester“ bezeichnet; sie soll an den anderen Kolleginnen
cunnilingum perficere. (Vergl. Krafft Ebing Psychopathia sex. Seite 282
und 430) Bemerkenswert ist, daß die Bezeichnung „warme Schwester“ in
den Augen der von mir gehörten Dirnen als eine große Beleidigung aufgefaßt
wurde; sie weinten bitter, augenscheinlich vor Zorn und Scham, wie ihnen
eine solche Gesinnung zugemutet werden kann.
Von Medizinalrat Dr. P. Näcke.
4.
Merkwürdige Erinnerungstäuschung. VonDr.P.Näcke. Neulich
erst habe ich einen hierher gehörigen Fall erzählt. 2 ) Heute füge ich denn
einen zweiten, noch merkwürdigeren Fall bei. Eine Dame, die ich seit
2) D. h. Schub — zwangsweise Abschaffung.
2) Dies Archiv Bd. XXV, p. 371.
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Jahren kenne, erzählte mir kürzlich folgendes. Sie hat eine Stube zu
vermieten, annonciert sie und es stellt sich zur Besichtigung ein Herr ein,
der sich X. nennt. Der Dame fällt nicht nur der Name sofort auf, sondern
sie erkennt auch den Herrn, den sie vor Jahren in Marienbad kennen ge¬
lernt hat. Sie fragt ihn also, ob er nicht der Herr X. sei, der vor Jahren
6 Wochen lang in Marienbad zur Kur sich aufgehalten hat. Er leugnet
das strikte; er sei überhaupt nie dort gewesen! Auf wessen Seite
liegt nun die Erinnerungstäuschung? Die Dame kenne ich als eine hoch¬
intelligente und gedächtnisstarke Person. Es wäre aber immerhin möglich,
daß sie nach so langer Zeit des Namens X. doch nicht mehr ganz genau
lieh erinnerte, wohl aber der Person, und ihr dann deren Name mit X.
identisch erschienen sei. Oder aber der umgekehrte Fall. Sie hatte sich
genau den Namen X. gemerkt und dazu eine Person, die dem X. nur
ähnlich war. Oder: Name und Person waren nur ähnlich mit der vorge¬
stellten Person, im Gedächtnis aber identifiziert. Daß weder der Name
noch die Person irgend welche Ähnlichkeit mit dem Vorgestellten haben
sollten, ist wohl auszuschließen. Ist es dagegen auf der anderen Seite
wohl denkbar, daß X., wenn er sonst geistig völlig normal ist und speziell
nicht am Gedächtnisse gelitten hat, völlig es vergessen konnte, daß er 6
Wochen lang und dazu noch zur Kur in Marienbad sich aufgehalten hat?
Wer viel gesehen und gereist, wie ich z. B., kann leicht das eine oder
andere vergessen. Ich weiß z. B. öfters nicht, ob ich an diesem oder
jenem Orte einmal gewesen bin oder glaube anderseits einmal eine Stadt
besucht zu haben, wo ich nicht war. Auch ist es mir oft unmöglich zu
bestimmen, wann und wo ich einen Ort sah d. h. auf welcher Tour.
Ebenso ist es mir passiert, daß, als ich nach vielen Jahren eine interessante
Stadt, z. B. Bologna, wiedersah, mir alles so gut wie neu und fremd
erschien. Hier handelt es sich aber immer nur um kurze Eindrücke, die
im Lauf der Zeiten leicht vergessen oder verfälscht etc. werden können.
Aber einen Aufenthalt von 6 Wochen und noch dazu der Kur halber ein¬
fach zu vergessen, das dürfte bei normalem Gedächtnisse wohl kaum Vor¬
kommen und so möchte ich eher glauben, daß die Dame sich irrte, als
der Herr X.
5.
Merkwürdiger Fall von Identitätstäuschung. Von Dr.
P. Näcke. In den „Dresdner Nachrichten“ vom 30. Sept. 1907 liest man
folgendes: „Unter falschem Namen beerdigt wurde kürzlicli in Oschatz
eine Frau, die von der Kleinbahn Oschatz—Mügeln überfahren und ge¬
tötet worden war. Man glaubte, in ihr eine verehelichte Anna Richter zu
erkennen, die früher in Oschatz, jetzt bei Meißen wohnhaft, sich öfters in
der Gegend aufhielt. Da polizeiliche Erkundigungen erfolglos blieben und
die Ähnlichkeit der Verunglückten mit der Frau Anna Richter eine so
große war, daß ein Irrtum ausgeschlossen erschien, wurde die Verstorbene
als Anna Richter beerdigt. Ein stehengebliebener Korb sollte dann auf
eine andere Spur führen. Im Geschäfte des Kaufmanns B. in Oschatz
war, ohne daß diesem davon Mitteilung gemacht, ein Korb eingestellt
worden. Als der Polizei jetzt von dem Ladeninhaber zufällig davon Mit¬
teilung gemacht wurde, ergaben angestellte Ermittlungen, daß der Korb,
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Kleinere Mitteilungen.
in dem sich Wäsche und Kleider befanden, einer Frau Mecus aus Klein
forst gehöre, und die im Beisein von Kindern der Frau Mecus erfolgte
Ausgrabung führte zur Identifizierung der Toten, während Frau Anna
Richter vermutlich noch fröhlich und guter Dinge ist Daß das Ver¬
schwinden der Frau Mecus erst so spät bemerkt ist, lag daran, daß die
Verunglückte ihre Wohnung mit der ihren Kindern mitgeteilten Absicht
verlassen hatte, bei ihrer verheirateten Tochter in Merkwitz beim Kartoffel-
ausnehmen zu helfen. Sie hat dann vorher in Zschöllau noch eine Miet¬
angelegenheit erledigen wollen und ist auf dem Rückwege verunglückt.“
Der Fall ist jedenfalls nicht ohne Interesse und sehr wahrscheinlich in
seiner Art einzig dastehend.
Merkwürdige Gesten eines Idioten. Von Dr. P. Näcke.
Einer unserer Kranken, M., geb. 1887, angeblich nicht belastet, blödsinnig
seit der Geburt und von frühester Zeit an epileptisch, körperlich schwach
entwickelt, nicht bildungsfähig, spricht nicht, grunzt nur und äußert bloß
einzelne, kaum verständliche gestammelte Worte, versteht aber Auf¬
forderungen im allgemeinen und beteiligte sich auch an Holzhacken etc.
Er macht gar keinen so dummen Eindruck und z. B. auf die Frage,
ob er Heimweh habe, nickte er und brachte etwas vor, was offenbar
„Mutter“ bedeuten sollte. Er leidet an cerebraler Kinderlähmung, die
offenbar auch den Geistesrückstand etc. bewirkte. Öfters Verstimmungen
und Widerhaarigkeit; als man ihm letztre einmal vorwarf, wies er auf den
Kopf. Nun passierte in letzter Zeit folgendes: Er hatte von seiner Mutter
ein Paket erwartet; statt dessen kam ein Brief an, was ihn schon ärgerte,
noch mehr aber als er hörte, daß darin stand, seine Schwester amüsiere
sich sehr zu Hause und gehe viel zu Tanze. Er erzählte das dem Arzte,
indem er ihm mimisch das Tanzen vormachte. Seinen Ärger aber bekundete
er dadurch, daß er darauf durch Gesten darstellte, wie sie sich hinlege, koitieren
lasse (durch die bekannte Bewegung mit beiden Händen) und dann gravid
werden würde. Er lachte dazu höhnisch, indem er die bekannte Geste,
das Reiben des rechten Zeigefingers auf dem linken als Ausdruck der
Schadenfreude machte. Dieser Fall ist in mehrfacher Hinsicht lehrreich.
Wir sehen zunächst, daß selbst bei so gut wie mangelnder Sprache der
Verstand noch einigermaßen erhalten sein kann, hier sogar trotzdem seit
Jugend Epilepsie besteht. Auf alle Fälle ist der Kranke trotz allen An¬
scheins nicht zu den tief Blödsinnigen zu rechnen. Er versteht sogar
das Wort „Heimweh“ und bringt seine Schadenfreude drastisch, aber sach¬
gemäß zum Ausdruck. Merkwürdig ist ferner, wie er in den sexuellen
Dingen wohl bewandert zu sein scheint und das wirft ein Licht auf das
Milieu in dem er gelebt hat. Außerdem sehen wir, wie so oft, einen
Unterschied zwischen Intellekt und Sprachentwicklung. Wäre letztere besser
gewesen, so wäre Pat. wenigstens bildungsfähig geworden und hätte sogar
vielleicht ein einfaches Handwerk erlernen können.
i.
Nimmt die menschliche Grausamkeit zu oder ab? Von
Dr. P. Näcke. Wiederholt habe ich die Meinung ausgesprochen, daß
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trotz fortschreitender Kultur es sehr fraglich wäre, ob wirklich der Mensch
besser würde. Es ist allerdings bekannt, daß fast überall die schweren
Verbrechen die Tendenz zeigen abzunehmen, die leichten dagegen zu-
nehmen, so daß zwar die Quantität der Verbrecher-Psyche gleich bleibt,
die Qualität aber eine andere wird, anscheinend eine bessere. Diese
Tatsache unterliegt aber doch verschiedenen Erklärungsweisen und es fragt
sich dann immer noch, ob Zunahme einer niederträchtigen Gesinnung, wie
sie sich in Zunahme von Wucher, Betrug etc. kundgibt, wirklich besser
ist als eine Neigung zu Gewalt, die schließlich lange nicht so sehr schadet.
Wie dem aber auch sei, neu war mir zu lesen, daß hie und da die grau¬
samen Triebe zunehmen sollen. So lese ich in einem Feuilleton der
„Münchner Neuesten Nachrichten“ vom 7. August 11)07 unter der Spitz¬
marke: „Die amerikanische Lynchjustiz nimmt stets grausamere Formen
an“ folgendes. In einem Städtchen des Staates Maryland hatte, so be¬
richten amerikanische Zeitungen, ein Neger einen Polizisten meuchlings
ermordet. Der Mob ergriff ihn und schlug solange mit Stöcken, Fäusten
und Füßen auf ihn los, daß er als formlose Masse tot dalag. Darauf ver¬
scharrte man ihn, um am nächsten Tage ihn auszuscharren, an einen Pfahl
zu hängen und ihn mit Revolverkugeln zu durchlöchern und zu zerfetzen;
schließlich verbrannte man ihn auf einem Holzstoße. Gewiß ist die Tötung
des Negers eine grausame, aber kaum mehr als sonst üblich, ja ich las
noch von ganz andern Grausamkeiten. Neu dagegen war mir die Aus¬
grabung und Schändung des Leichnams. Ich sagte schon früher, daß
gerade im Süden Nordamerikas der Rassenhaß sehr groß ist (man bedenke
nur die neueren Vorkommnisse mit den Japanern in Californien!) und daß
andererseits die blutige und sexuelle Kriminalität der Neger eine größere ist
als die der Weißen. Ich sehe also keine Zunahme der Grausamkeit im
Lynchverfahren und muß folglich eine solche überhaupt bis auf weiteres
in Frage stellen. __
8 .
Kannibalismus während der Kreuzzüge. Von Dr. P. Näcke.
Eins der interessantesten Probleme der Kulturgeschichte bleibt das nach
dem Ursprünge der Menschenfresserei. Soviel ist jetzt sicher, daß derselbe
ein verschiedener ist, verschieden auch nach den Orten und Zeiten. Wir
sind gewöhnt den Kannibalismus bloß bei den Wilden zu suchen und doch
lesen wir auch heute noch nicht selten, daß Europäer unter besonderen
Umständen sich desselben schuldig machen und zwar besonders bei Schiff¬
brüchigen, wenn ein paar Gerettete sich lange im Boote auf der See
herumtreiben und zur Stillung des zehrenden Hungers einen durch das
Los getroffenen Gefährten schlachten und aufessen. Regelmäßig kommen
die Überlebenden in Untersuchung und fast ebenso regelmäßig werden sie
freigesprochen und das, glaube ich, mit Recht, da schließlich die höchste
Not der Selbsterhaltung die Gebote der Humanität brechen kann. Wenig
bekannt ist cs aber wohl, daß auch während der Kreuzzüge kannibalische
Akte vorgenommen wurden und zwar gar nicht so selten. Nach W.
Ireland 1 ) erzählt Anna Comnena, daß als das 1. Kreuzheer unter Peter
1) W. Ireland: On the Psychology of the Crusades. The Journal of Mental
Science, April 1!)07, p. 322 ss. Speziell p. 324.
Archiv für Kriminalanthropulogie. 29. Bd. 7
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Kleinere Mitteilungen.
von Amiens in Kleinasien einbrach, man unter andern Scheußlichkeiten
Säuglinge zerhackte, mit hölzernen Spießen durchbohrte und röstete. Das
kommt wohl allerdings mehr auf Rechnung der Lumpen und Vagabunden,
die dem Heere folgten und ist hier gewiß nur ein Akt scheußlichster
Grausamkeit, glaube ich. Dagegen berichtet der Abt Guibert, daß zu
Zeiten großer Not das Heer gezwungen war, das Fleisch von Sarazenen
zu verzehren. Desgleichen erzählt der Kreuzfahrer Raoul de Caen, daß
man, um den Hunger zu stillen, junge Heiden gekocht, Kinder aufge¬
spießt, geröstet und gegessen habe. Bei einer Belagerung hatte man so¬
gar Leichen von Sarazenen verzehrt, die bereits zwei Wochen in den
Stadtgräben lagen! Und das wiederholte sich vor Antiochia. Sogar
Peter von Amiens soll dazu geraten haben, wie es in alten französischen
Balladen zu lesen ist. Wieder war es aber das mitgezogene Lumpenvolk,
das so den Hunger stillte. Wir hätten also hier den Selbsterhaltungstrieb
als Ursache. Ireland teilt nicht mit, ob auch ein anderes Motiv, ein
abergläubisches, noch mitspielte, das damals sehr en vogue war, sogar
auch noch jetzt in weniger zivilisierten Gegenden, bei Verbrechen etc. in
Anwendung kommt. Ich meine nämlich das Essen gewisser Körperteile,
besonders des Herzens, um damit den Mut und gewisse Charaktereigen¬
schaften (des Feindes meist), welche man sich hier lokalisiert dachte, sich ein¬
zuverleiben. Das könnte bei den Kreuzfahrern wohl hier und da stattgefunden
haben und die Sage vom armen Heinrich legt uns dies ja nahe genug.
9.
Beiträge zur Kundensprache im Königreich Sachsen.
Von Dr. P. Näcke. Es ist bekannt, daß das Rotwelsch der Verbrecher
und Vagabunden nicht nur nach Art, sondern auch nach Zeit Verschieden¬
heiten aufweist, die zu kennen sicher nicht ohne praktisches Interesse ist.
Aber auch ein großes theoretisches, psychologisches und philologisches.
Wenn jede Sprache überhaupt, als ein organisches Wesen, nie in sich ab¬
geschlossen, sondern in steter Entwickelung begriffen ist, so sehen wir dies
noch schneller und prägnanter beim Rotwelsch und die Durchdringung mit
fremden Elementen ist hier eine noch viel reichlichere als dort
In der „Leipziger Zeituug“ vom 13. Juli’1907 lesen wir nun folgende
Beiträge zur Kundensprache, die wir wörtlich hierhersetzen:
„Sächsische Volkswörter. Die Kundensprache liebt besonders
Hauptwörter auf er, wie Blaser = Mütze, Hupper = Floh, Hücker
= Abort, Krietscher = Sänger (vgl. kreischen), Riecher = Nase,
Schmecker = Mund, Fitzer = Haar, Gucker = Brille (vgl. Opern¬
gucker), Funker = Licht (dazu funkern = brennen), Gätzer = Eier (zu
gackern, gatzen), Knacker = einer, der auf der Bank schläft (in der
Kochemsprache = Wald). Solche an deutsche Wortstämmc angeschlossene
Bildungen liebt auch die Volkssprache. Das Rotwelsch dagegen weist
viele aus dem Hebräischen entlehnte Wörter auf, von denen bei uns weit
weniger im allgemeinen Gebrauch sind als in anderen deutschen Mundarten.
Am bekanntesten ist, abgesehen von allgemein verbreiteten Wörtern, wie
pleite, jüd. pleite, plete machen, schofel, aus hebr. schäfäl, niedrig, tief,
gering geachtet, und koscher- von kascher (so schon im Mittelalter) —
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Kleinere Mitteilungen.
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richtig erlaubt — Kaffer — Bauer, vom rabbinischen kaphri — Dorfbe¬
wohner, bäurisch-tölpischer Mensch, während dem Kaff = Dorf, elende
Hütte, hebr. kaphor = Dorf entspricht. Die Meschboke, die wir uns dort
seßhaft denken, ist im jüdischen mischpöche Familie ohne herabsetzende
Bedeutung, während die alte Schickse schon im jüdischen schikzäh Christen¬
mädchen, eigentlich ein Gegenstand des Abscheus ist, da es aus dem hebr.
schekez = Abscheu gebildet wurde. Wenn dieses Wort auch die Be¬
deutung Christenknabe, Bursche hat, so hat sich der Abscheu ganz ver¬
loren in den (Meißen-Lommatzscher) Scheeks oder Schäks = Liebhaber
oder Schatz eines Mädchens, während in Thüringen der Scheeks ein lumpiger
Gesell ist. Dem jüdischen schtüth verdanken wir den Stuß = Spaß,
Posse, Narrheit, sowie das Zeitwort stussen = Unsinn reden; aus der
Gegend von Colditz wird die Wendung Schabasch machen mit jemand
= Unsinn treiben berichtet, die sich allerdings mit dem jüdischen Grund¬
worte für Stuß, schätäch = unsinnig, nicht deckt, vielleicht vermittelt die
um Oschatz gebräuchliche Wendung: Alle vier Wochen macht er emal
Schawiß — er trinkt tagelang ununterbrochen, eine Ableitung von schabbes
= Sabbat. Auch für den Begriff der Trunkenheit hat das Jüdische Bei¬
träge geliefert mit schickern aus schikker und molum aus jüd. mole =
voll, vom hebr. male (mala) füllen, voll sein. Überall in Sachsen wird
auch meschugge = verdreht, aber auch müde, kaput gebraucht, es ent¬
stammt dem hebr. mschugah = Irrtum. Eine seltsame Bedeutungsent¬
wicklung hat Massel, das chaldäische massal = Stern, Glück in Verbindung
mit dem deutschen Worte schlimm durchgemacht. Schlaramassel ist eigent¬
lich soviel wie Unglück, Pech, da man aber dabei an Schlamm und Masse
denken mag, heißt die ganze Schlammasse(!) soviel wie der ganze Plunder,
alles; Schlammasser ist (um Wurzen) ein Vagabund oder (im Gebirge)
ein glücklicher Spieler, viel Schlammassel machen heißt (in Leipzig) viel
schwatzen, auch Massel ist außer in dem Sinne von Glück in dem von
Geschwätz verbreitet und davon das Zeitwort massein oder massem =
(unnötig) viel reden, auch zanken. Die Bedeutung Gerede hat auch der
Madabrich, der von dem jüd. medibbern = reden abgeleitet ist. Noch ver¬
breiteter ist schmusen = schwatzen mit der Nebenbedeutung des Schmeichle¬
rischen, also nach dem Munde reden, ja betrügen; der Schmuser ist nicht
nur ein Schmeichler, sondern ein beim Pferdehandel unentbehrlicher, äußerst
zungenfertiger Kaufsvermittler. Das Grundwort dazu ist hebr. schemuoth
= Neuigkeiten, schmus — Gerede. Dazu gesellt sich auch der Schmu
= durch Schlauheit erlangter Gewinn, Nebengewinn, sowie die Wendung
Schmu machen = betrügen. So mancher aber ist kapores = verloren,
eigentlich als Sühneopfer, Kappöreth (vorzeitigem) Verderben geweiht.
Auch der beim Schlachten des Opfers tätige Katzew ist in Sachsen als
Katzoff oder Katzuff = Fleischer bis ins Gebirge bekannt.
10 .
Prämonitorischer Traum. Von Dr. P. Näcke. Auf einem un¬
vollendet gebliebenen Bilde Segantinis sieht man einen Sarg in einer
Alpenlandschaft hinausgetragen. Ein Freund schrieb mir nun dazu: „Der
Künstler soll den Traum (daß er es nämlich wäre, der hinausgetragen
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würde; Näcke) während der Arbeit, als er nur kurze Zeit darüber ein¬
geschlafen war, gehabt haben und der Tod (an Lungenentzündung; Näcke)
ist schon einige Tage oder Wochen nach diesem Vorgänge ein getreten.
Offenbar hatte er bereits ein geschwächtes Nervensystem, vielleicht schon
einen Krankheitskeim, der sich dann durch jenen Wettersturz auf dem
Schaf berge zur tödlichen Krankheit entwickelte“. Ist ein solcher Todes¬
traum wirklich einige Tage — bei einigen Wochen ist die Sache dagegen
wohl so gut wie ausgeschlossen! — dem Tode vorangegangen, so würde
sehr wahrscheinlich hier ein sog. prämonitorischer Traum vorliegen, der
der Kritik einigermaßen Stand halten kann, da die meisten Fälle von
sog. Krankheits- oder Todesahnungen eben nur reiner Zufall sind oder sich
anders erklären lassen. Vaschide in Paris hat vor einigen Jahren nur
einige wenige solcher Träume znsammenstellen können, die wirklich einen
Zusammenhang von Traum und schwerer Krankheit sehr wahrscheinlich
machen. Es läßt sich ziemlich leicht vorstellen, daß irgend eine Krankheit,
die z. B. im Halse oder in den Lungen zu konstatieren ist, schon einige
Zeit vorher Störungen im Kreisläufe, beginnende Entzündungen etc. setzte,
die wir aber mit unseren jetzigen Mitteln noch nicht erkennen können.
Dann aber muß man die Möglichkeit zugeben, daß schon diese geringen
Veränderungen sich durch schwere Träume aller Art, von eigener Er¬
krankung oder Tod, kund geben können. Dieser Fall scheint bei Segantini
vorzuliegen. Auffallend wäre es nur, daß es sich hier nicht um einen
Nacht-, sondern offenbar um einen Tagtraum handelte, da er bei seiner
Malerei eingeschlafcn war. Ein solcher Fall ist mir speziell bisher noch
nicht bekannt geworden, er verdient daher doppeltes Interesse.
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Besprechungen.
1.
Georg Maas, Bibliothekar im Reichsmilitärgericht undJuris-
prudentia Germaniae 1906. Bibliographie der Deutschen
Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. Berlin, 1907.
W. Moeser.
In neuer Form und vortrefflicher Anordnung erschienen. Die außer¬
ordentlich mühevolle Arbeit ist bekanntlich ein unentbehrliches Werkzeug
für jeden wissenschaftlich arbeitenden Juristen, sie ist aber auch gelegentlich
bei praktischen Arbeiten von unschätzbarem Wert. Das Buch muß dankbar
aufgenommen werden. Der Verfasser spricht den Wunsch aus, daß die
gesamten diesfälligen Kundgebungen zur bibliographischen Berichterstattung
in einem zu errichtenden Staatsinstitute vereinigt werden sollen. Dies wäre
mit Freuden zu begrüßen; es wäre nur zu wünschen, daß sich daran
auch die Regierungen Österreichs und der Schweiz beteiligen sollten.
_ H. Groß.
2 .
Georg Baumert, M. Dennstedt und F. Voigtländer „Lehrbuch
der gerichtl. Chemie“. I. Bd. Braunschweig, F. Vieweg
und Sohn. 2. Aufl.
Dieses schöne Buch ist selbstverständlich nicht in erster Linie für den
Juristen bestimmt. Wer aber erwägt, wie die gerichtliche Chemie täglich
wichtiger wird, was sie immer wieder Neues bringt, wie sehr aber der
Kriminalist ihre Hilfe nur ansnützen kann, wenn er von ihren Leistungen,
obgleich nur ungefähr Kenntnis hat, wer dies einsieht, wird dann zugeben,
daß sich auch der Jurist über moderne gerichtl. Chemie orientieren muß.
Hierzu ist das angezeigte Buch ganz besonders geeignet, da eine vorzügliche
Einleitung allgemeine, für jedermann verständliche Aufschlüsse gibt und da
die Einteilung des Stoffes so klar nnd einfach ist, daß der Jurist auch im
besonderen Falle nachschlagen und sich für diesen unterichten kann. Das
Buch sei bestens empfohlen. H. Groß.
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Besprechungen.
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3.
Hermann Stahr: Die Rassenfrage im antiken Aegypten mit
71 Aufnahmen von Mumienköpfen und Schädeln. Berlin-
Leipzig 1907. Brandus’scher Verlag.
Die Frage nach den Verbrecherschädeln bildet, trotz Lombroso, ein
wichtiges Gebiet der Kriminalanthropologie, und wenn sich der Verfasser
dieses prächtig ausgestatteten Buches auch nicht mit antiken Verbrechern
befassen konnte, und wenn die Untersuchung von Verbrecherschädeln auch
Sache des Arztes ist, so interessieren die da geleisteten Arbeiten doch auch
lebhaft den Juristen. Wir verfolgen in einem streng wissenschaftlichen
Buche, die Methode, vergleichen die Ergebnisse und können uns dann doch
leichter den Wert dessen vorstellen, was uns über Verbrecherschädel gesagt
wird. Ein Studieren dieser Arbeit ist auch für uns belehrend.
H. Groß.
4.
P. Hahn „Die Probleme der Hysterie und die Offenbarungen
der heiligen Therese“. Übersetzt von Paul Prima.
Leipzig 1906. Julius Zeitler.
Vielleicht keine Form der Geisteskrankheiten bietet dem Kriminalisten
so viel Schwierigkeiten und Anlaß zu Irrungen, wie die Hysterie, und des¬
halb ist jede Behandlung dieses Themas, komme sie von welcher Seite
immer, für den Kriminalisten wichtig und lehrreich.
Die Arbeit des gelehrten Jesuitenpaters gelangt zu dem Schlüsse: die
heilige Therese war in Bezug auf den Organismus hysterisch, in Hinblick
auf den Geist aber nicht! U. Groß.
5.
Simulation. Gesammelte Aufsätze von den Dozenten Dr-
Schmeichler, Raimann, Hammerschlag, Erber und Bek.
Herausg. von der Red. der „Wiener Medizin. Wochen¬
schrift“. Wien 1907. M. Perles.
Allerdings ist es nur Sache des Arztes, Simulation zu begutachten und
zu untersuchen, aber in erster Linie ist es der UR, der mit Simulanten
zusammenstößt und einerseits wissen muß, ob und wann er den Arzt fragen
soll, und anderseits häufig auch ohne ärztlichen Beistand sich zu helfen
wissen muß. Es sind deshalb die Aufsätze dieses Buches über Simulation
und Übertreiben nervöser Störungen, Ohrenerkrankungen, Geistesstörungen
etc. für den UR fast unentbehrlich, keiner wird es bereuen, wenn er sie
gelesen hat. H. Groß.
6 .
Paul Hirsch: „Verbrechen und Prostitution als soziale
Krankheitserscheinungen“. Berlin, Buchhdlg. „Vor¬
wärts“ 1907. 2. Aufl.
Verf. stellt die zu dieser Frage gemachten Äußerungen, Ansichten und
Vorschläge ganz gut populär zusammen. Ob eine solche Popularisierung
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Besprechungen.
103
der schwierigsten und heikelsten Fragen nötig ist, mag ebenso zweifelhaft
sein, wie die Annahme, daß nur der Kapitalismus an allem Elende Schuld
ist und daß der sozialistische Zukunftsstaat Verbrechen und Prostitution zu
Ausnahmserkrankungen machen wird. Auch in diesem utopischen Staate
werden die Leute arbeiten müssen, und viele von ihnen werden sich auch
noch lieber zum Verbrechen und zur Prostitution wenden, als das „Bischen“
dann noch nötige Arbeit leisten. Daß das Elend und die Armut wichtige
Gründe von Verbrechen und Prostitution sind, haben wir schon gewußt.
H. Groß.
7.
Emil Rasmussen: Jesus, eine vergleichende psycho-patho-
logische Studie. Übertragen und herausgegeben von
Arthur Rothenburg. Leipzig, Jul. Zeitler, 1905.
Wenn auf dieses merkwürdige Buch mit einigen Worten hingewiesen
wird, so geschieht dies wegen des Interesses, welches die Beweisführungen
des Verf. erwecken müssen. Wir Kriminalisten haben so viel mit Erklärungen
und Auslegungen zu tun, daß es immer unsere Aufmerksamkeit erregen
muß, wenn andere ähnliche Arbeit verrichten. Verf. konstruiert zuerst eine
eigentümliche Geisteskrankheit: die der Propheten, und an der habe Jesus
auch gelitten. Um das beweisen zu können, bringt er die schwierigsten
Auslegungen über die Worte Christi und die Tatsachen seines Lebens. —
H. Groß.
8 .
Dr. phil. Johannes Jaeger: Rechtsbuch und Rechtsausgleich
in der Strafjustiz. Studien zu Reformfragen in der
Kriminologie. Leipzig 1907. Dörffling und Franke.
Das von vornehmer Gesinnung und christlichem Geiste im besten Sinne
des Wortes getragene Buch des bekannten Strafhauspfarrers legt das Schwer¬
gewicht aller unserer Reformbestrebungen auf den Strafvollzug; die Vergeltung
zu üben sei Sache Gottes, wir können nur die Gesellschaft vor Verbrechern
schützen und dieser Schutz liege vornehmlich in dem Bestreben, die der
Freiheit Beraubten zu bessern. — H. Groß.
9.
0. H. Michel in Menden: „Die Zeugnisfähigkeit der Kinder
vor Gericht“. Ein Beitrag zur Aussagepsychologie.
(Pädagog. Magazin, 312. Heft) Langensalza 1907. H. Beyer
und Söhne.
Verf. sucht, mitunter leider mit Hilfe wenig verläßlicher Zeitungs¬
berichte, darzutun, daß den Aussagen der Kinder wenig Glauben beizumessen
ist — Phantasie, Mangel an Erfahrung, Suggestion, Nachgiebigkeit und
ähnliche Momente tun das Ihre, um das vom Kinde wahrgenommene unrichtig
wiedergeben zu lassen. Darin hat Verf. sicherlich recht — ich glaube nur
daß er zu wenig berücksichtigt, wie es diesfalls mit den Erwachsenen steht,
ihre Aussagen sind im großen und ganzen auch nicht besser. Dies nach-
ziiweisen habe ich mich seit ungefähr 1 */-2 Jahrzehnten (Handbuch für
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Besprechungen.
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Untersuchungsrichter, Kriminalpsychologie und dieses Archiv) bemüht, auch
schon lange eher, als die sogen. ,Aussagepsychologie“ begonnen hat; ich
glaube, alle modernen Kriminalisten geben mir diesfalls recht. II. Groß.
10 .
Dr. Emil Raimann „Die Behandlung und Unterbringung des
geistig Minderwertigen“ (Sep. aus dem Jahrb. f. Psych.
und Neurol. XXVIII. Bd.). Leipzig und Wien 1907.
A. Deuticke.
Verf. spricht sich für die Zwischenanstalten aus, in welche die Zwischen¬
form — gesunde, psychopathisch minderwertige Geisteskranke — unter¬
zubringen wären, zum Zweke der Internierung, Repression, Strafe, je nach
ihrem Wesen.
Theoretisch hat Verf. zweifelsohne Recht, aber praktisch würde es
unabsehbare Schwierigkeiten geben. Verf. sagt selbst, die Grenze fällt
zwischen Gesunde und Minderwertige, diese und die Geisteskranken
gehören zusammen; später verlangt Verf. aber wieder, die Internierung
in der Zwischenanstalt müsse durch den Richter mit Urteil ausgesprochen
werden — hiernach gehört der Minderwertige einerseits zu den Kranken,
er wird aber anderseits juristisch wie ein Gesunder behandelt. Dieser Wider¬
spruch fällt nicht dem Verf. zur Last, er liegt in der Natur der Sache.
Denn,: wo sind diese Anstalten anzubringen? bei den Irrenhäusern? bei
den Gefängnissen? selbständig? und namentlich: wo bekommen wir das
Aufsichtspersonal her, welches die unabsehbar schwierige Aufgabe zu lösen
versteht, individualisierend zu internieren, zu reprimieren und zu strafen? Und
woher das nötige viele Geld? II. Groß.
11 .
R. Müller: Sexualbiologie etc. Berlin, Marcus, 19o7, 393 S. 6 Mk.
Ein ganz ausgezeichnetes Buch, das wahrhaft eine Lücke ausfüllt. So
eingehend und übersichtlich sind wir über die sexualbiologischen Vorgänge
— die pathologischen werden meist nur gestreift — bisher nicht unter¬
richtet worden. Der Wert wird erhöht durch Vergleichung dieser Prozesse
an Mensch und Tier. Schon die Übersicht der Kapitel ergibt das weite
Feld der behandelten Fragen. Behandelt werden der Geschlechtstrieb,
ungewöhnliche Äußerungen desselben bei 'Pieren, Geschlechtsreife, Brunst
und Menstruation, Geschlechtszellen und -stoffe, die sekundären Geschlechts¬
merkmale, das Verhältnis von Milchdrüsen zu den Geschlechtsorganen, die
Folgen der Kastration, geschlechtliche Mischformen, Mannweiblichkeit und
Weibmännlichkeit bei den Vögeln, Geschlecht und Entartung, Fruchtbar¬
keit, Geschlecht und Krankheit. Telegonic, die geschlechtliche Zuchtwahl und
endlich die Beschaffenheit der Nachkommen. Bei dem ungeheuren Materiale
ist es natürlich selbst verständlich, daß man hier und da anderer Meinung
sein kann als Verf., doch wird man dem meisten sicher zustimmen. Es
gibt auch beim'Menschen echte Zwitter, d. h. mit lloden und Eierstock;
die Telegonie ist bis jetzt nicht bewiesen, wäre aber nicht unmöglich. Ein
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105
„Versehen“ ist unmöglich, dagegen glaubt Verf. an Vererbung erworbener
Zustände, was Ref. bisher nicht einwandsfrei bewiesen zu sein scheint.
Mit Recht verhält Verf. sich skeptisch gegen die üblen Folgen der Zeugung
im Rauschzustände, mit Recht leugnet er einen „ästhetischen Sinn“ bei Vögeln
etc. und die Tänze und das Hochzeitskleid dienen nur zur geschlechtlichen
Erregung des Weibchens und indirekt zu der des Männchens. Ref. geht
noch weiter und sieht in ihnen nur Folgen von sexueller Erregung. In
der Psychologie der Tiere ist Verf. vorsichtig, scheint dem Ref. aber doch
noch zu sehr zu anthropomorphisieren. Alles zusammengenommen ein vor¬
treffliches Buch! Leider fehlt ein Register, was bei dem reichen Inhalt
doppelt unangenehm auffällt.
Dr. P. N äcke.
12 .
Sommer: Klinik für psychische und nervöse Krankheiten. 1. Bd. 4 H.
Halle, Marhold 1906, 3 Mk.
Von diesem gleichfalls interessanten Hefte hebe ich hier nur 2 Arbeiten
hervor. Zunächst bespricht La quer die Erziehung und weitere Versor¬
gung von Schwachsinnigen. Leider haben wir noch zu wenig Hilfsschulen;
Privatschulen gibt es für Vermögende. Besser ist es, Imbezille nicht mit
Idioten zugleich zu unterrichten (? Ref.). Das Schwierige ist aber die
weitere Fürsorge nach dem Schulunterricht. Sie sollen zur Arbeit erzogen
werden. Das Fortkommen jetzt ist ein ziemlich trauriges. Am meisten
verspricht noch eine Arbeitslehrkolonie zu leisten, für die Grohmann sehr
hübsche Richtlinien gibt. Hier könnten sie auch psychiatrisch am besten
beobachtet werden und würde viel Unheil abgewendet. Sehr richtig wäre
es, sie bei der Ersatzkommission anzumelden. Die meisten, aber nicht
alle, sind vom Militärdienst am besten auszuschließen. — Heinrich Vogt
behandelt sodann eine interessante und charakteristische, bei uns aber sehr
seltene Form der Idiotie, die „mongoloide“, die wie der Name besagt, durch
Mongolenaussehen des Gesichtes (Schlitzaugen), allerlei Entartungszeichen,
kleinen Wuchs, Entwicklungshemmungen in Knochen, Zähnen etc. und
unheilbaren Blödsinn ausgezeichnet ist. Thyreoidin wirkt hier nicht spe¬
zifisch, wie bei Kretinismus. Der Blödsinnsgrad kann verschieden sein
und der Blödsinn selbst ist ein apathischer oder erethischer. Genese und
pathologische Anatomie sind noch im Dunkeln. Der ganze Zustand wird
sehr genau geschildert. Dr. P. Näcke.
13
Sommer: Klinik für psychische und nervöse Krankheiten. II Bd. 3. H.
3 Mk. Halle 1907, Marhold.
Auch dies Heft enthält des Interessanten genug. Boumann zeigt,
daß leider bis jetzt bez. der Assoziations-Versuche der Geisteskranken
wenig herauskommt, sie für die Diagnose also fast unbrauchbar sind, wenn
auch Unterschiede gegen Normale bestehen. Ausgezeichnet ist d. Aufsatz von
Dannemann über Sittlichkeitsverbrechen, mit vielem Tatsachenmaterial. Er
zeigt wieder, wie viele Geisteskranke u. Psychopathen darunter sind, doch
auch viele Gesunde. Am häufigsten sind diese Delikte bei Imbezillen, wo
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Besprechungen.
das Milieu u. d. Alkohol auch eine große Rolle spielen, dann bei Epileptikern
und bei „Epileptoiden“. Die Epileptiker sind die Gefährlichsten. Dämmerzu¬
stände mit sexueller Färbung sind am häufigsten bei der larvierten Epilepsie.
Weiter kommen die Psychopathen in Frage, wo aber der unwidersteh¬
liche Trieb immer erst nachzuweisen ist. (Sicher ist diese Unwiderstehlichkeit
viel seltner, als man annimmt. Ref.) Jeder Fall von senilem Delikte ist
eigens zu untersuchen. Eingehend bespricht dann Verf. die Prophylaxe
und gibt sehr gute Ratschläge. Nicht jeder Fall kann psychiatrisch unter¬
sucht werden. Wohl aber, wo starke Heredität vorliegt, Rückfall oder
Senium und stets, wo Verdacht auf epileptische Veranlagung besteht. Die
Irrenanstalten etc. haben große Vorsicht bei Entlassung solcher Verbrecher
zu üben, weniger schon da, wo etwa der Alkohol mitgewirkt hat. Endlich
tritt Verfasser vernünftigerweise auch für Abschaffung des § 175 ein und
verlangt, daß die Homosexuellen genau unter denselben Bedingungen zu
bestrafen seien, wie die Heterosexuellen. Dr. P. Näcke.
14.
Bonhoeffer: Klinische Beiträge zur Lehre von den Degenerationspsychosen.
Marhold, Halle, 1907, 55 S. 1,60 Mk.
Neuerdings spricht man wenig von den Degenerationspsychosen. Verf.
glaubt aber doch, daß solche Vorkommen, die sich sonst nicht unterbringen
lassen und hat unter 221 Personen der Breslauer Beobachtungsstation für
geisteskranke Gefangene dann 12 Proz. (einschließlich von Hysterie) gefun¬
den. Er hebt 3 Gruppen heraus, die er' durch Krankengeschichten
illustriert: 1., Fälle von einfacher Paranoia-Erkrankung. 2., solche mit
Bildern, die dem Querulantenwahnsinn sehr nahe stehen. 3., solche mit
Labilität des Persönlichkeitsbewußtseins, wie es den phantastischen
Schwindlern, den Originären, den Träumereien der Hysteriker etc. eig¬
net. Allen diesen 3 Gruppen gemeinsam ist der degenerative Zustand,
die hereditäre Belastung und die Heilung der episodischen Psychosen, so-
daß man hier nicht von dementia praecox reden könnte, um so
weniger als die scheinbare Stumpfheit keinen Verblödungsprozeß dar¬
stellt, sondern ein echtes Degenerationssymptom, ebenso das reine Nichts¬
tun und die Labilität des Persönlichkeissbewußtseins, was zu Größen¬
ideen, Einfällen etc. führen kann. Die Auseinandersetzungen des Verf.’s
sind, wie stets, geistreich, fein und originell, doch glaubt Ref. nicht, daß
seine Krankengeschichten trotzdem von anderen nicht unter die Rubriken:
dem. praecox, Paranoia, moral insanity gebracht werden, wie denn auch manche
der Kranken draußen eine ganz andere Diagnose erhielten. Man findet
sich hier eben noch auf sehr schwankendem Boden bez. der
Klassifikation, wie auch Verf. selbst fühlt! Bedauerlich ist es, daß Verf.
auch von „geborenen“ Verbrechern spricht Dr. P. Näcke.
15.
Jahresbericht über die Kgl. Psychiatrische Klinik in München für 1904
und 1905. München 1907, Lehmann. Oktav, 126 S.
Die meisten Berichte von Irrenanstalten sind langweilig, ohne wissen¬
schaftlichen Wert und nur von lokalem Interesse. Der vorliegende macht
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eine rühmliche Ausnahme. Eis wird zwar auch viel Statistik gegeben, die
bloß bedingten Wert beansprucht, aber es ist schon belehrend zu seheu,
wie verschieden die Insassen einer Großstadt den Formen nach sich verhalten
gegenüber denen in Provinzialanstalten. Sie gestatten noch weniger allgemeine
Schlüsse. Wegen der noch mehr unsicheren Anamnese ist die Ätiologie
kümmerlich ausgefallen, um so besser die Therapie in dem kostbar aus¬
gestatteten und glänzend geleiteten Institute Eraepelins. Das Hauptinteresse
beruht in der wissenschaftlichen Bearbeitung des Materials, die freilich, der
Natur nach, oft nur skizzenhaft ist. Die sämtlichen Assistenten und Volontäre
der Anstalt haben daran gearbeitet und natürlich mit Kraepelinschen Augen
gesehen. Auf Alkoholismus wird überall scharf gefahndet, wie es Ref.
scheint, hie und da etwas zu sehr. Auch die forensische Medizin kommt
nicht zu kurz. Sehr eingehend ist das manisch-depressive Irresein ab¬
gehandelt, nur daß Verf. der erblichen Belastung bei Geisteskranken zu
geringe Bedeutung beimißt; Belastung mit Geisteskrankheiten ist hier sicher
mehr da, als bei Gesunden. Der Bearbeiter der Epilepsie ist so vorsichtig,
bei späten Epileptikern mit Alkoholismus letzteren als nur wahrscheinlich
für die Krämpfe hinzustellen. Mit Recht wird weiter das Subjektive der
Lichtreaktion der Augen und des Patellarreflexes etc. hingestellt. Leider hat
Kraepelin wieder den alten Begriff des „geborenen Verbrechers“ aufgenommen.
Ganz unverständlich ist es, wie der sonst vorsichtige Alzheimer mit fast
apodiktischer Gewißheit die Lues als Ursache der Paralyse hinstellt, während
viele gegenteilige Beoachtungen da sind, wie er die hohe Erblichkeit dabei
nicht betont, das immer mehr vortretende „invalide Gehirn“ etc. einfach
ignoriert. Dr. P. Näcke.
16.
v. Voss: Der Hypnotismus etc. Halle, Marhold, 1907, 40 S. — 1,20 Mk.
In ansprechender Weise und auf Grund eigener Erfahrung spricht
Verf. sich über die Geschichte der Hypnose, ihre Technik, ihre Indikationen
und ihre forensische Bedeutung aus. Die Hypnose ist ein schlaf ähnlicher,
aber kein pathologischer Zustand, bedingt eine erhöhte Beeinflußbarkeit
und zu therapeutischen Zwecken genügt schon die oberflächliche Hypnose.
Stets soll unter Zeugengegenwart hypnotisiert werden und nur mit Ein¬
willigung des Patienten. Ein hypnotisch suggeriertes Verbrechen ist bis¬
her nicht festgestellt. Therapeutisch wirkt besonders in der H. die ver¬
bale Suggestion, auch bei organischen Leiden oft günstig, ebenso beim
Alkoholismus. Das Kindesalter kontraindizirt nicht die Hypnose.
Dr. P. Näcke.
17.
Bresler: Die pathologische Anschuldigung. Halle, Marhold, 1907, 42 S.
1 Mk.
Verf. unterscheidet die pathologische Anschuldigung von der krank¬
haften Zeugenaussage, streift die Geschichte seines Themas und behandelt
einzeln 1) die wissentlich falsche Anschuldigung auf Grund krankhafter
Lügenhaftigkeit oder Triebe (Inhalt: Erdichtetes); 2) auf Grund krank-
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108
Besprechungen.
haft gestörter Wahrnehmung oder Denktätigkeit und 3) die inhaltlich
richtige, aber krankhaft motivierte Anschuldigung. Nr. 1 wächst beson¬
ders auf dem Boden der Hysterie (besonders bei Frauen), Nr. 2 besonders
bei Alkoholikern, Paranoikern, Querulanten, Nr. 3 (selten!) unter Einfluß
von Geisteskrankheit. Auch in Selbstanzeigen können Anschuldigungen
anderer enthalten sein, bei Melancholikern z. B. Nicht selten geschehen
ferner falsche Angaben über Täter und Vorgang bei Benommenheit, Betäu¬
bung, Kopfverletzung (namentlich Berauschter), auch nach Traumerleb¬
nissen. Ebenso können falsche Anschuldigungen vou Kindern, Epilep¬
tikern, moralisch Schwachsinnigen (leider behält Verf. diesen Ausdruck
bei! Bef.) ausgehen. Alles ist durch Beispiele erläutert und so die Schrift
eine sehr lehrreiche. Verf. wünscht zuletzt, daß man möglichst bald
falsche Anschuldigung als solche erkenne und dann den § 164 R.St.G.
dahin abändere, daß auch ohne Beschuldigung einer bestimmten Person
die Anschuldigung strafbar sei.
Dr. P. Näcke.
18.
Klaussner: Über Mißbildungen der menschlichen Gliedmaßen (neue
Folge). Mit 32 Abbildungen. Wiesbaden, Bergmann. 1905, 41 S.
2 Mk.
Verf. beschreibt an der Hand ausgezeichneter Abbildungen und
Röntgenbilder eine Reihe interessanter Mißbildungen der Extremitäten,
in Gestalt von Riesenwuchs, Flughautbildung, Radiusdefekt, Syn- und
Polydaktilie, Spalthand, Brachy- und Ektrodaktylie etc. Sie haben nicht
bloß theoretisches, sondern unter Umständen, wegen einer etwa anzuwen-
wendenden Operation, auch praktisches Interesse. Es wird gesagt, daß
sie fast alle sich auf sehr früh einwirkende mechanische Momente, beson¬
ders amniotische Verwachsungen, zurückführen lassen. Manche dieser
Mißbildungen wan^auch stark erblich.
Dr. P. Näcke.
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IX.
Der Geisteszustand der Schwangeren und Gebärenden.
Von
Privatdozent Dr. Ernst BischofF.
Es sollen in den folgenden Zeilen die Ergebnisse einer kritischen
Studie der umfangreichen Literatur niedergelegt werden; mein Be¬
streben war hauptsächlich darauf gerichtet, die sichergestellten Tat¬
sachen hervorzuholen und von Hypothesen und theoretischen Er¬
wägungen zu sondern, welche hier noch mehr, als in anderen psychia¬
trischen Fragen die Meinung der Autoren beeinflußt haben. Es liegt
die Ursache dieser Neigung, den realen Boden zu verlassen in der
Ausnahmsstellung, welche die Psychiatrie innerhalb der medizinischen
und naturwissenschaftlichen Fächer einnimmt. Die psychischen Vor¬
gänge sind der Anschauung weder direkt noch indirekt zugänglich,
alles, was wir darüber wissen, ist erschlossen aus Beobachtungen
körperlicher Vorgänge, die mit den geistigen in Zusammenhang
stehen, mit ihnen aber nicht identisch sind. Die direkte physikalische
und chemische Beobachtung der Funktion, das wichtigste diagnostische
Hilfsmittel, ist dem Psychiater versagt. Die anatomische Gehirnunter¬
suchung hat bis in die neueste Zeit die psychiatrische Diagnostik im
Stiche gelassen. So ist es nur zu begreiflich, daß der Forschungs¬
drang, das wissenschaftliche Kausalitätsbedürfnis oft dazu verleitet
hat, um in der Erkenntnis vorwärts zu kommen, aus Ansichten und
Empfindungen Dogmen zu schmieden. Ein solches Dogma lautet,
daß Schwangere und Gebärende zu geistigen Störungen besonders
disponiert seien. Es ist, wie ich zeigen werde, nur sehr wenig Tat¬
sachenmaterial in den bisherigen Arbeiten über dieses Thema ent¬
halten und doch ist noch kaum je ein Zweifel an der Richtigkeit
dieses Dogmas aufgetaucht.
Die Vorstellung, daß sich Schwangere und Gebärende in einem
abnormen Geisteszustand befinden oder zum mindesten zu geistigen
Abnormitäten disponiert sind, hat sich wohl erst mit dem Aufblühen
Archiv für Krimmalanthropologie. 29. Bd. $
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110
IX. Bischoff
der psychiatrischen Wissenschaft im Beginne des vorigen Jahrhunderte
ausgebildet. In den älteren Gesetzbüchern ist kein Wort enthalten-
welches darauf hinweisen würde, daß eine solche Disposition ange¬
nommen worden wäre, obwohl sie weitläufige Erörterungen über die
strafrechtliche Behandlung der unehelich Geschwängerten und der
Kindesmörderinnen enthalten. Die Behauptung Dörflers,, daß in
der Carolina (peinliche Halsgerichtsordnung Carls V. vom Jahre 1532)
zum erstenmale die Forderung einer sachverständigen Begutachtung
der Kindesmörderinnen enthalten sei, ist nicht richtig.
Von ärztlichen Sachverständigen ist in der Carolina nur im
Art. 147 die Rede, wo es heißt, daß wenn jemand nach einer Ver¬
letzung gestorben ist, und es fraglich erscheint, ob der Tod durch die
Verletzung verursacht ist, „die wundärzt sach verstendig unnd andere
personen, die da wissen, wie sich der gestorben nach dem schlagen
und rumor gehalten hab .... und die urtheyler bei den rechtver-
stendigen .... radts pflegen sollen“. Die Beurteilung von Zuständen
geistiger Abnormität, überhaupt von „übelthättem die jugent oder
anderer Sachen halb, jre sinn nit haben“ war nach Art. 179 den Ge¬
richtspersonen, den Räten, der Obrigkeit überlassen. Die Obrigkeit
konnte sich mit „anderen verstendigen“, unter welchen ärztliche Sach¬
verständige nicht zu verstehen sind, beraten, bevor das Urteil gefällt
wurde. In den Artikeln, welche von Kindesmord handeln,
werden krankhafte Zustände überhaupt nicht erwähnt.
Die Bestimmungen der Theresiana nähern sich schon sehr
der gegenwärtigen Strafgesetzgebung, die Untersuchung durch be¬
eidigte Ärzte ist dort für alle Fälle, wo Gebrechen der Vernunft zu
bestehen scheinen, vorgesehen. In den ausführlichen Bestimmungen
über Schwangere und Kindesmörderinnen finden aber geistige Abnor¬
mitäten keine besondere Erwähnung, obwohl die psychologischen
Motive des Kindesmordes sehr eingehend behandelt werden, worauf
ich später zurückkommen werde
Erst die Erfahrung, daß Frauen in der Generationszeit anscheinend
häufiger als sonst geisteskrank werden, scheint der Meinung zum
Durchbruche verholfen zu haben, daß die Generationsvorgänge eine
Disposition zu geistiger Erkrankung regelmäßig zur Folge haben.
Einer der Begründer der modernen Psychiatrie, Esquirol, hat ohne
es zu wollen durch seinen Ausspruch, daß die Zahl der Frauen
welche nach der Entbindung sowie während des Stillens und nach¬
her geisteskrank werden, größer sei, als man es im allgemeinen
glaube, ein Argument geliefert, welches, wie ich zeigen werde, fälsch-
ich zur Stütze der Annahme verwertet wurde, daß Schwangere und
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Der Geisteszustand der Schwangeren und Gebärenden.
111
Gebärende oft geistig abnorm seien. Diese Annahme schien um so
berechtigter, als es sich später herausstellte, daß von allen geistes¬
kranken Frauen etwa 14 Prozent in der Schwanger¬
schaft, im Wochenbett oder in der Zeit der Laktation
erkrankt sind. Man hat weiteres darauf hingewiesen, daß die
schwangeren Frauen sehr oft an nervösen Beschwerden
leiden, daß sie allerlei körperlichen und geistigen Schädigungen,
welche die Psyche ungünstig beeinflussen können, ausgesetzt sind,
daß die Gebärende durch Schmerzen, Blutverluste und Muskelarbeit
erschüttert wird und hat gefragt: kann man der Frau in diesem Zu¬
stande überhaupt die Zurechnungsfähigkeit zumuten? nnd man hat
die Frage ohne Zögern ganz oder teilweise verneinend beantwortet.
So sagte z. B. Jörg 1837 die Tatsachen maßlos übertreibend: „alle
Schwangeren haben Sorgen vor der Zukunft, sind von Furcht be¬
sonders rücksichtlich der bevorstehenden Geburt erfüllt, niemand wird
so sehr von Träumen und Ahnungen beunruhigt, niemand spricht
mehr vom bevorstehenden Tode als die Schwangeren. Ohne Aus¬
nahme bemächtigt sich diese trübe Gemütsstimmung oder wenigstens
die Hinneigung dazu aller Schwangeren, besonders in der 2. Hälfte
der Schwangerschaft.“ Schon diese, auf der Erwägung, daß die so¬
matischen Veränderungen im Laufe der Schwangerschaft an Inten¬
sität zunehmen, beruhende Behauptung ist eine irrige, denn die Be¬
obachtung lehrt, daß die nervösen und psychischen Begleiter¬
scheinungen der Gravidität in ihrer 2. Hälfte geringer werden. Da
die körperlichen Umwälzungen der Entbindung noch viel heftigere
sind, will Jörg, der es .für selbstverständlich hält, daß daraus geistige
Störungen entstehen, keiner Gebärenden die volle Zurechnungsfähig¬
keit zuerkennen.
Solche Schlußfolgerungen haben keinen wissenschaftlichen Wert,
denn sie sind auf Hypothesen aufgebaut, welche aus dem Gefühle
des Mitleides heraus entstanden sind, das den Gerichtsarzt ergreift,
der durch sein Gutachten über das Schicksal eines oft unreifen, durch
einen Fehltritt unglücklichen Mädchens zu entscheiden hat. Wenn
man berücksichtigt, daß die Psychiatrie als exakte Wissenschaft, in
naturwissenschaftlichem Geiste erst seit kurzem betrieben wird und
daß die Erkenntnis, daß Geisteskrankheiten Gehirnkrankheiten sind,
die .Reformierung der ganzen Lehre nur allmählich bewirken kann,
während man früher versucht hat, mit den oft absonderlichsten
religiösen und philosophischen Hypothesen die Symptome der Geistes¬
störungen in ein System zu bringen, so wird es nicht wunder nehmen,
daß es nicht gleich gelingen konnte, das Gebiet der
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112
IX. Bischoff
Psychosen scharf abzugrenzen. Das neuaufgerichtete Gebäude
der Psychiatrie mußte aus einem Materiale erbaut werden, welches
zum größten Teile aus Hypothesen bestand. Mit dem Anwachsen
der tatsächlichen Kenntnisse mußten und müssen immer wieder
hypothetische Teile der Konstruktion entfernt und durch oft ganz
anders geartetes Tatsachenmaterial ersetzt werden.
Dazu kommt, daß die forensische Psychiatrie in ihrer Entwicklung
durch zwei verschiedene Impulse beeinflußt und zum Teile gestört
wurde. Einerseits mußte sie mit den Fortschritten psychiatrischen
Erfahrung Schritt halten, andererseits stand sie unter dem Einflüsse
der ebenfalls jungen Kriminalpsychologie, welcher es nicht mit einem
Schlage gelungen ist, sich überall zur Klarheit emporzuringen. So
ist es gekommen, daß die Psychiatrie sich wiederholt in Gebiete ver¬
irrte, welche in die Domäne der Psychologie des Verbrechens gehören
und daß krankhafte Geisteszustände und psychologische Reaktionen
nicht immer scharf auseinandergehalten wurden. Solche Irrungen
konnten sich besonders leicht auf dem Gebiete, welches
hier erörtert werden soll, ergeben, denn es treffen wohl
kaum sonst mächtige psychologische, mitleiderregende
Motive des Verbrechens so innig mit mächtigen soma¬
tischen Umwälzungen zusammen, wie bei Schwangeren
u nd Gebärenden.
Gegenwärtig ist glücklicherweise diese Übergangsperiode der Un¬
sicherheit im allgemeinen überwunden und wir haben gelernt, die
Resultate der exakten Forschung in die Praxis zu übertragen. Klare
Ergebnisse liefert in unserer Frage hauptsächlich die statistische Er¬
hebung. Sie allein kann uns darüber aufklären, ob, wie oft und unter
welchen Bedingungen die Generations Vorgänge beim Weibe geistige
Störungen herbeiführen. Zahlreiche klinische Studien haben im Ver¬
ein mit der Statistik eine vollständige Umwälzung in der Anschauung
über die Ursachen der Generationspsychosen bewirkt. Es ist richtig,
daß etwa 14 Prozent aller geisteskranken Frauen während der Gene¬
ration (Gravidität, Partus, Puerperium und Laktation) geisteskrank
geworden sind. Es ist aber nicht richtig, daß sie alle infolge der
Generationsvorgänge krank geworden sind. Die Mehrzahl von ihnen
ist aus anderen Gründen, welche mit der Generation nur mittel¬
bar, mitunter gar nicht Zusammenhängen, erkrankt. Diese Behauptung
beruht auf folgenden Tatsachen:
1. Von den genannten 14 Prozent sind nur 3 Prozent, also etwa
jede 30. von 100 geisteskranken Frauen während der Schwangerschaft
erkrankt. Man kann leicht aus der Statistik der Geburten berechnen»
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Der Geisteszustand der Schwangeren und Gebärenden.
113
daß mindestens 3 Prozent aller lebenden Frauen in einem Jahre
schwanger sind. Die Zahl der im nichtschwangeren Zustande geistes¬
krank gewordenen Frauen verhält sich zu der Zahl der in der
Schwangerschaft erkrankten also ungefähr ebenso wie die Zahl der
nichtschwangeren Frauen zu der der Schwangeren überhaupt. Es
erhellt aus dieser Feststellung, daß die Disposition zur geistigen
Erkrankung durch die Schwangerschaft nicht merklich
gesteigert wird.
2. Die übrigen Generationspsychosen beginnen zur Hälfte im
Wochenbette, zur anderen Hälfte während der Laktation. Der über¬
wiegende Teil der Wochenbettpsychosen entsteht im Anschlüsse an
Puerperalfieber, die Hauptursache der Erkrankung ist bei ihnen nicht
die durchgemachte Gravidität sondern die fieberhafte, oft septische
Erkrankung nach der Entbindung.
3. Die Laktationspsychosen werden durch die Erschöpfung ausge¬
löst, welche die Laktation bei ungenügender Ernährung und schwerer
Arbeit oder bei zu langer Dauer begleitet. Die Vorgänge der
Schwangerschaft und Entbindung, welche dem Ausbruche der Lak¬
tationspsychosen um Monate vorausgehen, können einen wesentlichen
Einfluß darauf nicht haben.
4. Es treten in der Generationszeit alle möglichen Formen der
Geisteskrankheit auf, es gibt keine typische Generationspsychose.
Auch auf dem Gebiete der Psychiatrie haben gleiche Ursachen die
gleiche Wirkung und man sollte erwarten, daß es ein typisches Krank¬
heitsbild der Generationspsycbose gibt, wenn die Generations Vorgänge
die direkte Ursache der Generationspsychosen wären. Auch die
Symptomatologie spricht also gegen die Annahme, daß durch die
Generationsvorgänge selbst eine Disposition zu geistiger Erkrankung
geschaffen würde. Die Gravidität und ihre Folgen werden daher
heute nicht für die Ursache, sondern nur für ein in
manchen Fällen wirksames auslösendes Moment ge¬
halten, welches nur dann tätig wird, wenn die Schwangere schon
durch andere Ursachen sozusagen reif für die geistige Erkrankung
geworden ist. Wenn eine solche Person schwanger wird, genügen
die körperlichen und nervösen Veränderungen der Schwangerschaft,
um die schon vorbereitete Psychose zum Ausbruche zu bringen. Diese
nimmt dann jene form an, welche der ursprünglichen Ursache ent¬
spricht.
Aus allen den genannten Erfahrungen hat die Psychiatrie die
Konsequenzen gezogen: es ist heute allgemein anerkannt, daß die
Generation nicht zu den wichtigen Ursachen der Geistesstörung zählt
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IX. Bischof*'
und daß die Generation normalerweise ohne jede Geistesstörung ver¬
läuft; letzteres wird durch eine große Zahl von Statistiken der Gebär¬
anstalten bestätigt, welche zeigen, das von den daselbst unterge¬
brachten Schwangeren nur eine verschwindend kleine Zahl geistige
Abnormitäten aufweist. Nach Fellner fanden sich z. B. unter 20 ooo
Fällen der geburtshilflichen Klinik in Wien nur 4 Fälle von Gravi¬
ditätspsychosen. Unter 3500 Wöchnerinnen in Westminister fanden
sich nach Reid 9 Fälle von Geistesstörung. Ähnliche Zahlenverhält¬
nisse finden sich in allen derartigen Statistiken.
Es ist noch hinzuzufügen, daß geistige Erkrankung während der
Entbindung in diesen Tabellen überhaupt nicht verzeichnet ist.
Der Geisteszustand der Schwangeren.
Während der Gravidität erfährt der Stoffwechsel der Frau quanti¬
tative, vielleicht auch qualitative Veränderungen, die Lage der Unter¬
leibsorgane wird allmählich verschoben, diese drücken auf das Zwerch¬
fell, können die Nervengeflechte der Bauchhöhle irritieren, an das
Herz werden erhöhte Anforderungen gestellt. Früher hatte man die
sonderbarsten Vorstellungen von den Vorgängen der Schwangerschaft
Jörg vergleicht sie mit einer Infektion, das Sperma werde von den
Gefäßen der Gebärmutter aufgesaugt, der Uterus werde von dem
Sperma angesteckt und befruchtet, er könne dann der Aufnahme und
der Pflege des Eies nicht mehr ausweichen. Das Blut vermehre und
verdicke sich. Wenn dieses Blut durch Erkältung und Krämpfe in
den Gefäßen der Beine zum Kopf getrieben werde, entstehe Gehirn¬
reizung, eklamptische Anfälle seien die Foge davon. Wegen des er¬
höhten Stoffwechsels entstehe Athemhunger und dieser erzeuge in der
Schwangeren das Gefühl der Bangigkeit. Die Sekrete der Ver¬
dauungsdrüsen seien vermehrt und chemisch anders zusammengesetzt,
als gewöhnlich, daher entstehe ein Bedürfnis nach bestimmten
Nahrungsmitteln, welches die oft sonderbaren Gelüste zur Folge habe.
In ähnlicher Weise wurden damals von den Autoren, der Phan¬
tasie freien Lauf lassend, Hypothesen geschmiedet. Ich führe einige
Beispiele an, weil sie deutlich demonstrieren, daß man den Angaben
der damaligen Forscher nur mehr ein historisches Interesse entgegen¬
bringen kann, da ihre Forschungswege nicht wissenschaftliche waren,
Von allen den zitierten Behauptungen hat nichts der Kritik stand ge¬
halten, mit Ausnahme der Belästigungen durch die mechanischen
Yerdrängungserscheinungen. Im übrigen akkommodiert sich der
Körper leicht an die ganz langsam eintretenden Veränderungen. Nur
in den ersten Monaten sind gewisse nervöse Störungen häufig. Er-
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Der Geisteszustand der Schwangeren und Gebärenden.
115
blechen kommt in etwa : '/i aller Schwangerschaften vor, Schwindel und
Ohnmachtsaufälle sind nicht selten, mitunter treten neuralgische Be¬
schwerden, sehr selten passagere Taubheit oder Blindheit auf. Als
interessante Fälle sind teilweise Lähmungen, Rezidive einer in der
Kindheit durchgemachten Chorea, epileptische und hysterische An¬
fälle während der GraVidität von Cazeaux, Andral und Tissot
beschrieben worden. Alles Fälle der älteren Literatur, welche einer
Nachprüfung nicht mehr zugänglich sind. Für die häufigeren Be¬
schwerden der Gravidität ist eine physiologische Erklärung leicht.
Das Erbrechen ist eine nervöse Reflexerscheinung, durch Reizung der
Bauchganglien verursacht. Ohnmächten und Schwindel sind die Folge
der durch gestörte Blutzirkulation im Abdomen leicht entstehenden
Gehirnanämie. Eine schon auf psychisches Gebiet übergreifende
Störung sind die Gelüste der Schwangeren. Sie finden eine
glaubhafte Erklärung in der Annahme, daß die Sekretion des Magen¬
darmtraktes verändert ist und dadurch auch die Qualität der Appetit¬
vorstellungen verändert wird. Diesbezüglich waren schon die älteren
Autoren von vernünftigen Vorstellungen geleitet. Jörg z. ß. sagt:
früher glaubte man die Gelüste alle befriedigen zu müssen, um dem
Fötus nicht zu schaden. Doch entstehen die Gelüste aus der Ver¬
mehrung des Darmsaftes wegen vermehrten Nahrungsbedürfnisses und
erstrecken sich auf durch bestimmte chemische Eigenschaften ausge¬
zeichnete Nahrungsmittel. Seit man das wisse, spielen auch die Ge¬
lüste eine geringere Rolle. Wenn Schwangere Stehlsucht und ähn¬
liches zeigen, beruhe das auf Wahnsinn oder böser Neigung. Früher
konnte dagegen der Glaube, daß alle Gelüste erfüllt werden müssen,
zu solchen Verirrungen führen, die Schwangeren glaubten, sich alles
erlauben zu können. Die Schwangere könne sich ebensogut be¬
herrschen wie andere. Marcö hat später die gleiche Ansicht ausge¬
sprochen: die Schwangerschaft kann Gelüste nach bestimmten
Nahrungsmitteln durch eine Verdauungsstörung bervorrufen, nicht
aber den Drang zu stehlen, nach feinen Kleidern und dergl. Er
zitiert ein altes Gutachten der Fakultät von Halle, welches lautete,
daß eine krankhafte Geistesstörung in der Schwangerschaft möglich
sei, daß aber im Einzelfalle nur die persönliche Untersuchung ein
Urteil erlaube, die Tatsache der Schwangerschaft nichts beweise. Die
weitere Entwicklung der psychiatrischen Erfahrung hat erwiesen, daß
die mitgeteilte Ansicht Jörgs die richtige ist, denn seit der Aber¬
glauben, daß es schädlich sei, einer Schwangeren die Erfüllung eines
Wunsches zu versagen, seine Kraft verloren hat, sind die Fälle dieser
Art sehr selten geworden. Dörfler berichtet nach Casper, daß
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IX. Bischokf
eine Schwangere das Gelüste hatte, in den Arm eines Schlächters zu
beißen, eine andere, Ohrfeigen zu geben. In einer Diskussion über
Warenhausdiebinnen sagte Weigand 1906, daß ihm bei Schwangeren
eine krankhafte Kauflust bekannt sei, die Lehrbücher begnügen sieh
heute damit, zu erwähnen, daß Zwangsideen manchmal in der
Schwangerschaft beginnen. Wir können also daran festhalten, daß
die Gelüste der Schwangeren zum Teile aus den körperlichen Ver¬
änderungen der Gravidität in physiologischer Weise entstehen, zum
Teile als Unarten zu bezeichnen sind, welche nicht wie krankhafte
Erscheinungen der Willkür entzogen sind, sondern bei entsprechendem
Wollen unterdrückt werden können. Das Gleiche gilt von den beiden
von Cazeaux erwähnten Schwangeren; die eine liebte ihren Gatten,
wurde aber in der Gravidät von Widerwillen gegen ihn erfüllt, die
andere bekam im 5. Monat plötzlich Abscheu vor ihrer Wohnung
und mußte den Rest der Schwangerschaft auf dem Lande zubringen.
Auch da dürfte der Ausspruch Jörgs Geltung haben: die Schwangere
kann sich ebensogut beherrschen, wie eine andere, v. Krafft-
Ebing, der die Grenzen des Pathologischen im Geistesleben gewiß
so weit zog, als es bei dem damaligen Stande der Wissenschaft mög¬
lich war, kam auf Grund seines Literaturstudiums auch zu dem Re¬
sultate, daß aus den zumeist anekdotenhaften Mitteilungen brauchbare
Schlüsse kaum zu ziehen sind und daß oft einfache verbrecherische
Neigungen als krankhaft erklärt wurden, wenn sie an Schwangeren
auftraten. Nur wenn andere Zeichen der Geistesstörung vorhanden
sind, seien die Gelüste als Teilerscheinung der Krankheit der richter¬
lichen Judikatur zu entziehen. Es ist kennzeichnend, daß v. Krafft-
Ebing über keinen eigenen Fall verfügte und daß auch in den
folgenden Jahrzehnten, soweit ich die Literatur übersehe, die Kasuistik
keine Bereicherung bezüglich der Gelüste der Schwangeren er¬
fahren hat.
Ich komme nun zu den geistigen Veränderungen im
engeren Sinne, welche bei Schwangeren beobachtet
werden. Da ist es nötig, vorerst daran zu erinnern, daß die Stim¬
mung und damit die ganze Geistestätigkeit des Menschen immer unter
dem Einflüsse jener Wahrnehmungen und Vorstellungen stehen, welche
von dem Bewußtsein als dem Ich förderlich oder hemmend erkannt
werden. Daher ist die Geistestätigkeit und in erster Linie die Stim¬
mung jedes Menschen von den äußeren Lebensverhältnissen, in welchen
er sich gerade befindet, abhängig. Und zwar wirken ändernd die
Veränderungen dieser Verhältnisse, nachher kehrt die Stimmung in¬
folge der Anpassungsfähigkeit allmählich in ihre mittlere Lage zurück.
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Der Geisteszustand der Schwangeren und Gebärenden.
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Aus dieser allbekannten Tatsache hat noch niemand geschlossen, daß
solche durch äußere Veränderungen „verstimmte“ Menschen geistes¬
krank oder auch nur weniger gesund wären als andere, die sich ge¬
rade in ihrer mittleren Stimmungslage befinden. Wenn wir uns daran
erinnern, wird es nicht schwer sein, die bei Schwangeren manchmal
beobachteten geistigen Veränderungen zu qualifizieren.
Die Stimmung der Schwangeren ist in manchen Fällen gegenüber
der mittleren Stiramungslage verändert. Selten wird die Frau in der
Schwangerschaft heiterer, öfter wird sie leicht deprimiert oder verzagt
oder reizbar. So weit ich die Sache aus eigener, allerdings begrenzter
Erfahrung beurteilen kann, treten diese Stimmungsänderungen dann
auf, wenn das Bewußtsein der Gravidität beunruhigend auf die
Schwangere wirkt: bei Erstgeschwängerten und bei Frauen, welche
schon schwere Entbindungen durchgemacht haben, sowie bei jenen,
welchen die Tatsache der Schwangerschaft aus irgend einem Grunde
unangenehm ist. Ehelich geschwängerte, denen Nachkommenschaft
erwünscht oder wenigstens nicht unwillkommen ist, die keinen Anlaß
haben, mit Angst ihrer Entbindung entgegenzusehen, behalten ihre
gewöhnliche Stimmung und ebenso die große Mehrzahl der ledigen
Schwangeren, die hoffen können, ihr Verhältnis einmal zu legitimieren.
Nach meiner Erfahrung muß ich es als unverantwortliche Übertreibung
bezeichnen, wenn Äußerungen über die Stimmung der Schwangeren,
wie die oben zitierte Jörgs, veröffentlicht werden, fast keiner der
Autoren hat es sich versagen können, derartige Phrasen in seine Ar¬
beit aufzunehmen. Marcö z. B. sagt, obwohl er schon der Ansicht
war, daß die Schwangerschaftspsychosen und die Verstimmungen der
• Schwangeren verschiedenen Ursprungs sind, daß letztere durch die
Unlustgefühle der ledig geschwängerten u. a. erzeugt werden: die
meisten Schwangeren sind niedergeschlagen, von Angst vor der Ge¬
burt erfüllt, glauben, dem Tode entgegenzugehen, fürchten, das Kind
werde entstellt sein. Zur Melancholie sei von da nur ein Schritt
Solche Äußerungen müssen ganz falsche Vorstellungen erwecken
und es ist vergeblich, wenn dieselben Autoren später sagen, die
Schwangere sei gewöhnlich geistesgesund. Solche Sätze prägen sich
ein und werden im Gerichtssaale aus dem Zusammenhänge heraus¬
gerissen als Argumente der Verteidigung verwertet. Man kann daher
nicht nachdrücklich genug betonen, daß diese Verstimmungen nicht
krankhafter Natur sind, sondern als physiologische Reaktion auf die
äußeren Umstände gelten müssen. Jedermann findet es selbstverständ¬
lich, daß ein Prüfungskandidat nervös, ängstlich, aufgeregt, kurz seiner
Anlage entsprechend in seiner Stimmung verändert ist, niemand
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IX. Bi.-i hoff
wundert sieh, wenn ein ertappter Verbrecher sich nicht in seiner nor¬
malen Stimmung befindet und man würde mit Recht ausgelacht
werden, wenn man in diesen Verstimmungen Spuren einer Geistes¬
krankheit suchen wollte. Es liegt kein Anlaß vor, die Stimmungs¬
änderungen der Schwangeren von einem anderen Gesichtspunkte zu
betrachten. Wir können im Gegenteile beweisen, daß die Ver¬
stimmungen der Schwangeren keine Verwandtschaft mit Geisteskrank¬
heiten haben.
Einerseits lehrt die Erfahrung, daß nur jene Schwangeren ver¬
stimmt sind, welche ein psychologisches Motiv dazu haben. Darauf
wird noch zurückzukommen sein.
Andererseits wissen wir, daß aus den Verstimmungen keine
Geisteskrankheiten entstehen. Wenn dies der Fall wäre, müßte die
Zahl der in der Gravidität erkrankten Frauen relativ größer sein als
die Zahl der im nichtschwangeren Zustande erkrankten Frauen.
Endlich ist es bekannt, daß die Verstimmungen im Laufe der
Schwangerschaft geringer werden, während die Graviditätspsychosen
sie fast immer überdauern. Die Verstimmung stellt sich ein, wenn
die Schwangere sich ihres Zustandes bewußt wird und von dieser
Erkenntnis unangenehm berührt wird. Sie findet sich aber mit der
Zeit in ihre Lage und damit ist auch die Ursache ihrer Verstimmung
behoben, die Stimmung wird wieder eine normale.
Es sprechen also mehrere Argumente dafür, daß die Ver¬
stimmungen der Schwangeren nichts anderes sind, als
die dem Charakter der Person entsprechende normale
Reaktion auf die Umwälzungen, welche die Gravidität
in dem Bewußtseinsinhalte der Frau oft herbeiführt.
Die Erfahrung entspricht dieser Ansicht. Wenn eine Frau den
Wunsch hat, ein Kind zu bekommen oder wenigstens keinen Grund
hat, vor dem kommenden Ereignis zurückzuschrecken, bleibt sie auch
von Verstimmungen verschont. Das haben auch die älteren Autoren
gewußt. Marce sagt, daß für solche Schwangere die Schwanger¬
schaft ein Glück ist, Roustan findet, daß die gesunde Schwangere
die Schwangerschaftsbeschwerden freudig in Erwartung des Kindes
trägt. Das sei besonders bei verheirateten Frauen der mittleren
Klassen der Fall. Aus meiner Erfahrung weiß ich, daß bei Ver¬
stimmung immer ein psychisches Motiv vorhanden ist, entweder be¬
gründete oder unbegründete Angst vor den Gefahren der Entbindung
oder Unzufriedenheit mit der Tatsache der Gravidität. Beunruhigt
fühlen sich Frauen, die schon eine schwere Entbindung mitgemacht
haben, aber auch nervöse, zu Ängstlichkeit geneigte Erstgebärende.
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Der Geisteszustand der Schwangeren und Gebärenden.
119
Wenn die Lebensverhältnisse knappe sind, trüben Sorgen um die Zu¬
kunft die Stimmung. Für die ganz Armen bedeutet die Schwanger¬
schaft ein Unglück, es wird dieses aber meist leicht ertragen, weil
diese Leute im Elend abgehärtet sind und wissen, daß die ihnen un¬
erträgliche Last ihnen von der Gesellschaft abgenommen wird. Ver¬
heiratete Frauen, die im Ehebruch geschwängert sind, können dadurch
eine Gemütserschütterung erleiden. Von viel größerer Bedeutung
sind aber wegen ihrer Häufigkeit die psychischen Insulte, von welchen
ledige Schwangere betroffen werden, sobald sie sich ihres Zustandes
bewußt werden.
Die Schwangerschaft bedeutet bei allen Kulturvölkern und auch
bei vielen s. g. Naturvölkern, bei den höheren Ständen wie in der
dienenden Klasse eine Schande und Entwertung für eine Ledige; ab¬
gesehen von den höheren Ständen allerdings mit der Ausnahme, daß
die Verlobung mit dem Kindesvater das Verhältnis legitimiert. Neben
den im Volksbewußtsein festwurzelnden Begriffen von Frauenmoral
sind es volkswirtschaftliche Erfahrungen, welche dieser Sitte zu so
allgemeiner Verbreitung verholfen haben. Wo der Kindesvater sich
als solcher nicht bekennt oder gar nicht bekannt ist, ist niemand da,
der für die Kosten der Erziehung des Kindes aufkommt und es liegt
daher im Interesse des Volkes, diese Fälle so selten als möglich zu
machen. Wir sehen daher auch bei tieferstehenden Völkern, welche
das Recht des Kindes zu leben noch nicht anerkannt haben, daß ein
uneheliches Kind entweder getötet oder durch die Heirat der Eltern
legitimiert werden muß. Nach Perrone-Capano werden in Austra¬
lien die unehelichen Kinder getötet, weil niemand sie aufziehen kann
und die Mutter, wenn das Kind am Leben bliebe, nicht heiraten
könnte. Die Mongolin verkehre sexuell frei, wenn sie aber schwanger
werde, heirate sie oder, wenn das nicht ginge, entledige sie sich des
Kindes durch Abortus oder durch Tötung gleich nach der Geburt.
In Tahiti habe der Vater das Recht, das Kind zu töten, wenn er es
am Leben lasse, gelte er als verheiratet. Die Indianer des Westens
nennen ein Kind unbekannten Vaters Kind des Teufels und geben
der Mutter das Recht, es zu töten. 80 einfach kann die Frage bei
Kulturvölkern nicht gelöst werden, daher wird die wirksame Präventiv¬
maßregel des Ehrverlustes in die entstandene Lücke gestellt.
Eine Schwangere wird daher, wenn sie nicht erwarten kann, ihr
Verhältnis zu legitimieren, in dem Augenblicke, in dem sie sich ihres
Zustandes bewußt wird, von einem mächtigen psychischen Insult be¬
troffen und sieht Schande und Entehrung für ihr ganzes Leben drohen.
Je höher ein Mädchen moralisch steht, desto heftiger ist dieser Insult.
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120
IX. Bischoff
So manche können die Schande nicht ertragen und enden durch
Selbstmord. Die nächste Sorge ist aber fast immer darauf gerichtet,
die Schwangerschaft zu verheimlichen. Es regt sich die
Hoffnung, durch Fehl- oder Totgeburt von der Schande befreit zu
werden, oft wird der Versuch, die Frucht abzutreiben mit geeigneten
oder ungeeigneten Mitteln, unternommen. Einige finden sich wohl
auch resigniert in ihr Elend und diese können der Zukunft mit Ruhe
entgegensehen. Die anderen müssen sich fortwährend in einer äußerst
peinlichen Gemütsverfassung befinden und können während der ganzen
Gravidität nicht zur Ruhe kommen. Sie müssen sich aber überwinden
um sich nicht zu verraten, und sie haben die Kraft dazu. Sie machen
ihren Seelenkampf geheim durch, klammern sich wohl oft zum Tröste
an die Hoffnung auf irgend einen Zufall, der ihnen Hilfe bringen
werde. Es bildet sich ein eigentümlicher Konflikt zwischen dem
Wunsche, von dem Kinde befreit zu werden und dem Muttergefühle
aus, welches die Schwangere treibt, mit freudiger Erwartung der
Niederkunft entgegenzugehen. Manchmal, wohl nur selten, denkt die
Schwangere schon lange vor der Entbindung daran, das Kind zu
töten, meist geht aber aus dem Kampfe der Gedanken und Gefühle
kein Entschluß hervor, die Schwangere versucht, sich selbst zu
täuschen, sich einzureden, sie sei nicht in der Hoffnung, die Ent¬
bindung sei noch weit und dergleichen.
Es ist ein Unglück für die Schwangere, wenn es ihr gelingt,
ihren Zustand bis zur Entbindung zu verheimlichen. Ist sie einmal
entdeckt, so hat sie das Schlimmste auch schon überstanden. Das
Gewitter hat sich entladen und die Beteiligten fügen sich in das Un¬
abänderliche. Nur wenn die Schwangere unter der Aufsicht harter
Eltern steht, die sie nun erst für den Fehltritt büßen lassen, ist es
anders. Dies alles ist schon seit Jahrhunderten bekannt und hat s. Z.
zu gesetzlichen Bestimmungen Anlaß gegeben. Im Art. 87 der
Theresiana finden sich folgende, den Gegenstand trefflich charakteri¬
sierende Sätze.
§ 8. Und zumalen die mehresten Kindermorden von daher ihren
Ursprung genommen, weil l. die zum Fall gebrachte Weibspersonen
die ihnen bevorgestandene öffentliche Schandstraffen beförchtet, dann
2 . weilen ihre Zuhalter sie treulos verlassen, und solch geschwächte
Weibspersonen von darumen in Kleinmuth und Verzweiflung gerathen,
oder 3. weilen sie geglaubet, daß ihre Schwangerschaft gänzlich ver¬
borgen sejo, und durch Vertilgung ihrer Leibesfrucht verhüllet bleiben
möge; so sind wir zwar keinerdings gesinnet, das Laster der Un¬
zucht .... ungeahndet dahingehen zu lassen, sondern wir wollen
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Der Geisteszustand der Schwangeren und Gebärenden. 121
vielmehr, daß solchen Uebel auf allmögliche Weise gesteuret . . .
werde.“ Zu diesem Zweck wurde folgendes bestimmt: 1. Geheime
häusliche Bestrafung der unehelichen Schwängerung, wenn die Ge¬
schwängerte ihren Eltern gesteht. 2. Die Zuhälter sollen verhalten
werden, die notwendigen Veranstaltungen für die Niederkunft und
die Versorgung des Kindes zu treffen, sie aber nicht boshaft zu ver¬
lassen. 3. Die Hausleute etc. sollen ihre Wahrnehmungen über die
Schwängerung geheim den Eltern, Verwandten etc., wenn keine Vor¬
bereitungen für die Niederkunft getroffen werden, dem Gerichte mit-
teilen. Die Eltern sollen gegen die Geschwängerte nicht hart sein,
sollen Vorbereitungen für die Niederkunft treffen, ebenso die Be¬
hörden, welche die Schwangere gelinde zu strafen haben. 4. Die
Behörden haben die Eltern etc. von zu großer Härte geheim abzu¬
halten und sie zur Hilfeleistung zu verhalten. 5. Wenn die Schwan¬
gere nicht in die Heimat befördert werden kann, hat die Wohn-
gemeinde sie wie Arme während des Wochenbettes zu versorgen.
Die Hebammen waren verpflichtet, unehelich Schwangere in
Evidenz zu halten. Nach der k. sächsischen Hebammenordnung vom
Jahre 1818 war die Hebamme verpflichtet jeden Fall von Schwanger¬
schaft einer Ledigen der Obrigkeit, auf dem Lande dem Prediger
anzuzeigen. Jörg wollte, weil das in größeren Städten nicht durch¬
führbar ist, hier die Hausherren verpflichten, ihre diesbezüglichen
Beobachtungen der Polizei oder besser einer Hebamme mitzuteilen.
Die Anschauungen von den Menschenrechten haben sich seither
sehr geändert und die Strafbestimmungen über den außerehelichen
Geschlechtsverkehr, deren Ungerechtigkeit nur von sehr naiven Gesetz¬
gebern übersehen werden konnte, wurden hinweggefegt, mit ihnen
auch die Versuche, die ledigen Schwangeren unter Kontrolle zu stellen
und sich ihrer anzunehmen.
An Stelle der Präventivmaßregeln wurde in den Gesetzgebungen
des 19. Jahrhunderts eine mildere Bestrafung des Kindesmordes an
Ledigen gesetzt, wodurch die geschilderten Verhältnisse als mildernde
Umstände genügend berücksichtigt sind.
Es ist also schon lange bekannt, daß ledige Schwangere oft
schweren psychischen Insulten ausgesetzt sind, und es ist leicht be¬
greiflich, wenn man glaubte, daß sie durch diese Insulte zu geistiger
Erkrankung disponiert werden. Ein Beweis für diese Annahme ist
aber nie erbracht worden. Er wäre erbracht, wenn statistisch nach¬
gewiesen würde, daß relativ bedeutend mehr vom Liebhaber ver¬
lassene als andere Schwangere an Graviditätspsychosen erkranken.
Es sind mir nur zwei Versuche bekannt geworden, diese Frage zu
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122
IX. Bischofk
lösen, welche beide ein negatives Resultat ergeben haben. Unter
2000 Fällen bat Gream in Queen Cbarlottes Lying-in Hospital elf¬
mal Geistesstörung beobachtet, er führte die hohe Zahl darauf zurück,
daß dort viele vom Verführer verlassene Mädchen entbinden. Da in
dieser Zahl auch die nach der Entbindung ausgebrochenen Psychosen
mitgezählt sind, ist ein Rückschluß auf die Häufigkeit der Graviditäts¬
psychosen nicht erlaubt. Marce fand unter 19 Fällen von Graviditäts¬
psychosen vier, in welchen es sich um verlassene Mädchen resp. um
Ehebruch handelte. Diese Zahl ist so gering, daß sie gewiß nicht
für die stärkere Disposition der verlassenen Schwangeren spricht.
Eine größere Statistik scheint nicht vorzuliegen und wir müssen da¬
her diese Frage nach der allgemeinen Erfahrung beurteilen. Diese
lehrt, daß die Zahl der Ledigen, welche gegen ihren Wunsch
schwanger werden, sehr groß ist. Beweis dafür die allbekannte
Häufigkeit der gelungenen Fruchtabtreibungen. Es sind also sehr
viele Mädchen den in Rede stehenden psychischen Insulten ausgesetzt.
Andererseits wissen wir, daß die Zahl der in der Gravidität erkrankten
Frauen überhaupt nicht größer ist, als die der außerhalb dieser er¬
krankten. In der großen Mehrzahl der Fälle verursacht der psychi¬
sche Insult daher keine Alienation, denn sonst müßte die Zahl der
Schwangerschaftspsychosen größer sein.
Zur Erläuterung des Gesagten mag z. B. die Statistik Wiens
dienen:
In Wien finden jährlich rund 55 000 Geburten statt. Von den
etwa 1000000 Frauen Wiens sind daher in einem Jahr 5,5 Prozent
schwanger und in Anbetracht der Dauer der Schwangerschaft von
9 Monaten an einem gegebenen Tage davon, das ist 3,75 Proz.
Von 100 geisteskranken Frauen sind drei während der Schwanger¬
schaft krank geworden, gewiß nicht mehr, das beweisen zahlreiche
Statistiken, die beiden Zahlenverhältnisse sind nahezu identisch und
beweisen, daß eine merkbare Steigerung der Disposition zu geistiger
Erkrankung durch die Gravidität nicht bewirkt wird.
Es ist gewiß merkwürdig, daß auch die schweren Gemütser¬
schütterungen vieler ledigen Schwangeren nur äußerst selten von einer
Geisteskrankheit gefolgt sind. Doch kann dieser Satz mit voller
Sicherheit ausgesprochen werden, denn die exakte Statistik der Irren-
pflcge und die hohe Ausbildung des Anstaltswesens in Deutschland
hat dahin geführt, daß nur mehr ein verschwindend kleiner Teil der
Geisteskranken überhaupt und damit auch der in der Gravidität er¬
krankten Frauen der psychiatrischen Beobachtung entgeht.
Auf Grund der sicheren Erfahrung können wir daher heute sagen,
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Der Geisteszustand der Schwangeren und Gebärenden.
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in der Norm erleidet die Schwangere keine Störung ihrer
Geistestätigkeit. Ja, sie erträgt die körperlichen und nervösen
Beschwerden der Gravidität so leicht, daß man anzunehmen geneigt
ist, die Frau sei von Natur geschützt gegen diese schwächenden und
schmerzhaften Einflüsse. Nur jene Frauen, welche zur geistigen Er¬
krankung disponiert, durch angeborene oder erworbene Anlage reif
zur Erkrankung sind, werden mitunter infolge der Schwangerschafts¬
beschwerden geisteskrank. Daß gerade bei den Graviditäts¬
psychosen die vorbestehende Disposition eine sehr wich¬
tige und die Gravidität nur eine nebensächliche Rolle
spielt, hat auch Klix betont, indem er fand, daß bei ihnen die erb¬
liche Belastung mehr hervortritt als bei den Puerperalpsychosen.
Sie erkranken dann an jener Psychose, zu welcher sie schon vorher
disponiert waren. Es kann in der Schwangerschaft eine bereits vor¬
bereitete Paranoia ausbrechen, es tritt ein neuer Anfall einer periodi¬
schen Psychose, ein neuer Schub einer Katatonie auf, es wird eine
schlummernde Paralyse manifest, alle diese Psychosen unterscheiden
sich aber in Symptomen und Verlauf nicht von gleichartigen Er¬
krankungen nicht Schwangerer. Ein Einwand könnte allerdings ge¬
macht werden, er erweist sich aber bei näherem Zusehen als nicht
stichhaltig. Es scheint nämlich, daß bei geisteskranken Schwangeren
die melancholischen Zustandsbilder häufiger sind als sonst. Darin
äußert sich gewiß ein Einfluß der Gravidität auf die psychischen Vor¬
gänge, doch trifft dieser Einfluß nicht das Wesen des Krankheits¬
prozesses selbst. Die Symptome, in welchen sich eine Psychose
äußert, sind vielfach von zufälligen Umständen abhängig, welche zu
der Ursache der Krankheit in keiner Beziehung stehen. So verhält
es sich auch bei den Schwangerschaftspsychosen.
Man könnte theoretisch unterscheiden zwischen Psychosen, welche
rein zufällig während der Schwangerschaft ausbrechen und solchen,
die bei Disponierten durch die Schwangerschaft ausgelöst werden.
In der Praxis ist diese Unterscheidung nicht durchführbar und auch
ohne Bedeutung.
Wenn eine Psychose in der Schwangerschaft ausbricht und nach
der Entbindung rasch zur Heilung kommt, ist an dem Zusammen¬
hänge nicht zu zweifeln. Es wäre aber verfehlt, aus diesem Um¬
stande zu schließen, daß die Gravidität die alleinige Ursache der Er¬
krankung war. Es liegen da ähnliche Verhältnisse vor, wie bei den
menstruellen Psychosen, bei welchen die Menstruation nur als aus¬
lösendes Moment aufgefaßt werden kann. Ein Beispiel von Marce
illustriert das Gesagte gut: Eine Frau wurde während ihrer zehn
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IX. Bischoff
Schwangerschaften immer ängstlich, 2 Jahre nach der letzten Gra¬
vidität wurde sie geisteskrank. Die vorhandene psychopathische
Disposition verursachte hier nicht während der Schwangerschaft,
sondern erst später, als offenbar ein stärkeres auslÖsend,es Moment
wirksam wurde, eine ausgesprochene Psychose, während die Ver¬
änderungen der Gravidität nur hinreichten, leichte psychotische Er¬
scheinungen auszulösen. Schon Marcö hat gefunden, daß sich die
Psychosen der Schwangeren in Verlauf und Prognose nicht von den
Psychosen nicht Schwangerer unterscheiden. Kurzdauernde Psychosen
sind in der Gravidität sehr selten, die Heilung erfolgt fast nie vor
der Entbindung. Andererseits hat diese keinen Einfluß auf den Ver¬
lauf der Geisteskrankheit. Dies wußte schon Marcö, der aus der
Literatur und seinem eigenen Materiale reiche Erfahrungen sammelte.
Daher erklärte schon dieser Autor die Einleitung der Frühgeburt be¬
hufs Heilung einer Psychose für verpönt.
In manchen, wenn auch seltenen Fällen besteht ein engerer Zu¬
sammenhang zwischen Gravidität und Psychose, und zwar muß er
dann angenommen werden, wenn die Psychose ohne anderen Anlaß
in der Gravidität auftritt, etwa auch bei jeder neuen Schwangerschaft
wiederkehrt und jedesmal nach der Entbindung schwindet. Marc6
hat diese Fälle von den anderen abgesondert und als sympathische
Psychosen bezeichnet, wobei er ausdrücklich hervorhob, daß sie nicht
während der Schwangerschaft, sondern nur an dem Eintritte der
Heilung mit dem Ende der Schwangerschaft zu erkennen sind. Nach
meiner Überzeugung ist dieser Zusammenhang nicht inniger, als der
zwischen Pubertät, Menstruation oder Klimakterium und Psychose.
In allen diesen Fällen kommt man ohne die Annahme einer Prä¬
disposition nicht aus und in vielen davon liegt diese auch klar zu
Tage. Nie sind wir berechtigt, die genannten körperlichen Vorgänge
als einzige Krankheitsursache zu bezeichnen, wie etwa ein Kopf¬
trauma die alleinige Ursache der Epilepsie oder die Alkoholvergiftung
die alleinige Ursache des Kauschzustandes ist. Eine vorbestehende
Veranlagung müssen wir in allen Fällen von Graviditätspsychose an¬
nehmen, immer ist die Schwangerschaft nur das auslösende Moment.
Es können also bei Prädisponierten die verschiedensten Formen der
Geisteskrankheit auftreten und auch Neurosen, epileptische und hysteri¬
sche Anfälle wurden schon während der Schwangerschaft beobachtet
bei Frauen, welche sonst gesund waren.
Während gewöhnlich eine bestehende Psychose durch die
Schwangerschaft nicht beeinflußt wird, konnte in einigen Fällen von
menstruellen Psychosen und von Epilepsie mit Anfällen zur Zeit der
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Der Geisteszustand der Schwangeren und Gebärenden.
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Menstruation beobachtet werden, daß die Frau während der Dauer
der Schwangerschaft von der Krankheit verschont blieb. In Fällen,
wo der Krankheitsanfall durch die Menstruation ausgelöst wird,
bleiben mit der Menstruation während der Gravidität auch die Krank¬
heitsanfälle aus.
Die forensische Bedeutung der Schwangerschaft kann
nach dem Gesagten mit wenigen Worten erledigt werden. Da man
nicht annehmen kann, daß während der Gravidität die Frau häufiger
geisteskrank ist, als außerhalb dieser, darf bei der Untersuchung
des Geisteszustandes einer Graviden keine Voreingenommenheit zu
Gunsten der Annahme einer Geistesstörung obwalten und ist das
Gutachten wie sonst nur auf die erhobenen Tatsachen zu gründen.
Ein Behelf zur Auffindung einer schwer erkennbaren Geistesstörung
kann die Feststellung werden, daß die Untersuchte schon während
einer oder mehrerer früheren Schwangerschaften geisteskrank war.
Schwangere sind gewiß häufiger kriminell als andere Frauen.
Und zwar sind einige Delikte gewissermaßen typisch für Schwangere:
die Fruchtabtreibung und die Attentate meist auf den unehelichen
Vater des Kindes, wenn er die Schwangere verlassen hat. Beide
Delikte gehen aus der Situation und der durch diese bedingten
Gemütslage und Verstandestätigkeit hervor, finden daher ihre Er¬
klärung auf psychologischem Wege. Psychopathische Zustände
interkurrieren dabei nicht häufiger als bei ähnlichen Delikten Nicht¬
schwangerer.
Die Fruchtabtreibung wird von der Überlegung hervor¬
gebracht, welche zur Erkenntnis führt, daß die Vollendung der
Schwangerschaft Schande oder Not bringen oder andere bedeutende
Nachteile bringen würde. Sie wird so gut wie immer in vollständig
ruhiger Gemütsverfassung ausgeführt. Prostituierte machen einer
Schwängerung mit seltenen Ausnahmen durch künstlichen Abortus ein
Ende, weil sie durch die Fortsetzung der Gravidität für längere Zeit
von der Ausübung ihres „Berufes“ abgehalten wären, also aus rein
materiellen Gründen.
Bei den „verführten“ Mädchen ist das Motiv der Fruchtabtrei¬
bung die Furcht vor Schande, deren verschiedene Ausdrucksformen
in den einzelnen Fällen zu erörtern überflüssig ist. Gewiß ist aber
nicht immer die Furcht vor Schande, sondern nicht selten auch Furcht
vor den nachteiligen materiellen Folgen des Wochenbettes und den
Kosten und Beschwerden der Kindeserziehung das Motiv der Frucht¬
abtreibung. Dieses Motiv ist es auch, welches nicht selten ver¬
heiratete Frauen zur Fruchtabtreibung veranlaßt.
Archiv für KriminAlanthropoiogfie. 29. Bd. 9
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IX. Bischoff
Die Rücksicht auf das keimende Leben dürfte in der Überlegung
welche dem Delikte vorausgeht, wohl bei keiner Schwangeren in
Betracht kommen, wenn die Fruchtabtreibung in der ersten Hälfte
der Schwangerschaft vorgenoramen wird, in welcher Zeitder Schwangeren
die Empfindung, etwas Lebendes in sich zu tragen noch fehlt Der
größte Teil der Fruchtabtreibungen geschieht in dieser Zeit. Viele,
die zum Arzte oder zur Hebamme mit dem Ansinnen kommen, ihnen
die Frucht abzutreiben, erklären, wenn sie abgewiesen werden, die
Abtreibung könne nicht strafbar sein, denn es lebe ja noch nichts
in ihrer Gebärmutter. Andererseits ist es so allgemein bekannt, daß
der künstliche Abortus strafbar ist, daß der Versuch möglichst geheim
durchgeführt wird. In Ermanglung einer sachverständigen Anleitung
verfallen manche Frauen auf die sonderbarsten, meist ungeeigneten
Methoden, klettern auf Möbel und springen herab u. dgl. Eine Frau
ließ sich in ihrem Garten ein tiefes Loch graben und sprang wieder¬
holt hinab. Wenn der Abortus im Gange ist, wird meist gegen die
Berufung einer Hebamme oder eines Arztes der heftigste Widerstand
geleistet, ein sicheres Zeichen des Schuldbewußtseins. Das alles
wurde vielfach an Geistesgesunden beobachtet und es begründet daher
auch die Anwendung ungeeigneter oder seltsamer Mittel nicht allein
die Vermutung einer geistigen Abnormität
Natürlich können auch Geisteskranke die Fruchtabtreibung vor¬
nehmen, wenn sie bei klarem Bewußtsein sind. Ob zur Zeit der
Tat eine Geistesstörung vorhanden war, wird der Sachverständige
nicht anders feststellen, als es bei der Beurteilung von strafbaren
Handlungen nicht Schwangerer geschieht.
Bei geisteskranken Frauen tritt erfahrungsgemäß, ohne daß
ein Mittel zur Fruchtabtreibung angewendet worden wäre, häufig
Abortus ein. Dies ist zn berücksichtigen, wenn es sich dämm han¬
delt, festzustellen, ob bei dem Abortus einer Geisteskranken ein Ver¬
schulden einer anderen Person vorliegt.
Die Eifersuchtsdelikte sind aus mehreren, sehr starken
Motiven bei Schwangeren viel häufiger als bei nicht Schwangeren.
Zunächst findet sich der Liebhaber sehr oft in dem Augenblick ver¬
anlaßt, die Geliebte zu verlassen, in welchem er ihre Schwangerschaft
erfährt. Er sucht, der Alimentationspflicht bei Zeiten zu entrinnen.
Die oft unvorteilhafte Veränderung des Aussehens der Schwangeren
wirkt abstoßend auf den Geliebten und begünstigt den Entschluß der
Trennung. Die Geliebte hingegen fühlt ihr Recht auf den Geliebten
in dem Momente, als sie sich von ihm geschwängert weiß, gefestigt
und sie fühlt, wenn der Geliebte sie verläßt, ihr Recht viel mehr
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Der Geisteszustand der Schwangeren und Gebärenden.
127
gekränkt, als die Nichtschwangere in der gleichen Situation, ihre
Eifersucht wird heftiger erregt. Das äußere Motiv zum Eifersuchts¬
delikt ist daher bei Schwangeren öfter vorhanden als sonst und das
innere Motiv ist bei ihnen stärker als bei Nichtschwangeren. Gekränkte
Liebe, Furcht vor der bevorstehenden Schande, vor materieller Not
erzeugen in der Verlassenen Empörung und Rachsucht gegenüber dem
gewesenen Geliebten und bringen den Entschluß, sich zu rächen, zur
Reife. Oft wird die Tat in einer heftigen Affektwallung verübt,
welche durch einen letzten mißglückten Versuch, den Geliebten wieder¬
zugewinnen, verursacht wird. Die Vorgeschichte und die Art der
Ausführung dieser Delikte sind, wie die Kasuistik ergibt, bei Schwan¬
geren und bei Nichtschwangeren geradezu identisch. Bei beiden wird
der Milderungsgrund des Affektes sehr oft in vollem Ausmaße zu¬
gebilligt werden müssen, dagegen ist man nicht berechtigt, aus dem
Umstande, daß die Attentäterin schwanger ist, zu schließen, daß sie
weniger geistesgesund wäre als eine Nichtschwangere.
Die Eifersuchtsdelikte sind so häufig, so einförmig und so allgemein
bekannt, daß es überflüssig erscheint, hier Beispiele zu bringen. Es
wäre sehr leicht, durch die Gegenüberstellung von derartigen Delikten
Schwangerer und Nichtschwangerer zn zeigen, daß eine Sonderung
der Fälle in Delikte Schwangerer und Nichtschwangerer nach keiner
Richtung hin motivierbar wäre.
Wie schon erwähnt, kommen während der Schwangerschaft die
gleichen Formen geistiger Störung vor, die auch sonst beobachtet
werden. Sie bieten in gewisser Beziehung forensisches Interesse und
sollen hier, insoweit das das Fall ist, kurz gestreift werden. Zunächst
ist jene Geistesstörung zu erwähnen, welche wegen äußerer Ähnlich¬
keit zur Verwechslungen mit den schon besprochenen Gelüsten Anlaß
geben könnte: das Irresei n aus Zwangsvorstellungen. Dieses
ist von den Gelüsten streng zu scheiden und dadurch charakterisiert,
daß sich gewisse Vorstellungen, die als krankhafte, dem normalen
Bewußtseinsinhalte fremde erkannt werden, mit nicht zu überwindendem
Zwange aufdrängen und wegen des vergeblichen Kampfes, den der
Befallene gegen sie führt, mit starken Unlustgefühlen verbunden sind.
Dieses Unlustgefühl fehlt bei den Gelüsten und die letzteren werden
auch nicht als fremde Eindringlinge empfunden. Wenn jemand durch
echte Zwangsideen zu einer strafbaren Tat veranlaßt wird, kann er
nicht bestraft werden, weil der freie Vernunftsgebrauch in dieser Form
geistiger Störung aufgehoben ist. Es ist mir aber nicht gelungen,
aus der Literatur einen Fall dieser Art bei einer Schwangeren zu
f
erheben, der zur forensischen Beurteilung gekommen wäre. Auch
!)*
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IX. Bischoff
meine persönlichen diesbezüglichen Erhebungen sind ergebnislos geblie¬
ben. Dagegen sind mehrere Fälle bekannt, in welchen bei Schwangeren
Zwangsideen vorhanden gewesen sein dürften, ohne zu einer straf¬
baren Handlung geführt zu haben. Die Schwangeren mit Zwangs¬
ideen verhalten sich also wohl gleich den Nichtschwangeren mit diesem
leiden, welche meist dem Zwange nicht weiter folgen, als es Gesetz
und Moral erlauben. Ein derartiger Fall, eine Schwangere betreffend,
ist von Iscovesco mitgeteilt worden:
Eine mit Degenerationszeichen behaftete Schwangere fühlte den
Impuls zum Kindesmorde und ging, um dem Zwange nicht zu unter¬
liegen, um unter ständiger Aufsicht während der Geburt zu sein, in
die Salpetrtere. Das Bewußtsein der krankhaften Natur der Impulse
führt diese Kranken dahin, alles daran zu setzen, die Impulse nicht
zur Ausführung gelangen zu lassen und dies vermindert die foren¬
sische Bedeutung dieser Fälle außerordentlich.
Wenn auch die verschiedensten Geisteskrankheiten in der
Schwangerschaft auftreten, so scheint doch die Schwangerschaft das
Zustandsbild oft zu beeinflussen, indem hier häufiger als sonst depres¬
sive Verstimmungen auftreten dürften, Die Ursache dieser Erschei¬
nung ist nicht bekannt, ich unterlasse es, die zahlreichen darüber
geäußerten Vermutungen zu besprechen oder neu zu erwähnen, weil
dieser Frage keine praktische Bedeutung zukorarat. Wichtig ist aber
die Häufigkeit der melancholichen Krankheitsbilder in der
Schwaugerschaft, weil durch die melancholische Verstimmung oft
Mord- und Selbstmordversuche veranlaßt werden. Bei Schwangeren
ist speziell die Gefahr der Selbtverstümmlung gegeben. Ein Fall
meiner Beobachtung gehört hierher:
Ein Dienstmädchen wurde in folge eines gleich bereuten Fehl¬
trittes schwanger. Sie erkrankte schon im Beginn der Schwanger¬
schaft, lange bevor sie sich derer bewußt wurde, an traurig-ängst¬
licher Verstimmung, einzelnen Halluzinationen, und glaubte, Würmer
im Leibe zu haben. Sie bat, man möge ihr den Bauch aufschneiden,
um ihr die Würmer herauszunehmen und wollte sich schließlich
selbst den Bauch aufschneiden, weshalb sie in die Irrenanstalt gebracht
wurde. Erst seit sie sich der Gravidität bewußt war, äußerte sie
Selbstbeschuldigungen darüber, daß sie sich dem Verführer hinge¬
geben hatte.
Roustan erzählt von einer Frau, die in jeder Schwangerschaft
den Verlust ihrer Jungferschaft beklagte und melancholisch wurde
und in der dritten Schwangerschaft sich aus diesem Grunde erhängte.
Insbesondere Familienmorde und Brandlegungen am eigenen
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Der Geisteszustand der Schwangeren und Gebärenden.
129
Hause können durch derartige Erkrankungen Schwangerer veran¬
laßt werden.
Wie oben gesagt, ist die Schwangerschaft nur als auslösendes
Moment zu betrachten, während die eigentliche Erkrankungsursache
die vorbestehende Disposition ist. Marc6 fand als häufige Ursachen
die hereditäre Belastung, frühere Geistesstörung, Anämie, moralische
Erschütterung. Es ist besonders wichtig, daß fast nie als Vorläufer
einer Graviditäts- oder Puerperalpsychose die früher beschriebenen
Verstimmungen und nervösen Störungen der Schwangerschaft beobachtet
wurden. Unter 79 Fällen Marcös waren nur 6mal solche Störungen
angegeben. Man sieht auch hier, daß keine engere Verwandtschaft
zwischen diesen Zuständen besteht. Unter Marces Fällen befanden
sich auffallend viele Multiparae und über 30 Jahre alte Frauen. Auch
dies weist auf die nur sekundäre Bedeutung der Gravidität als Krank¬
heitsursache hin.
Die Beziehungen zwischen Schwangerschaftspsychosen und Ent¬
bindung sollen später besprochen werden.
Wenn die ersten Wehen auftreten, erkennen die Schwangeren
wohl fast ausnahmslos, daß die Entbindung herannaht. Nur unter
gewissen abnormen Verhältnissen kann diese Erkenntnis ausbleiben.
Die Erstgebärenden erkennen es, weil bei ihnen die Wehentätigkeit all¬
mählich an Heftigkeit zunehmend, viele Stunden oder mehrere Tage lang
andauert, so daß sie mit anderen schmerzhaften Vorgängen im Unter¬
leibe nicht verwechselt werden kann, die Mehrgebärenden kennen die
Zeichen der Entbindung schon aus eigener Erfahrung. Bei den Natur¬
völkern weiß die Frau so gut, wann ihre Zeit herannaht, daß sie je
nach den Gebräuchen des Volkes entweder einen einsamen Ort oder
die Gebärhütte aufsucht oder die bei der Geburt gebräuchlichen Zeremo¬
nien veranlaßt. Plöß hat unzählige Berichte von Forschung^
reisenden darüber gesammelt. Es wissen daher auch die Frauen der
Naturvölker, deren Entbindung gewiß durchschnittlich viel leichter
verläuft, wann sie herannaht.
Die tägliche Erfahrung lehrt, daß die Frauen bei uns meist
schon im Beginne der Wehentätigkeit ihre Lage richtig erfassen.
Wenn dies nicht geschieht, sind besondere Gründe dafür vorhanden.
Etwas häufiger mag es Vorkommen, daß eine Schwangere vor
Beginn der Wehen ihren Zustand nicht kennt. Schwachsinnige,
Frauen mit Unterleibsleiden und starker Fettsucht, endlich solche, die
durch Suggestion zur Überzeugung gekommen sind, nicht schwanger
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130
IX. Bisch off
zu sein, kommen hier in Betracht. Letzteres ist leichter bei Erst¬
gebärenden möglich.
Es kann also der Umstand, daß die Schwangere keine
Vorbereitungen für die Entbindung gemacht hat, nicht
immer als Nachweis dafür dienen, daß der Kindesmord
schon vor der Geburt beabsichtigt war.
Dafür, daß in seltenen Fällen die Schwangere bis zur Entbindung
in Unkenntnis ihrer Schwangerschaft bleiben kann, sind einige wohl
beweisende Fälle publiziert. Daß es der Schwachsinn von einem
gewissen Grade an der Frau unmöglich macht, ihren Zustand zu
erkennen, bedarf keiner weiteren Erörterung. Bei mäßigen Graden
von Schwachsinn ist das Verkennen der Schwangerschaft erleichtert
es genügt vielleicht, daß der lebhafte Wunsch besteht, nicht schwanger
zu sein, um die Überzeugung hervorzurufen, daß keine Schwanger¬
schaft bestehe. Denselben Erfolg muß auch bei Geistesgesunden eine
besondere kräftige suggestive Beeinflussung in dem genann¬
ten Sinne haben. Mir ist ein solcher Fall bekannt, in welchem es
sich um Autosuggestion gehandelt hat. Eine Primipara, welche die
Entbindung und ihre Folgen sehr fürchtete, behauptete und redete
sich selbst ein, daß sie nicht schwanger sei und machte auch keine
Vorbereitungen zur Entbindung. Ähnlich verhielt es sich mit dem
Falle Mendes: einem 18jährigen Mädchen hatte ihr Geliebter, ein
Mediziner, eingeredet, daß er die Konzeption verhindert habe. Sie
gab daher nicht zu, schwanger zu sein und setzte sich, als die Wehen
auftraten, auf den Nachtstuhl. Sie wurde bewußtlos gefunden und
kam erst 'j-i Stunde nach Beendigung der Geburt mit der Zange und
Entfernung der Nachgeburt zu sich. Sie hatte keine Erinnerung und
wollte nicht glauben, daß sie entbunden hatte.
Ein etwas dunkler, angeblich mit vorübergehender Sinnesver¬
wirrung nach der Entbindung komplizierter Fall, muß hier ebenfalls
erwähnt werden. Ein Mädchen verschiebt die beabsichtigte Hochzeit,
weil der Arzt sagt, sie sei nicht schwanger. Sie wird von der Entbin¬
dung im Keller stehend überrascht, schneidet den Kopf nach dem Durch¬
schneiden ab und wirft den Körper des Kindes zur Seite. Sie wird
im Keller bewußtlos gefunden, kommt allmählich zu sich und äußert
dann Beue. (HenkersZeitscbrift 1826.) Ich zitiere den Fall hier nur
als Beispiel für die Möglichkeit der Verkennung der Schwangerschaft
in folge suggestiven Einflusses. Die Fehldiagnose eines Arztes ist
gewiß einer starken Suggestionswirkung fähig. Vibert berichtet von
einem ähnlichen Fall. Ein Mädchen wurde im Spital wegen angeb¬
licher Ovarialcyste behandelt und gebar am Abort ein Kind, welches
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Der Geisteszustand der Schwangeren nnd Gebärenden.
131
sie hinunterfallen ließ. Sie hatte geglaubt, was die Ärzte diagnosti¬
ziert hatten.
Brouardel beobachtete eine sehr dicke Frau, welche ihr letztes
Kind gestillt hatte und nichts von der neuen Schwangerschaft wußte.
Der Arzt wurde wegen Bauchschmerzen zu ihr gerufen, als er kam,
war die Entbindung schon vor sich gegangen.')
In seltenen Fällen können solche Schwangere ihren Zustand ver¬
kennen. Habituell unregelmäßige Menstruation, krankhafte Zustände,
welche ev. auch die Ärzte getäuscht haben, Schwachsinn und starke
Suggestiveinflüsse können die Ursache sein.
Es kann aber auch Vorkommen, daß eine Schwangere, die ihren
Zustand kennt, den Beginn oder sogar den ganzen Vorgang der
Entbindung nicht erkennt In einem Falle meiner Beobachtung war
der ledigen Schwangeren sehr daran gelegen, ihren Zustand nicht
öffentlich bekannt werden zu lassen und trotzdem wurde sie (erst¬
gebärend) auf der Straße von der Entbindung überrascht. Montgomery
berichtet über 2 Fälle, in welchen die Frauen im Schlafe entbunden
haben sollen. Dubois über eine Frau, die in der Gebäranstalt
schlief und erst erwachte, als der Kopf schon geboren wurde.
Brouardel sah einen Fall von Abortus im 7. Monate (Zwillinge),
wobei die Frau gar keine Empfindung hatte. Es war Analgesie der
Genitalgegend vorhanden.
Es kommt also bei Geistesgesunden in sehr seltenen Fällen vor,
daß sie gebären, ohne sich dessen bewußt zu sein. Dies ist möglich,
wenn die Wehen wenig schmerzhaft sind und die Entbindung rasch
verläuft. Bei Genitalleiden mit habituellen Schmerzen ist dieses Ver¬
kennen der Wehen leichter möglich, ebenso bei Analgesie in Folge
eines Nervenleidens. Schwangere, die ihren Zustand nicht kennen
oder irrtümlich beurteilen, können den Beginn der Entbindung eher
verkennen, als jene, die sich ihrer Schwangerschaft bewußt waren.
Während alle diese Fälle gewiß sehr selten sind, kommt es wohl
relativ viel häufiger vor, daß Schwachsinnige die körperlichen
Erscheinungen der Entbindung falsch deuten. Diese werden daher
nicht selten unvorbereitet von der Entbindung überrascht und sich
dieser erst dann bewußt, wenn das Kind die Geburtswege verläßt-
Dieser Umstand ist bezüglich des Kindesmordes von großer Bedeu¬
tung, welcher eine ganz außerordentlich viel mildere Beurteilung
verdient, wenn der Entschluß dazu in der Überraschung gefaßt wurde,
1) Einige weitere Fälle s. bei Graf Gleispach (Über Kindesmord), welcher
auch für die Möglichkeit des Vcrkenncns der Gravidität eintritt.
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IX. Bjschoff
die durch eine unerwartete Entbindung gezeitigt wird. Es ergibt sich
daraus für den Gericbtsarzt die Aufgabe, immer alle die Umstände
in Betracht zu ziehen, welche ein Urteil darüber erlauben, ob das
Delikt vorbedacht war oder in der Aufregung über die unerwartete
Entbindung beschlossen wurde.
Geisteskranke sind häufig nicht im Stande, das Herannaben
der Entbindung zu erkennen, wie sie auch nicht selten sich der
Schwangerschaft nicht bewußt sind. Verwirrte und Blödsinnige werden
ihren Zustand wegen mangelnden Verstandes nicht begreifen, bei
Verrückten werden manchmal die vom Uterus ausgehenden Symptome
wahnhaft gedeutet. In einem meiner Fälle glaubte die Schwangere
nicht ein Kind sondern den Teufel im Leibe zu haben und sie ver¬
suchte auch nach der Entbindung das Kind unter die Matratze zu
stecken, hätte es gewiß erstickt, wenn sie nicht beaufsichtigt gewesen
wäre. Eine von Klix erwähnte, ebenfalls an Graviditätspsychose
leidende Frau tötete ihr Kind nach der Geburt, weil sie es für ein
Produkt des Satans hielt. Sie zeigte darüber keine Reue.
Kräpelin erwähnt einen Fall, der in der erstgenannten Rubrik
der Verstandesdefekte gehört: Ein stuporöse Frau gebar in der
Irrenanstalt ihr totes Kind in den Leibstuhl ohne einen Laut von sich
zu geben, so daß man erst später durch die Blutspuren auf das
Ereignis aufmerksam wurde. Marcö erwähnt einen ähnlichen Fall.
Eine Geisteskranke hatte sich wegen Unwohlseins in der Irrenanstalt
ins Bett gelegt. Plötzlich hörte man das Schreien des Neugeborenen,
es hatte niemand bemerkt, daß die Entbindung vor sich gegangen
war. Ich habe wiederholt bei Entbindungen in der Irrenanstalt die
Beobachtung von deren relativer Schmerzlosigkeit bestätigen
können. Nach Klix verläuft bei Geisteskranken die Entbindung oft
ganz schmerzlos im Heruragehen. Nicht selten stirbt nach seiner
Angabe das Kind während der Geburt.
Der Geisteszustand der Gebärenden.
Bei nicht geisteskranken Frauen verhält sich die Sache meist
ganz anders. Sie werden durch den Vorgang der Entbindung kör¬
perlich und geistig heftig erschüttert und erschöpft, und diese Tat¬
sache ist es, welche so leicht zu der Annahme führen kann, daß die
Frau während und nach der Entbindung nicht geistig normal sei.
In welchem Maße diese Annahme begründet ist, will ich nun festzu¬
stellen versuchen.
Es ist zunächst bekannt, daß sehr große, graduelle Unterschiede
bestehen. Bei vielen Naturvölkern, ebenso bei der einfachen Land-
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Der Geisteszustand der Schwangeren und Gebärenden.
133
bevölkerung, abseits von den verfeinernden Einflüsse der Zivilisation,
ertragen die Frauen die normale Entbindung viel leichter als in den
Kulturzentren; hier wieder sind die Frauen der höheren Stände viel
weniger wiederstandsfähig als jene der arbeitenden Klasse.
In den Mitteilungen von Plöß über die Gebräuche verschiedener
Völker bei der Geburt, wiederholt sich häufig die Bemerkung, daß
die Frau ohne Assistenz einsam entbindet, nachdem sie bis zum letz¬
ten Augenblicke noch schwer gearbeitet hatte, daß sie das Kind
selbst abnabelt, unmittelbar darauf das Kind und sich selbst badet,
und mit dem Kinde in ihre Hütte oder gar zu ihrer Arbeit zurück¬
kehrt. Die Zigeunerinnen sollen gewöhnlich unter freiem Himmel
niederkommen, ebenso die Frauen in Montenegro. Auch bei den
anderen südslawischen Völkern kommt es nicht so selten vor, daß sie
von den Wehen im Felde überrascht wird, dort allein entbindet und
imstande ist, nachher mit dem Kind zu Fuß nach hause zu gehen.
In den Städten hat man wenig Gelegenheit, die Leistungsfähigkeit
der Frau diesbezüglich zu erproben, weil hier die Hilfe immer gleich
bereit ist und auch in Fällen geboten wird, in welchen die Gebärende
mit ihrer Aufgabe allein fertig werden könnte. Daß einzelne Frauen
auch der europäischen Kulturvölker die Beschwerden der Entbindung
ohne erkennbaie Erschöpfung ertragen können, wissen wir aus den
Erfahrungen an Kindesmörderinnen und heimlich Entbindenden, welche
nicht selten durch ihr ganz unverändertes Verhalten unmittelbar nach
der Entbindung die nächste Umgebung zu täuschen vermögen. Es
haben also auch manche Frauen der modernen Kulturvölker die
Fähigkeit, dann, wenn sie von mächtigen Impulsen dazu gedrängt
werden, die Beschwerden der Entbindung vollständig zu überwinden.
Leider ist es ganz und gar unmöglich, zu eruieren, wie viele Frauen
diese Kraft haben und wie vielen sie fehlt. Wenn man aus dem Ver¬
halten der Kreißenden und frisch Entbundenen in einer größeren
Reihe von Kindesmorden allgemeine Rückschlüsse ziehen wollte, käme
man zu dem Resultate, daß die große Mehrzahl der Frauen die genannte
Fähigkeit besitzt.
Darüber wird später noch zu sprechen sein.
Gewöhnlich aber, wenn ein außergewöhnlicher Anlaß zur Selbst¬
beherrschung nicht vorhanden ist, bewirkt bei unseren Kulturvölkern
die Entbindung körperliche und psychische Veränderungen. Ihre
Ursachen sind vorwiegend körperliche, nämlich die Wehenschmerzen,
Blutverluste und Überanstrengung durch die schwere Muskelarbeit.
Die psychischen Ursachen treten bei gewöhnlichen Entbindungen
in den Hintergrund und bestehen nur in eventuellen Sorgen vor den
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IX. Bisciiokk
Gefahren der Entbindung. Nur bei heimlich Entbindenden sind die
psychischen Ursachen stärker wirksam. Einerseits erreicht der Gefühls¬
konflikt zwischen Furcht vor Schande und Not und dem Mutter¬
gefühle nun seinen Höhepunkt, andererseits entbehrt die heimlich
gebärende des tröstenden Zuspruches der Umgebung, welcher sonst
regelmäßig der Frau gewährt ist Daß gerade bei diesen Frauen der
Wunsch, die Entbindung nicht öffentlich bekannt werden zu lassen
in entgegengesetztem Sinne wirkt, wurde soeben gesagt.
Gewöhnlich bemächtigt sich der Frau, wenn die Wehen schmerz¬
haft werden, eine gewisse Unruhe, bei empfindlichen Frauen kommt
es schon jetzt zu Ausdrücken der Furcht, sie jammern, stöhnen, ge¬
bärden sich verzweifelt, verlangen wohl auch von der Hebamme, die
schon bei den ersten Wehen gerufen worden ist, sofort von dem
Kinde befreit zu werden. Ernster und gütiger Zuspruch führt den
Affekt in die richtigen Grenzen zurück. Meist beginnt die Auf¬
regung erst in der Austreibungsperiode. Oft ist die Gebärende
körperlich sehr ergriffen, ihre Glieder zittern, ihre Gesichtszüge ver¬
zerren sich, ihr Körper ist schweißbedeckt Die Stimmung ändert
sich, sie wird reizbar, die Frau verlangt die Beendigung der Geburt,
nennt den Arzt grausam, will den Fötus mit den Händen heraus¬
ziehen. Sie macht dem Gatten Vorwürfe, haßt das Kind als Ursache
ihres Schmerzes und kann manchmal noch stundenlang nach der Ge¬
burt dieses nicht bei sich sehen. Fast immer ist Furcht vorhanden,
dabei Indifferenz gegen das Kind. Das Schamgefühl geht vorüber¬
gehend verloren.
Das ist aber nicht immer so. Manchmal unterscheiden sich die
Wehen so wenig von Schmerzen, welche die Schwangeren oft im
Unterleibe fühlen, daß sie an den Beginn der Geburt nicht glauben,
und den Drang falsch deuten. Sie glauben, Stuhldrang zu haben,
verlangen auf den Abort geführt zu werden und fürchten, sich durch
das Drängen der Wehen zu verunreinigen. Jörg, dem in diesem
Punkte Glauben beigemessen werden kann, weil es sich um prak¬
tische Beobachtung handelt, gibt an, daß er viele Fälle von Ent¬
bindungen auf dem Abort beobachtet hätte, wenn er die Schwangeren
hätte nach eigenem Ermessen walten lassen. Eines aber haben die
Autoren nicht genug beachtet: Entweder ist die Kreißende
durch den Geburtsvorgang stark ergriffen, dann muß sie
sich auch bewußt sein, daß die Geburt im Gange ist, oder
sie bleibt von Schmerzen und Affekten verschont, dann
bleibt auch ihr Bewußtsein unverändert. Verkennen der
Geburt bis zum letzten Augenblick und starkes Ergriffen-
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Dar Geisteszustand der Schwangeren und Gebärenden. 135
sein durch die Geburtsvorgänge schließen sich bei sonst
normalen Verhältnissen aus.
Endlich ist es nicht selten, daß schon während der Austreibungs¬
periode Ermüdung eintritt, daß die Gebärende in den Pausen zwischen
den Wehen einschläft und nur durch den neu auftretenden Wehen¬
schmerz aus dem Zustande von Schlafsucht und Apathie ge¬
rissen wird.
Im Augenblicke des Durchschneidens des Kopfes ist der Schmerz
am größten und da kommt es nicht selten vor, daß die Gebärende
zornig wird, die Hand der Hebamme, welche den Dammschutz be¬
sorgt, wegstößt oder die Hebamme selbst vom Bette zu entfernen
trachtet. Manchmal macht die Gebärende auch den Versuch, das
Kind selbst aus den Geburtswegen zu ziehen. Gemütsrohe Weiber
geben ihrem Zorne in Schimpfworten Ausdruck, die sich gegen das
Kind kehren; in einem Falle von Albert kam es so zum Kindes¬
morde: eine 40jährige Primipara stößt beim Durchschneiden des
Kopfes die Hebamme fort, erfaßt den Kopf des Kindes, zieht es
vollends heraus und schleudert es an den Bettpfosten, sodaß es
augenblicklich tot ist. Diese Affekthandlungen sind in der Regel
doppelt motiviert, einerseits hält die Gebärende mit einiger Berech¬
tigung das Kind für die Ursache ihres Schmerzes, andererseits ist sie
gegen dieses von vornherein mit Haß erfüllt, weil es eine unerwünschte
Familienvermehrung bedeutet.
In der Austreibungsperiode sind also Affekte häufig;
Angst, Verzweiflung oder Wut entstehen je nach der Charakteranlage
der Gebärenden. In der Regel bleibt dabei die Bewußtseinsklarheit
vollkommen intakt. Altere Autoren haben das meist nicht zugegeben.
Sie haben einige wenige Fälle von angeblicher Bewußtseinstrübung
gesehen oder in der Literatur gefunden und darüber die alltägliche
Erfahrung vergessen, welche ganz zweifellos den obigen Satz be¬
stätigt. Raritäten dienen ihnen zur Richtschnur bei der Beurteilung
des Kindesmordes im allgemeinen. Schröder sprach von voll¬
ständiger Bewußtlosigkeit im Momente des Durchschneidens, Jörg
wollte im allgemeinen keiner Gebärenden die volle Zurechnungsfähig¬
keit zugestehen und bezeichnete die Frauen, welche ohne Trübung
ihres Selbtsgeftthles und Verstandes gebären, als Ausnahmen. Seine
Ansicht stützte er durch die theoretische Annahme, daß durch die
Anstrengung des Gebärens das Blut ins Gehirn getrieben werde und
dort einen soporösen Zustand bewirke. Ripping glaubte wieder,
daß durch die rasche Entleerung des Uterus die Zirkulation im Ge¬
hirne und damit das Bewußtsein gestört werden müsse.
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IX. ßlSCHOFK
Wendt erklärte die Hinrichtung wegen Kindesmordes für ein
Seitenstück der Hexenprozesse, ohne kasuistisches Material beizu¬
bringen.
Kurz, maßlose Übertreibung und Verallgemeinerung von Aus¬
nahmsfällen herrschen in den älteren Arbeiten über dieses Thema.
Es wäre überflüssig, das zu erwähnen, wenn nicht die damals auf¬
gestellte Lehre ohne ausreichende Kritik von späteren Autoren über¬
nommen worden wäre. Man bedenkt nicht, um wie vieles milder
heute der Kindesmord bestraft wird und ist bis in die jüngste Zeit
bestrebt, durch Hinweis auf den Zustand der Gebärenden die Beur¬
teilung von Kindesmörderinnen milder zu gestalten, v. Krafft-
Ebing hat in seiner gerichtlichen Psychopathologie richtig hervorge¬
hoben, daß sich aus den heftigen Affekten oder aus den Schmerzan¬
fällen der Gebärenden pathologische Zustände — wie wir später sehen
werden, bei veranlagten Frauen — entwickeln können. Durch eine
mißverständliche Deutung dieser Worte kommt Klix zu der Ansicht,
daß, „wenn ein durch psychische Momente oder ein durch ungeheure
Wehenschmerzen erzeugter Zustand die Ursache einer antisozialen
Handlung wird,-ein Zustand von verringerter Freiheit vor¬
liegt“. Mit Steigerung der Ergriffenheit könne schließlich ein Zu¬
stand von aufgehobener Freiheit eintreten. So unklar solche Worte
sind, so sehr können sie bei Laien und bei Fachleuten, die sich nicht
jahrelang mit forensischer Psychiatrie beschäftigt haben, Unheil stiften.
Gerade bezüglich des Kindesmordes ist aber die Propagierung klarer
Normen notwendig, denn es ist ein Verbrechen, welches relativ viel
häufiger auf dem Lande begangen wird, wo den ärztlichen Sachver¬
ständigen nicht selten auch heute noch ein tieferes Eindringen in das
Gebiet der forensischen Psychiatrie nicht möglich ist. In jüngster
Zeit hat Hoche eine einschlägige Äußerung getan: Es sei merk¬
würdig, daß man heute, da von den nervösen Folgen schmerzhafter
Anfälle fast bis zum Überdrusse die Rede sei, die psychischen Ein¬
wirkungen der langdauernden Geburtsschmerzen im allgemeinen so
gering einscbätzt. „Es ist ja richtig, viele robuste und geistig wider¬
standsfähige Frauen betrachten die Schmerzen der Geburtsstunden
als eine selbstverständliche Pflichtleistung, mit der sie sich ohne ner¬
vöse Nachwirkungen abfinden. Diesen aber steht gegenüber eine
große und vielleicht immer noch wachsende Zahl von sensiblen,
psychisch mehr oder weniger abnorm disponierten Frauen, für welche
das Geburtstrauma als solches ein folgenschweres Ereignis darstellt.“
Ich weiß nicht, wen Hoche meint, wenn er sagt, daß man die
psychischen Einwirkungen der Geburtsschmerzen etc. unterschätzt, in
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Der Geisteszustand der Schwangeren und Gebärenden.
137
unseren modernen Gesetzen ist ihrer, sei es absichtlich, sei es ohne
Absicht, durch die milde Bestrafung des Kindesmordes und durch die
Möglichkeit der Anwendung mildernder Umstände Rechnung ge¬
tragen und in der praktischen Rechtssprechung besteht meiner An¬
sicht nach eher eine Neigung, diesen Einflüssen eine zu große Be¬
deutung anzuerkennen.
Es tut daher Not, den Akzent auf den ersten der beiden Sätze
Hoch es zu legen und sich immer wieder daran zu erinnern, daß
nur in Ausnahmsfällen krankhafte psychische Veränderungen
während der Geburt auftreten. Der Psychiater ist natürlich der letzte,
der die mächtige Einwirkung körperlichen und seelischen Schmerzes
auf das Denken und Handeln verkennen oder unterschätzen würde,
als Sachverständiger hat er aber nur die Aufgabe, über die Frage, ob
krank oder gesund zu entscheiden. Jedenfalls hat Hoche selbst dar¬
auf hingewiesen, daß die Geburtsschmerzen (zum Unterschiede von
anderen Schmerzen) von vielen Frauen als etwas Selbstverständliches
leicht ertragen werden. Auch Dörfler hat das hervorgehoben und
man könnte sich mit ihm ganz einverstanden erklären, wenn nicht
nachher die seltenen Ausnahmsfälle in der gewöhnlichen Weise breit¬
getreten wären und diesen Satz vergessen machten. Er versucht
gleichzeitig eine Erklärung und sagt: „Die meisten Geburten ver¬
laufen (trotz aller Beschwerden) ohne wesentliche wahrnehmbare Be¬
einträchtigung des Geisteszustandes; besonders die ehelichen. Da
spielen Gewohnheit, die Überzeugung der eigenen Berufsbestimmung
und besonders der Einfluß einer trostspendenden Umgebung eine
große Rolle.“
Meine diesbezüglichen Nachforschungen haben ergeben, daß in
einer fortlaufenden Reihe von etwa 1700 Entbindungen der mittleren
und unteren Stände kein Fall von dem Laien erkennbarer Bewußt¬
seinstrübung vorgekommen ist.
Wir können daher sagen, die Gebärende gerät in der Regel in¬
folge der Schmerzen und der Anstrengung in Aufregung, manche
Gebärende werden noch vor Beendigung der Entbindung erschöpft,
ihr Geisteszustand wird aber bei sonst normalen Verhältnissen nicht
krankhaft verändert. Diese Tatsache ist so konstant, daß man sich
immer wieder staunend fragt, wie es kommt, daß so oft bei Kindes¬
mord an eine Sinnesverwirrung gedacht wird. Einer tatsächlichen
Grundlage entbehrt diese Neigung, dagegen wurde behufs Ausfüllung
dieser Lücke Versucht, sie durch ganz unbrauchbare Argumente zu
stützen. Ein Beweis für die Sinnesverwirrung der Kreißenden sollte
es z. B. sein, daß sie mitunter bei sehr protrahierter Geburt beab-
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IX. Bischofk
sicbtigt haben, sich den Bauch aufzuschneiden. Dieser Gedanke ist
unter Umständen ein ganz vernünftiger und der Kaiserschnitt ist eine
so bekannte Operation, daß die vernünftige Überlegung die Gebärende
fast auf den Gedanken führen muß, auf diesem Wege von ihren
Leiden befreit zu werden, wenn die Entbindung nicht vorwärts gehen
will. Übrigens scheint bei Kulturvölkern diese Selbstoperation nie
ausgeführt worden zu sein. Die Fälle von Selbstoperation durch
Kaiserschnitt, welche sich nach Plöß im Orient, in Afrika etc. er¬
eignet haben sollen, beweisen nicht Bewußtseinsstörung, sondern im
Gegenteile Geistesklarheit und große Energie, besonders jene, die
glücklich ausgingen.
Endlich ist schon hier zu erwähnen, daß nach Tardieu und
nach Brouardel kein Fall von Kindesmord bekannt ist, in welchem
eine vorübergehende Sinnesverwirrung während der Entbindung als
Ursache des Deliktes bewiesen worden wäre.
Die oben erwähnten Affekte treten gewiß ziemlich häufig auf
und zwar aus rein körperlichen Ursachen, als Folge der Schmerzen
und der Anstrengung. Sie gehören in die gleiche Rubrik, wie starke
Affekte aus anderen Ursachen, die ja bekanntlich nicht als krank¬
hafte Veränderungen der Geistestätigheit aufgefaßt werden, sondern
noch als innerhalb der Grenzen des normalen Geisteslebens liegend
gelten müssen, weil sie adaequate Reaktionen auf äußere oder innere
Reize darstellen. Es ist bekannt, daß die Affekte ihre Ursache einige
Zeit überdauern können, am besten sieht man dies am Zornaffekte,
weil seine äußeren Zeichen sehr deutlich sind. Dieses Überdauern
findet auch bei der Gebärenden statt. Die Affekte, welche durch die
Geburtsschmerzen erzeugt werden, dauern manchmal noch eine Weile
an, nachdem die Schmerzen im Augenblicke der Ausstoßung der
Frucht gewichen sind. Dadurch wird es möglich, daß der manche
Gebärende wie erwähnt beherrschende Zorn, Gewalttaten gegen das
geborene Kind bewirkt. Ein Beispiel ist der Fall von Albert, in
welchem die Frau das Kind an den Bettpfosten warf, nachdem sie
die Hebamme weggestoßen hatte.
Die Nachwirkung der von den Wehenschmerzen bewirkten
Affekte äußert sich nach Ravoux u. a. auch darin, daß die Ent¬
bundenen manchmal stundenlang nach der Geburt den Gatten oder
das Kind nicht sehen wollen. Wie aber diese heftigen Affekte nur
ausnahmsweise Vorkommen, ist auch das Verhalten der Frau nach
der Geburt des Kindes meist ein anderes. Während in der Aus¬
treibungsperiode der Schmerz der Preßwehen und die dadurch verur¬
sachte Aufregung im Vordergründe stehen, wechselt das Zustandsbild
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Der Geisteszustand der Schwangeren und Gebärenden.
139
und damit auch die geistige Verfassung der Gebärenden meist fast
plötzlich, sobald der Kopf resp. das ganze Kind die Geburtswege ver¬
lassen hat Der Schmerz der Nachwehen, sehr gering gegenüber
jenem der Preßwehen, wird kaum gefühlt, die Aufregung macht der
Ruhe einer meist angenehmen Ermattung Platz, der Sturm ist vor¬
über, wie v. Fabrice anschaulich gesagt hat. Diese Erschöpfung
ist je nach der Stärke der Frau, ihrer Empfindlichkeit für den
Schmerz, der Dauer der abgelaufenen Entbindung, der Schwere der¬
selben und der Menge des verlorenen Blutes verschieden. War die
Entbindung in jeder Beziehung leicht, dann überwiegt das angenehme
Gefühl der Erleichterung und regt sich bald die Lust nach Speise
oder Trank. Bei stärkerer Ermüdung stellt sich Schlafbedürfnis ein.
Nach einer sehr anstrengenden, sehr schmerzhaften oder mit großen
Blutverlusten verbundenen Geburt kommt es aber zur schweren Er¬
schöpfung, die Frau liegt dann teilnahmslos und unfähig zu handeln,
verhält sich ganz passiv gegenüber den Manipulationen, welche an
ihr und dem Kinde vorgenommen werden, ohne jedoch dabei in ihrer
Besinnung getrübt zu sein.
Kurze Zeit andauernd ist diese Apathie bei jeder normalen Ent¬
bindung vorhanden und es kommt nur in Ausnahmsfällen vor, daß
sich die Frau gleich nach der Geburt des Kindes um dieses kümmert.
Dies gilt in erster Linie von Erstgebärenden. Beobachtet wurde es
natürlich nur bei Geburten, welche unter Assistenz durcbgemacht
wurden. Diese Beobachtung lehrt, daß die Entbundene sich ihrer
Apathie überläßt, wenn sie weiß, daß für ihr Kind von anderen ge¬
sorgt wird, sie beweist aber nicht, daß die Apathie unüberwindlich
ist. Viele Beobachtungen bei Naturvölkern, deren schon Erwähnung
geschehen ist und bei Frauen, welche von der Entbindung überrascht
wurden und das Nötige für das Leben des Kindes taten, lassen ver¬
muten, daß die Apathie meist überwunden werden kann,
wenn die Frau weiß, daß das Leben des Kindes von ihrer
Hilfeleistung abhängt. Immerhin bleiben sicher nicht wenige
Fälle übrig, in welchen die Teilnahmslosigkeit der Entbundenen so
groß ist, daß sie sich nicht zu den nötigen Willenshandlungen auf¬
raffen kann. Diese Teilnahmslosigkeit ist belanglos, wenn die Ent¬
bindung unter Assistenz einer Hebamme vor sich geht, sie kann aber
forensische Bedeutung erlangen, wenn die Gebärende allein ist, denn
sie kann dann den Tod des Kindes zur Folge haben und sie kann
es auch der Umgebung ermöglichen, sogar gegen den Willen der
Entbundenen das Kind zu töten.
Das Kind kann infolge der Inaktivität der Mutter ersticken, wenn
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140
IX. Bischofk
ihm die Luftwege verschlossen sind, es kann im Fruchtwasser und
Blute ertrinken und es kann im Scheintode sterben. Die Mutter ist
infolge der physischen Ermattung willenslos, sie behält aber die Er¬
innerung für die Vorgänge, weil ihr Bewußtsein nicht gestört ist.
Es ist klar, daß derartige Fälle der forensischen Beurteilung bei
einsam Gebärenden große Schwierigkeiten bereiten können, wenn es
sich darum handelt, die absichtliche Tötung des Kindes durch die
Mutter auszuschließen. Es müssen die allgemein-gerichtsärztlichen und
die psychiatrischen Erfahrungen Zusammenwirken, um die Glaub¬
würdigkeit der nachträglichen Darstellung zu prüfen. Glücklicher¬
weise kommen solche Fälle kaum vor Gericht Bei Kindesmord sind
fast immer die Spuren äußerer Gewalt an der Leiche zu finden und
es scheint sehr selten zu sein, daß das Kind infolge Vernachlässigung
der nötigen Obsorge den Tod findet, wenn die Geburt geheim ge¬
wesen ist.
Wenn der Tod des Kindes infolge der Willenslosigkeit der Mutter
erfolgt ist oder diese Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden kann
wird man sich wohl kaum entschließen können, die Mutter als Kindes¬
mörderin zu bestrafen. Der Sachverständige kann zwar den Er¬
schöpfungszustand der Mutter nicht als krankhafte Störung der Geistes¬
tätigkeit bezeichnen, seine Schilderung des Zustandes von Willens¬
losigkeit wird aber genügen, um den Richtern Motive des Freispruches
zu bieten.
Meine bisherigen Ausführungen haben den Erscheinungen ge¬
golten, welche als psycho-physiologische Begleit- und Folgezustände
der Entbindung zu bezeichnen sind. Ich wende mich nun zu den
während und nach der Entbindung auftretenden krankhaften Störungen
der Geistestätigkeit.
Zunächst ein paar Worte über den Geburtsverlauf bei schon
vor der Schwängerung oder in der Gravidität geistig Erkrankten.
Bei diesen ist Abortus und Frühgeburt ohne äußeren Anlaß ziemlich
häufig. Die Geburt der reifen Frucht ist, wie schon erwähnt, meist
sehr leicht. Sie scheint nie einen Einfluß auf den Geisteszustand zu
haben, die Geisteskrankheit verläuft weiter, als wenn keine Entbindung
stattgefunden hätte. In wenigen Fällen von Graviditätspsychose tritt
einige Zeit nachher Heilung ein. Die Ursache der Heilung ist hier
das Auf hören der Schwangerschaft, nicht die Entbindung. Geistes¬
kranke gebären relativ häufig tote Kinder. Verworrene oder ver
blödete Kranke töten mitunter das Kind oder lassen es, ohne sich
darum zu kümmern, zugrunde gehen, wenn nicht eine Aufsichtsperson
das Kind schützt. Häufig erwacht aber auch bei Geisteskranken die
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Der Geisteszustand der Schwangeren und Gebärenden.
141
Mutterliebe gleich nach der Geburt und sie pflegen und liebkosen das
Neugeborene.
Geistesstörung während und nach der Entbindung.
In der Regel verläuft, wie oben gesagt, die Entbindung ohne
Geistesstörung. Nur unter besonderen Verhältnissen, die nicht oft
vorliegen, kann es zu krankhaften Veränderungen der Geistestätigkeit
kommen. Die Kasuistik ist nicht zahlreich und nicht vollständig und
es wird daher notwendig sein, zunächst theoretisch alle jene krank¬
haften Zustände aufzählen, welche nach unserer Erfahrung Ursachen
haben, die den Veränderungen der Entbindung nahestehen. Denn es
wird mit Wahrscheinlichkeit angenommen werden können, daß diese
Krankheitsformen auch während der Entbindung auftreten können.
Man wird die Geistesstörungen während der Geburt ursächlich
in 2 Gruppen bringen können.
Bei psychisch normal veranlagten Frauen kann eine Geistes¬
störung nur dann auftreten, wenn die Geburt nicht normal verläuft,
wenn sie abnorm lange dauert, mit sehr heftigen Wehenschmerzen
oder sehr großen Blutverlusten verbunden ist.
Abnorm starke Schmerzen sind wohl in dem Falle von
Evrot die Ursache der geistigen Erkrankung gewesen: Nach drei
normalen, ohne psychische Störung verlaufenen Entbindungen er¬
krankte die Frau im Anschlüsse an einen Abortus an Parametritis.
In der Austreibungsperiode der nächsten Entbindung traten plötzlich
starke Beckenschmerzen auf, die Frau wurde verwirrt, erkannte die
Umgebung nicht, wußte nicht, daß sie schwanger war und gebrauchte
gemeine Schimpfworte. Die Verwirrtheit dauerte drei Stunden nach
der Geburt an, dann trat allmählich Klärung des Bewußtseins ein.
Am nächten Tage erinnerte die Frau sich daran, daß sie schwanger
war, für die Zeit der Verwirrtheit, mithin auch für die Entbindung
bestand vollständige Amnesie.
Andererseits kann der normale Geburtsverlauf bei psychopathisch
veranlagten Frauen zu geistigen Störungen führen.
Aus theoretischen Gründen wäre zu vermuten, daß die häufigste
Geistesstörung sonst gesunder Frauen während der Geburt die Ohn¬
macht sei. Denn diese wird durch heftige Schmerzen und durch
große Blutverluste auch sonst verursacht. In der Tat war in den
älteren Arbeiten viel von der Ohnmacht der Gebärenden die Rede
und Frey er hat es unternommen, aus einer Sammlung von acht
Fällen von Ohnmacht Gebärender nachzuweisen, daß diese bei heim¬
lich Gebärenden nicht selten vorkomme. Er nimmt als Ursache der
Archiv für Kriminalanthropologie. 29. Bd. 10
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142
IX. Bischoff
Ohnmacht die oft aufrechte Haltung und die großen Blutverluste bei
einem Teile der heimlichen Geburten an. Auch der Umstand wäre
hier anzuführen, daß die heimlich Gebärenden meist Primiparae sind
und daher starke Wehenschmerzen bähen können.
Es ist jedoch zweifelhaft, ob Frey er seine Fälle mit Recht als
Ohnmacht bezeichnet hat und von Tardieu wurde hervorgehoben,
daß sie mit größerer Berechtigung als Erschöpfungszustände ohne
Bewußtseinsstörung bezeichnet werden können. Mir ist die Publikation
Freyers nicht im Originale zugänglich und es steht mir daher als
Beispiel für die Ohnmacht der Entbindenden nur der oben erwähnte
Fall Mendes zur Verfügung. Er genügt zur Feststellung, daß Ge¬
bärende während der Entbindung in Ohnmacht fallen können. Die
Ohnmacht ist aber ein äußerst seltenes Vorkommnis und wird in
Gebärhäusern, wo große Blutverluste und aufrechte Haltung ver¬
mieden werden, gar nicht beobachtet. In München wurde unter
15000 Fällen, in Tübingen unter 8000 kein Ohnmachtsanfall gesehen.
Der Ohnmachtsanfall der Gebärenden wird wie jeder Ohnmachts¬
zustand durch Schwindel, Ohrensausen, Flimmern vor den Augen, Er¬
blassen, Angstgefühle und Pulsschwäche eingeleitet. Nachher fehlt
die Erinnerung für die Zeit der Ohnmacht. Die Kenntnis dieser Be¬
gleitungsumstände ermöglicht es dem Arzte, wenn die Vorgänge sich
auch nur zum Teile vor Zeugen abgespielt haben, die richtige
Diagnose zu stellen.
Besonders sensitive, also schon psychopathische Personen neigen
häufig zu Ohnmachtsanfällen und es muß wohl angenommen werden,
daß bei ihnen schon die Vorgänge der normalen Entbindung mitunter
genügen, um Ohnmacht zu bewirken. Im übrigen unterscheiden sich
diese Ohnmächten psychopathischer Personen nicht von jenen der
Geistesgesunden.
Bei allein Gebärenden kann die Ohnmacht ebenso, wie die oben
geschilderte Erschlaffung des Willens die Ursache des Kindestodes
sein. Das Kind kann natürlich nur durch das Fehlen der nötigen
Obsorge sterben, niemals kann die Ohnmächtige das Kind gewalt¬
sam töten.
Bei psychopathischen Frauen kann sich die Aufregung der Aus¬
treibungsperiode bis zum pathologischen Affekt steigern, in
welchem der Bewußtseinszustand ein abnormer ist. Die Erinnerung
ist getrübt oder fehlt, je nach der Stärke der Bewußtseinstrübung,
liier werden wohl am besten jene Fälle eingereiht, in welchen die
Entbindende einen Selbstmordversuch begeht. Osiander berich¬
tet von einer sehr zum Zorne neigenden Frau, die sich während
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Der Geisteszustand der Schwangeren und Gebärenden.
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sehr heftiger Wehen wie wahnsinnig gebärdete, sich zum Fenster
hinausstürzen wollte und kaum von zwei Männern davon abgehalten
werden konnte. Osiander faßte diesen Fall als Tobsucht auf, befand
sich aber im Irrtume, denn es gelang bald, die Gebärende zu beruhigen,
er konnte sie untersuchen und die Entbindung durch Wendung rasch
vollenden und nachher blieb die Frau bei geistiger Gesundheit, obwohl
sie ein Puerperalfieber durchmachte. Eie Tobsüchtige läßt sich durch
Zureden nicht beruhigen. Da ein Erinnerungsdefekt in diesem
Falle nicht erwähnt ist, ist man nicht einmal berechtigt, von patho¬
logischem Affekte zu sprechen und muß es unentschieden lassen,
ob es sich um einen normalen hochgradigen oder um einen pathologi¬
schen Affekt gehandelt hat.
Sigwart hat einige Fälle von Selbstmordversuch während der
Entbindung gesammelt und richtig bemerkt, daß ein solcher meist
bei außerehelich Schwangeren durch die Sorgen der Schwangerschaft
vorbereitet und durch den Eintritt der Entbindung zum Beschlüsse
gebracht und dann ausgeführt wird. ß. nennt richtig den Selbstmord
der ledigen Schwangeren eine Verzweiflungstat, nicht aber die Folge
eines Wahnsinnsanfalles. Sonst seien Selbstmorde bei Gebärenden
sehr selten und wohl die Folge der Qualen der Entbindung.
Hucklenbroich berichtete von einer Mehrgebärenden, die nach
3tägigen Wehen aus Schmerz und Angst einen Strangulationsversuch
mit dem Rockbande machte. Die Beobachtung Sigwarts betrifft
ebenfalls eine Mehrgebärende, die wegen Gesichtslage 2 Tage sehr
schmerzhafte Wehen hatte, die Ärzte bat, sie lieber totzuschlagen und
in einem unbewachten Augenblick sich auf dem Aborte aufhängte.
Sie wurde durch künstliche Atmung wiederbelebt, blieb in einem
komatösen Zustande, wurde in der Narkose entbunden und litt nach¬
her an ängstlichen Delirien. Nach einem Tage war sie wieder her¬
gestellt. Es ist wichtig, daß sie sich an alles bis zu ihrem Selbst¬
mordversuche erinnerte, woraus hervorgeht, daß sie vorher bei klarem
Bewußtsein war. In diesem Falle ist der hochgradige, aber nicht
abnorme Affekt der Verzweiflung die Ursache des Suicides gewesen,
während die späteren Delirien durch das Erhängen bewirkt wurden.
Während diese Fälle also vielleicht noch zu den normalen Affek¬
ten gezählt werden können, handelt es sich in den folgenden um
echte pathologische Affekte, wenn sie wahrheitsgetreu geschildert
sind.
Klug (zitiert nach Marc4) sah eine Frau, die im Gebärhaus
während der Wehentätigkeit aufgeregt wurde. Die Entbindung
wurde mit der Zange vollendet, nachher ward die Frau wütend und
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IX. Bischoxf
wollte das Kind erwürgen. Nach 4 Stunden erwachte sie wie aus
einem Traume.
Weill will eine Frau gesehen haben, die bei 2 aufeinanderfolgen¬
den Entbindungen von Delirien befallen wurde und erst nach mehreren
Stunden die Bewußtseinsklarheit wiedererlangte.
Helme sah 1840 ein Delirium während der Entbindung, welches
nach Abfluß des vermehrten Fruchtwassers schwand.
Schwartzer beschrieb 1880 unter dem Titel: transitorische Tob¬
sucht eine Störung, welche heute als pathologischer Affekt aufgefaßt
werden muß. Der Zustand beginne meist unmittelbar nach der Ent¬
bindung mit Erregung, Wut, Angriffen auf die Umgebung, auf das
Kind. Nach mehreren Stunden trete die Klärung ein, die nach¬
folgende Amnesie sei sehr vollständig. Die von ihm beschriebene
Frau hatte gleich nach der Geburt des Kindes zu rasen angefangen,
so daß mehrere Leute sie schwer bändigen konnten. Nach 4 */2 Stunden
schlief sie ein. Nachher erinnerte sie sich zum Teile an die Ent¬
bindung, nicht aber an die Vqrgänge während ihrer Tobsucht.
Es muß zugegeben werden, daß eine einsam Gebärende in einem
solchen Zustande im Stande wäre, ihr Kind gewaltsam zu töten. Es
wäre dann eventl. die Aufgabe der Sachverständigen, die Neigung
zu pathologischen Affekten aus der Vergangenheit oder experimentell
nachzuweisen. Gewöhnlich dürfte die Unterlassung der Versuche, das
Delikt zu verheimlichen, solche Fälle scharf von den gewöhnlichen
Kindesmorden unterscheiden.
Krankhafte Bewußtseinszustände treten mitunter bei epilepti¬
schen und hysterischen Frauen während der Entbindung auf.
Es sind das die sogenannten Dämmerzustände. Einen hysterischen
Schlafzustand beobachtete Snoeck. Bei einer 35jährigen hysterischen
Frau trat 9 Stunden nach Beginn der Wehen eine kurzdauernde
motorische Erregung mit Verwirrtheit auf, welche in einen schlaf¬
ähnlichen Zustand überging. Die Entbindung wurde mit der Zange
vollendet, die Patientin kam wieder zu Bewußtsein und hatte ver¬
schwommene Erinnerung an den Geburtsakt. Als Grund des An¬
falles gab sie Schreck über das Fortgehen des Arztes an. Ein 2. Fall
desselben Autors zeigt Verwandtschaft mit Autohypnose: Eine 28jähr.,
vorher gesunde Frau verfiel 14 Stunden vor der ersten Entbindung
in Bewußtlosigkeit, aus welcher sie erst 4 Tage später erwachte.
Sie nahm in dieser Zeit keine Nahrung und reagierte nur auf Be¬
rührung mit dem Glüheisen mit schwachen Bewegungen. Nachher
war sie amnestisch für die Zeit der Bewußtlosigkeit.
Ein gleichartiger Fall wurde 1813 von Schmidt mitgeteilt. Die
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Der Geisteszustand der Schwangeren und Gebärenden.
145
beschriebene Person soll bei jeder Entbindung in einen solchen ohn¬
machtsähnlichen Zustand verfallen sein.
Aber auch Tobsucbtsanfälle kommen bei Hysterischen während
der Entbindung vor. Ein leichter derartiger Fall ist mir berichtet
worden. Eine Hysterische wurde im Beginne der Entbindung sehr
aufgeregt, schlug und wollte beißen; durch energisches Vorgehen
und Suggestivbehandlung konnte sie wieder zur Besinnung gebracht
werden.
Es würde zu weit führen, die Symptomatologie der hysterischen
Dämmerzustände hier zu skizzieren und sei daher nur hervorgehoben,
daß in ihnen neben Halluzinationen nicht selten die Neigung zu
schweren Gewalttaten auftritt, daß daher die Gefahr des Kindesmordes
bei dieser Erkrankung eine große wäre, wenn sie ein Alleingebärende
befallen würde. Ein glaubhafter Fall ist in der Literatur nicht ent¬
halten, wie später zu zeigen sein wird. Gewiß kann aber gerade ein
hysterischer Anfall durch die Aufregungen und körperlichen Be¬
schwerden der Entbindung leicht ausgelöst werden.
Auch bei Epileptikern kann die Geburt Krampfanfälle oder epi¬
leptische Delirien bewirken. Die heftigsten Tobsuchtsanfälle, welche
man kennt, mit den brutalsten Gewalttaten, sind bei Epileptikern im
Dämmerzustände beobachtet worden, und eine Frau, welche an solchen
Tobsuchtsanfällen leidet, ist in hohem Maße der Gefahr ausgesetzt,
ihr Kind zu töten, wenn sie das Unglück hat, während der Entbin¬
dung in einen Dämmerzustand zu verfallen. Das Geburtstrauma er¬
scheint geeignet, einen Dämmerzustand auszulösen und es ist gewiß
schon oft die Entbindung durch einen solchen Anfall kompliziert
worden. Doch ist mir kein Fall bekannt geworden, der forensische
Bedeutung erlangt hätte. Der immer wieder zitierte Fall Platners
ist kein epileptisches Delir gewesen, von Platner falsch gedeutet
worden und von den späteren Autoren ohne die erforderliche Kritik
zitiert Bevor ich diesen Fall beschreibe, ist noch zu erwähnen, daß
auch infolge eines einfachen epileptischen Krampfanfalles und der da¬
rauf oft folgenden Bewußtlosigkeit das neugeborene Kind den Tod
finden kann, wenn die Entbindung ohne Zeugen vor sich geht.
Die Diagnose des hysterischen und epileptischen Anfalles wird
fast immer durch den Nachweis früherer Anfälle erleichtert. Daß in
dem Fall Platners von früheren Anfällen nicht die Rede ist, be¬
rechtigt daher schon zu Zweifeln an der Richtigkeit seiner Diagnose.
Aus seiner Beschreibung des Anfalles ist zu entnehmen, daß er kein
epileptischer, sondern ein eklamptischer Anfall war. Ein 18jähriges
Mädchen, dessen Schwangerschaft der Dienstgeberin nicht bekannt
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146
IX. Bisciioit
war, wurde wegen Kolik abends ins Bett geschickt. Früh wurde
sie bewußtlos mit Muskelzuckungen im Bette gefunden, ein Tuch um
den Leib geschlungen, die Nachgeburt lag vor dem Bette auf dem
Boden, das Kind im Bettstroh. Es war jedenfalls tot, Platner erwähnt
nicht einmal dies, ebensowenig, ob es verletzt war und was als Todes¬
ursache gefunden wurde. Die Mutter wurde erst nach 3—4 Tagen
klar. Für die forensische Kasuistik ist eine so unvollständige Mit¬
teilung unbrauchbar, klinisch ist sie wegen der langen Dauer der
Bewußtlosigkeit wohl nur als Eklampsie verständlich.
Von Wert ist an diesem Falle nur die Feststellung, daß das
Mädchen wegen der Bewußtseinsstörung nicht im Stande war, die
Spur der Entbindung zu entfernen.
Während sich der Nachweis des Bestehens von Hysterie und
Epilepsie gewöhnlich (nicht immer, denn die Krankheit kann eben
erst bei der Entbindung manifest geworden sein) aus der Vorgeschichte
erbringen läßt, fehlt dieser Behelf, wenn es sich darum handelt,
eklamptische Anfälle nachzuweisen. Diese können allerdings nur
sehr selten forensische Bedeutung erlangen, denn es ist schon die
Eklampsie (Urämie infolge gestörter Nierentätigkeit während der
Schwangerschaft) nicht häufig und von den eclamptischen Gebärenden
werden wieder nur sehr wenige von Delirien befallen. Die Gebärende
ist im eklamptischen Anfalle bewußtlos und der Tod des Kindes kann
daher durch Verabsäumung des zur Erhaltung seines Lebens Not¬
wendigen herbeigeführt werden. Sehr unwahrscheinlich ist dagegen
die aktive Tötung des Kindes im eklamptischen Anfalle. Die Häufig¬
keit der Totgeburten bei Eklampsie setzt ihre Bedeutung in forensischer
Hinsicht noch mehr herab.
Der Nachweis der Eklampsie stützt sich auf den Urinbefund,
auf andere Zeichen der Urämie, auf Folgeerscheinungen von Krämpfen
(Zungenbiß, äußere Verletzungen) bei der Wöchnerin und auf die
Vorgeschichte.
Ein Fall von Siemerling möge zeigen, wie leicht die Unter¬
scheidung solcher Fälle von den Fällen von Kindesmord gewöhnlich
ist. Die Begleiterscheinungen sind vollständig andere: Gegen Ende
der Schwangerschaft einer früher mehrmals geistesgestört gewesenen
Frau traten Ödeme auf, sie wurde bewußtlos, von einem Kinde ent¬
bunden, aufgefunden, mit Blut und Schleim beschmiert, die Nabel¬
schnur 1 '/•> Meter vom Kindeskörper abgerissen, das Kind tot. Die
Frau war ödematös, ihre Zunge zeigte Bisse. Die Urinuntersuchung
bestätigte die Diagnose Urämie. Nach vorübergehender Klarheit, die
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Der Geisteszustand der Schwangeren und Gebärenden.
147
einige Tage nach der Entbindung eintrat, wurde die Frau verwirrt
und dann chronisch geisteskrank.
Es sind auch einige Fälle bekannt, in welchen Mutter und Kind
tot aufgefunden wurden und ich glaube, daß dies wohl in der Mehr¬
zahl der Fälle der Ausgang der Entbindung einer Eklamptischen
sein dürfte, wenn sie einsam, ohne ärztliche und andere Hilfe ent¬
bindet.
Die Abgrenzung der bisher besprochenen Bewußtseinsstörungen
gegenüber den transitorischen Delirien (der Mania transitoria früherer
Autoren) wird praktisch nur selten gelingen, ja, nach der gegenwärtig
meistverbreiteten Lehre sind diese transitorischen Delirien entweder
toxischen Ursprunges oder Dämmerzustände, daher identisch mit den
bisher besprochenen Störungen.
Als Ursache dieser Delirien wurde von den älteren Autoren neben
der Disposition besondere Aufregung, erschöpfender oder sehr schmerz¬
hafter Geburtsverlauf, die Wirkung höherer Temperaturen oder ex-
citierender Medikamente bezeichnet.
Marcö berichtet von einer Frau, welche während der Entbindung
nach Inhalation geringer Chloroformmengen bewußtlos und nach der
Entbindung verwirrt wurde.
Cazeaux sah eine junge Frau während einer langdauernden
und sehr schmerzhaften Entbindung plötzlich ruhig werden und die
Arie der Lucia singen. Nach der Entbindung mit der Zange wurde
sie wieder klar.
Eine Patientin Weißkorns war leicht erblich belastet und erlitt
mit 8 Jahren eine Schädel Verletzung. Mit 21 Jahren wurde sie während
der ersten Entbindung verwirrt, glaubte, am Abort zu sein und wußte
nichts von der Entbindung. Sie wurde bald klar und batte keine
Erinnerung für die Zeit der Verwirrtheit.
Gau eher beobachtete eine verzogene 19 jährige Primipara, der
man Angst vor der Entbindung gemacht hatte. Wehenschwäche und
starker Blutverlust. Die Frau wurde, als endlich die schmerzhaften
Wehen der Austreibungsperiode begannen, ohnmächtig, das Kind
wurde asphyktisch, „in Blut ertrunken“ geboren. Als die Mutter er¬
wachte, wurde sie verwirrt, lachte, sprach unzusammenhängend und
umarmte das Kmd so heftig, daß es in Gefahr kam, zu ersticken.
Die Verwirrtheit dauerte 25 Minuten.
Der letztere Fall beweist, daß eine zufällig einsam Entbindende
sehr wohl im Delirium ihr Kind unabsichtlich aktiv töten könnte,
unter den forensischen Fällen habe ich aber keinen gefunden, der
hier anzuführen wäre. Jene Fälle, die nach meiner Ansicht fälschlich
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148
IX. Bischokf
als Tötung des Kindes im Delirium aufgefaßt worden sind, werde
ich später erwähnen.
Es ist endlich denkbar, aber in der mir bekannt gewordenen
Literatur durch keine Beobachtung illustriert, daß während der Ent¬
bindung Fieberdelirien ausbrechen, die durch eine zufällig vorhandene
Infektionskrankheit oder durch eine puerperale Infektion, die schon
vor der Entbindung stattgefunden hat, erzeugt werden. Da die in¬
fektiösen Prozesse nicht selten Abortus oder vorzeitige Entbindung
zur Folge haben, dürfte das Zusammentreffen von Fieberdelirien und
Entbindung nicht so selten sein. Die Fieberdelirien sind zwar nicht
so oft, wie die epileptischen mit Tobsuchtsanfällen verbunden, doch
kommen auch in den Fieberdelirien besonders der Typhuskranken
ausgesprochene Erregungszustände vor. Das Leben des Kindes kann
daher durch die Verworrenheit oder durch die Excitation der Mutter
gefährdet sein. 1 )
Es ist schließlich möglich, daß eine beliebige Geisteskrankheit
während der Entbindung ausbricht, ohne daß ein Zusammenhang
bestehen würde. Doch dürfte dieser Fall nur äußerst selten eintreten.
Theoretisch scheint es in solchem Falle von Wichtigkeit, den
Zeitpunkt festzustellen, an welchem die Geistesstörung begonnen hat,
in der Praxis dürfte aber diese Forderung nicht aufrechtzuerhalten
sein, weil man weiß, daß die Geistesstörungen nicht plötzlich inner¬
halb einiger Minuten ausbrechen. Man wird daher immer, wenn
nach der Entbindung eine nicht transitorische Geisteskrankheit besteht,
annehmen müssen, daß diese schon vor der Entbindung begonnen hat.
Die Geistesstörungen des Wochenbettes liegen schon außerhalb
des mir abgesteckten Gebietes. Ich kann daher nur nebenbei er¬
wähnen, daß die Delirien des Puerperalfiebers schon mehrmals Ur¬
sache der Tötung des Kindes durch die Mutter waren.
Calmeil sah eine Frau, die in der Puerperalpsycbose am
20. Tage nach der Entbindung ihr Kind in einen Brunnen geworfen
hatte.
Tardieu behandelte eine Frau, die einige Tage nach der Ent¬
bindung eine schlechte Nachricht bekommen hatte und melancholisch
wurde; sie schnitt dem Kinde den Hals ab. Tardieu hebt mit Recht
hervor, daß die Melancholie manchmal nach solchen Gewaltakten ge¬
bessert wird, was der Sachverständige in ähnlichen Fällen nicht ver¬
gessen darf.
1) Ein Fall von Erdrosselung und Schädelzertrümmerung des Kindes ira
Delirium des Puerperalfiebers, 14 Tage nach der Entbindung findet sich bei
Pichler (Lehrb. 1S!0.
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Der Geisteszustand der Schwangeren und Gebärenden.
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Einen kurzdauernden Dämmerzustand einer Primipara nahmen
Mingazzini und Serra in ihrem Falle an. Die Frau warf ihr
Kind am 6. Tage nach der Geburt nachts durch die Scheibe des ge¬
schlossenen Fensters auf die Straße. Kurz nachher wurde sie bei
klarem Bewußtsein gefunden, als sie das Kind im Hause suchte und
angab, daß sie erwacht sei und gesehen habe, wie der schwarze
Mann ihr Kind geraubt habe. Die Autoren sagten, daß durch schreck¬
hafte Traumerlebnisse das Handeln der nach dem Erwachen noch
Schlaftrunkenen bestimmt wurde. Es kam zum Freispruche.
Endlich ist hier noch ein Fall Tardieus zu erwähnen: Eine
Frau tötet ihr Kind, kocht es und setzt es ihrem Gatten als Mahl¬
zeit vor.
Dies ist die offenkundige Tat einer Verrückten, die durch eine
Wahnidee zum Morde getrieben wurde. Hier ist die psychopatho-
logische Genese des Deliktes ebenso klar in die Augen springend, wie
in dem Falle Mingazzinis, in welchem das Kind durch das geschlossene
Fenster auf die Straße geworfen wurde.
Das wichtige Ergebnis dieses Kapitels ist, daß in den wenigen
sichergestellten Fällen von Kindestötung im Zustande der Geistes¬
krankheit die Art der Ausführung der Tat schon fast die Geistes¬
störung der Mutter beweist und sich gewaltig von dem Vorgehen der
geistesgesunden Kindesmörderinnen unterscheidet.
Der Kindesmord. ')
Bekanntlich ist der Kindesmord unter den sogenannten Natur¬
völkern, aber auch bei mehr oder weniger kultivierten Völkern ziem¬
lich weit verbreitet Es lohnt sich wohl, den Ursachen dieses grau¬
samen Brauches ein wenig nachzuspüren und zu sehen, ob in unseren
Kindesmorden vielleicht Reste solcher Volksunsitten zu finden sind.
Bei Tieren im Naturzustände findet man einige Beispiele von
Kindestötung durch die Mutter. (Die Tötung durch das Männchen
gehört nicht hierher.) Krokodile und Ratten fressen sogar manchmal
ihre Jungen, ebenso Schweine und Katzen. Kranke oder mißratene
Junge werden getötet oder dem Verhungern preisgegeben, Vögel
werfen ihre Jungen, die aus dem Nest gefallen oder genommen
worden sind und wieder hineingelegt werden, oft wieder hinaus. In
der Regel ist aber die Mutterliebe so stark, daß die Mutter alles bis
zu ihrem Leben für ihre Jungen opfert.
1) Dieser Abschnitt wurde mit Rücksicht auf die kürzlich erschienene treff¬
liche Abhandlung (traf Gleispachs möglichst gekürzt.
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IX. Bischoff
Die Mutterliebe ist wohl auch bei der Entbundenen gleich vor¬
handen, wenn sie auch in den ersten Tagen nicht so differenziert ist,
wie später. Sie entwickelt sich allmählich durch die geistige und
körperliche Berührung mit dem Kinde zu jenem tiefgewurzelten Ge¬
fühle, welches wohl das stärkste und anhaltendste ist, dessen die
Frau fähig ist. Unmittelbar nach der Entbindung ist die Mutter aber
noch von jenem unbestimmten Gefühle beherrscht, welches im Laufe
der Schwangerschaft aufgetreten ist und als Muttergefühl bezeichnet
wird. Es ist gewiß regelmäßig so stark, daß es das Hauptmotiv für
die Handlungen der Mutter nach der Geburt abgibt Dieser Trieb
kann durch die Unsitten einer degenerierenden Kultur betäubt, er
kann aber nicht vernichtet werden. Wenn trotzdem bei einigen
Völkern sich die Tötung der Kinder durch die Mutter einbürgern
konnte, so fragt es sich, haben die Völker den Trieb der Mutterliebe
verloren oder töten nicht vielmehr die Mütter ihre Kinder infolge einer
abnormen Wirkung des Muttergefühles?
Einige Forscher haben das letztere angenommen und dafür triftige
Gründe beigebracht Dort, wo die Frau die Sklavin des Mannes ist
und ihr ganzes Leben in Arbeit und Elend verbringen muß, tötet sie
das neugeborene Mädchen, während Knaben aufgezogen werden. Da¬
gegen tötet die Mutter ihre Kinder wahllos bei Völkern, welche ein
elendes Nomadenleben führen.
Wenn diese Unterschiede irgend einen gemeinsamen Grund haben,
so ist es der, daß die Mutter das Kind tötet, um ihm die bitteren Er¬
fahrungen des Lebens zu ersparen. Audiffrent hat die Mutterliebe
einen egoistischen Trieb genannt Die Mutter sieht, sagt er, in dem
Neugeborenen einen Teil ihrer selbst und liebt es als solchen. Sie
kann leicht zu der Vorstellung kommen, daß sie das Recht habe,
darüber frei zu verfügen. Ein Schwalbennest wurde mit den Jungen
in einen Käfig gegeben und die alten Schwalben fütterten die Jungen
von außen. Als der Käfig geöffnet wurde, stürzten sich die Eltern
auf die Juugen und töteten sie. Sie töteten sie lieber, als sie in
fremde Hände geraten zu lassen.
Bei Völkern mit mangelhafter Rechtspflege konnte sich dieser
Brauch, der also vielleicht als eine eigenartige Verirrung der Mutter¬
liebe zu erklären ist, frei entwickeln, denn der Kindesmord wird bei
diesen Völkern nicht bestraft. Sogar in der Türkei und in China ist
er nach Audiffrent straffrei. —
ln Europa wurde jedoch der Kindesmord im Mittelalter mit den
schwersten Todesstrafen geahndet, da die Tötung des ungetauften
Kindes als besonders schweres Verbrechen angesehen wurde, bis
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Der Geisteszustand der Schwangeren und Gebärenden.
151
gegen das Ende des 19. Jahrhunderts wurde er in einigen Reichen
Europas noch mit dem Tode bestraft und auch heute ist die Strafe
eine sehr empfindliche. Um die Scheu vor der Strafe zu überwinden,
ist wohl die entstehende Mutterliebe zu schwach und sie könnte da¬
her als Ursache der Kindestötung, nur in einem Falle angesehen
werden, wenn nämlich die Mutter Selbstmord begeht und das Kind
mit in den Tod nimmt.
Nicht zu unterschätzen ist jenes Gefühl der Mutter, welches ihr
sagt, daß das Kind aus ihr entstanden ist, daß sie ihm das Leben
geschenkt hat, und daß sie daher auch ein Recht darüber habe.
Dazu kommt, daß ein neugeborenes Kind von geistigem Leben
keine Spur zeigt, daß es besonders auf eine Erstgebärende gar nicht
den Eindruck eines fertigen Menschen macht, daß es in den Augen
der Mutter im Momente der Geburt vielleicht noch nicht zu leben an¬
gefangen hat.
Eine ausführliche Erörterung aller dieser psychologischen Motive
ist hier gewiß überflüssig, weil dieselben in der während der Nieder¬
schrift dieser Mitteilung erschienenen Abhandlung Graf Gl ei spachs
in treffender Weise geschildert wurden. Dort ersehe ich auch, daß
die oben geschilderte sonderbare Art von Kindesliebe nicht nur bei
den Müttern der Nomadenvölker verbreitet ist, sondern auch in
nächster Nähe noch sporadisch vorzukommen scheint. Dem Verdikt
der Geschworenen, die die Kindesmörderin freisprechen, weil es für
das arme Kind das beste gewesen ist, zu sterben, liegt jedenfalls ein
analoger Gedankengang zu gründe.
Es ist ein Produkt unserer sozialen Einrichtungen, daß Ledige
durch die Schwangerschaft und Niederkunft in Schande und Not ge¬
raten können, und daß daher auf sie mächtige Impulse einwirken,
ihren Zustand und die Entbindung zu verheimlichen und endlich das
Kind zu vernichten. Es ist einem armen Mädchen ganz unmöglich,
für sich und ihr Kind den Lebensunterhalt zu verdienen und das
Kind selbst zu erziehen. Es ist begreiflich, daß eine Mutter sich
eher entschließt, das Kind zu töten, wenn sie weiß, daß sie es gleich
fremden Leuten übergeben muß. Es gibt daher, ganz abgesehen von
der Einwirkung des GeburtsVorganges, eine Reihe von psychologischen,
.aus der Natur des Menschen und den sozialen Verhältnissen ent¬
stehenden Motiven für den Kindesmord, welchen bei normalen
Menschen nur die höher entwickelte altruistische Mutterliebe, die Ver¬
abscheuung der bösen Tat und die Furcht vor der Bestrafung gegen¬
überstehen.
Dazu kommt bei gemütsrohen und zornmütigen Frauen die noch
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IX. Bischokf
ganz innerhalb der Grenzen der normalen psychischen Reaktion
stehende zornmütige Erregung durch die Schmerzen der Entbindung,
welche die Neigung erzeugt, sich an dem Kinde für die ausgestandenen'
Schmerzen zu rächen. Diese zornige Erregung kann, besonders wenn
sie mit anderen Motiven für den Kindesmord zusammentrifft, den
Entschluß dazu zur Reife bringen.
Die Motive des Kindesmordes sind also durchweg den
egoistischen Trieben entspringende mit Unlustempfindungen verbundene
Vorstellungen:
Der durch den Schmerz der Wehen erregte Zorn, auf das Kind
als die Ursache des Schmerzes gelenkt.
Die Befürchtung, durch die Pflicht, das Kind aufzuziehen, in
Not zu geraten, an Bequemlichkeit des Lebens einzubüßen.'
Die Furcht vor der Schande, besonders lebhaft, wenn die
Schwangere die Strenge der Eltern kennt.
Mitunter auch der Haß gegen den Erzeuger des Kindes, der die
Schwangere im Stiche gelassen hat. Dieser Haß kann auf das Kind
übertragen werden.
Dazu können sich edlere egoistische und altruistische Vorstellungen
gesellen, der Wunsch, das Kind lieber zu vernichten, als es fremden
Leuten zu überlassen, der Gedanke, dem Kinde durch die Tötung
das Elend, welches es erwartet, zu ersparen.
Der Entschluß, das Kind zu töten, kommt um so leichter zu¬
stande, je weniger die Entbindende die Möglichkeit einer Abhilfe vor
sich sicht.
Diese Voraussetzungen treffen viel öfter bei unehelich Ge¬
schwängerten zu, als bei den Verheirateten und unter den ersteren
wieder öfter bei Erstgebärenden als bei Mehrgebärenden. Bei letzteren
kann allerdings ein neues Motiv hinzutreten, falls sie in schlechten
materiellen Verhältnissen leben: sie können eine weitere Vermehrung
der Familie als unerträgliche Last empfinden.
Wenn die Schwangere auf die Entbindung gefaßt ist, hat sie
Zeit, sich die Dinge zurechtzulegen, wenn sie dagegen von der Ent¬
bindung überrascht wird, kann sie von den plötzlich erweckten Sorgen
völlig beherrscht und unfähig werden, einen Ausweg zu finden.
Besonders prädestiniert zum Kindesmorde sind daher
geistesschwache zum erstenmale schwangere Mädchen.
Sie kommen spät, in seltenen Fällen garnicht zur Erkenntnis ihres
Zustandes, sie können sich nicht jener sozialen Einrichtungen be¬
dienen, welche getroffen sind, um die Gebärende und das Kind vor
Not zu bewahren und sie haben nicht die Verstandeskraft, um sich
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Der Geisteszustand der Schwangeren und Gebärenden. 153
die notwendigen Vorkehrungen klar zu machen. Zudem haben geistig
Beschränkte nicht das entwickelte sittliche Empfinden der Vollsinnigen.
Eine Übersicht der Literatur und einiger Fälle, welche ich per¬
sönlich oder aus den Akten kennen lernte, bringt mich zu der Über¬
zeugung, daß in der Tat im leichten Grade schwachsinnige Mädchen
relativ sehr häufig unter den Kindesmörderinnen sind.
Einige Beispiele mögen dies in möglichster Kürze illustrieren:
Die A. Z., 29 Jahre alt, ledig, Dienstmagd, geistig beschränkt,
jedoch fähig, von ihrem 24. Jahre an in der Stadt zu dienen und
sich einige hundert Kronen zu ersparen, will nur einmal mit dem
Sohne ihres Dienstgebers geschlechtlich verkehrt haben. Erst in der
2. Hälfte .der Schwangerschaft habe sie vermutet, in welchem Zu¬
stande sie sich befinde. Da sie glaubte, die Schwangerschaft dauere
über 1 Jahr, habe sie die Wehen für Kolik gehalten. Sie hatte
einige Wäschestücke für Windeln vorbereitet. Sie befolgte nicht den
Kat des Dienstgebers, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, begab
sich, als die Preßwehen einsetzten, auf den Abort, tötete das Kind
und zerstückelte es, wischte das Blut auf und verbarg die Leichen¬
teile in einem Kasten. Sie wollte später die Hebamme daran ver¬
hindern, den Kasten zu öffnen. Sie gab an, sich zu erinnern, daß
sie infolge des Drängens im Bauche auf den Abort gegangen war
und später Blut aufgewischt hatte. Von dem Gebrauche des Messers
und der Verwahrung des Leichnams wollte sie jedoch keine Er¬
innerung haben.
Dieser Fall dürfte typisch sein. Es fehlt die Ver¬
heimlichung der Schwangerschaft, die Entbindung kam
dem Mädchen überraschend und erst in der Aufregung
der unerwartet früh eintretenden Entbindung wurde der
Entschluß gefaßt, das Kind zu töten. Die Maßnahmen zur
Verheimlichung sind sehr unvollständig und später wird Erinnerungs¬
mangel gerade nur für die strafbare Tat vorgeschützt. Nach meiner
Ansicht kann eine Bewußtseinsstörung im Augenblicke der Tat in
diesem Falle mit voller Bestimmtheit ausgeschlossen werden, denn
das Vorgehen ist ein ganz überlegtes und die Z. hat offenbar mit
allen ihren Geisteskräften dem Ziele der Tötung und Verbergung des
Kindes zugestrebt Der Fall zeigt daher, daß die Aufregung einer
überraschenden Entbindung bei einer geistesschwachen Person einen
nicht vorbedachten Kindesmord verursachen kann.
Ein ähnlicher Fall ist der folgende:
B. L., 24 Jahre alt, Dienstmagd, ging ihrer Arbeit bis unmittel¬
bar vor der 2. Entbindung nach lind behauptete, noch ein bis zwei
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IX. Bisch oi'i'
Monate bis zu derselben zu haben. Sie machte die Entbindung in
1 2 Stunde nachts auf dem Abort durch, preßte das Kind durch den Abort¬
schlauch und ging sogleich nach Entfernung einiger Blutspuren wieder
an die Arbeit. Als die Dienstgeberin im Bette und am Aborte Blut
sah, leugnete L. die Entbindung und behauptete die Periode zu haben.
In der Gebäranstalt wollte sie anfangs glauben machen, daß sie die
Entbindung nicht bemerkt habe; später gab sie zu, auf dem Aborte ent¬
bunden zu haben. In der Verwirrung habe sie die Klappe geöffnet
und das Kind sei hinabgefallen.
L. wurde als geistig beschränkt und- männersüchtig geschildert.
Die Untersuchung bestätigte den Schwachsinn mäßigen Grades. Die
L. blieb dabei, die Abortklappe geöffnet zu haben, weil sie über das
Herabfallen des Kindes erschrocken sei. Sie habe immer gezogen,
wenn etwas in den Abort fiel. Doch fügte sie hinzu, sie habe ge¬
dacht, der Vater des Kindes werde sie nicht heiraten und für das
Kind nicht sorgen. Es wurde im Gutachten gesagt, daß ihr geringer
Verstand gerade für die gewöhnlichen einfachen Verhältnisse aus¬
reiche, daß ihre Vernunft aber nicht mehr zur Geltung komme, so¬
bald sie in eine schwierige Situation komme. Wenn die Entbindung
schon für eine geistig Rüstige ein Grund milderer Auffassung des
Kindesmordes sei, führe die Berücksichtigung des bei L. vorhandenen
Schwachsinnes zu der Auffassung, daß die Geburt sie in einen Zu¬
stand versetzt habe, in welchem sie den Impulsen zum Delikte nicht
mehr Widerstand leisten konnte. Sinnesverwirrung sei jedoch nicht
vorhanden gewesen.
Den Übergang zu der 2. Gruppe von Kindesmörderinnen bildet
mein 3. Fall:
E. K., 23 Jahre alt, Taglöhnerin, eine liederliche und arbeits¬
scheue Person, von außerordentlich geringer Geistesbildung, begab
sich, obwohl ihr geraten worden war, in’s Findelhaus zu gehen, zur
Entbindung aufs freie Feld, entband liegend, tötete das schreiende
Kind durch Schläge auf Kopf und Körper mit einer Erdscholle und
durch Würgen und legte es unter Schilf. Nach mehrstündigem
Schlafe wusch sie sich. Sie gestand erst nach mehreren Verhören,
in welchen ihr die Unrichtigkeit ihrer ursprünglichen Angaben, daß
sie im Findelhaus entbunden habe, daß das Kind tot gewesen sei,
daß sie zur Tötung von dem Vater des Kindes aufgefordert worden
sei, naebgewiesen war die Tatsachen und versuchte nun, sich da¬
durch zu entlasten, daß sie angab, sie sei von der Entbindung im
Freiem überrascht worden und habe sich nicht zu helfen gewußt.
Die Untersuchung ergab trotz der Kenntnislücken ausreichende
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Der Geisteszustand der Schwangeren und Gebärenden.
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Intelligenz. Das Motiv der Tat sei der Wunsch gewesen, sich der
Sorgen für das Kind zu entledigen.
Die intellektuelle und moralische Minderwertigkeit seien lediglich
als mildernde Umstände aufzufassen.
In diesem Falle steht schon der Mangel ethischen Empfindens
im Vordergründe, ist aber der Einfluß der intellektuellen Schwäche
noch unverkennbar. Erreicht die geistige Schwäche einen höheren
Grad, so wird das Benehmen der Kindesmutter ein geradezu tierisch
rohes:
Eine schwachsinnige angeblich hysterische Frau, welche sich
prostituierte und wegen ihres skandalösen Lebenswandels unter Kuratel
gestellt worden war, entband allein in ihrem Zimmer, zerschmetterte
den Schädel des Kindes und blieb ruhig, kaum bedeckt im Bette
liegen, als die Gerichtskommission erschien. (Tardieu.)
Der Unterschied dieses Falles gegenüber den 3 früher geschil¬
derten ist nur ein gradueller.
Nächst den Geistesschwachen sind es moralisch defekte, ge¬
mütsrohe, zu den negativen Affekten geneigte, im Intellekte
aber normale Frauen, welche zum Kindesmorde disponiert sind, weil
bei ihnen die Mutterliebe und Scheu vor der unmoralischen Hand¬
lung fehlen.
Diese Charakterbeschaffenheit findet sich vorzugsweise bei einem
bestimmten Typus von Menschen, bei den geborenen Verbrechern.
Ich meine damit, ohne mich in eine Erörterung über die Berechtigung
der Aufstellung eines solchen Typus auf naturwissenschaftlicher Basis
einzulassen, jene Menschen, die infolge ihres von dem Durchschnitte
abweichenden moralischen Empfindens in die soziale Ordnung nicht
hineinpassen und sie daher oft verletzen, d. h. Verbrechen begehen.
Mond io hat die klinischen und anatomischen Befunde von 56
Kindesmörderinnen untersucht und aus der Häufung von Degenera¬
tionszeichen geschlossen, daß die Kindesmörderinnen dem Typus der
geborenen Verbrecher angehören. Die theoretische Annahme, welche
aus der Art der Motive des Kindesmordes die Vermutung ableitet,
daß die moralisch defekten Frauen zu diesem Verbrechen besonders
prädestiniert sind, wird durch diese praktische Untersuchung Mondios
bestätigt.
Nach Abscheidung der geistesschwachen und der depravierten
Kindesmörderinnen bleiben noch viele, wohl mehr als die Hälfte aller
Kindesmörderinnen übrig, welche auch bei rein wissenschaftlich psy¬
chiatrischer Beurteilung keine geistige Abnormität aufweisen. Sie
können in zwei Gruppen geschieden werden. In die eine gehören
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IX. Bischoff
die moralisch feinfühlenden Mädchen, von welchen durch eine außer¬
eheliche Schwängerung der Ehrennotstand in besonders hohem Maße
empfunden wird.
In die zweite Gruppe gehören jene, die durch Drohungen des
Vaters resp. seines Vertreters durch dessen dauernde besondere
Strenge oder Rohheit, in hochgradige Furcht versetzt sind und um
jeden Preis der gefürchteten Strafe entgehen wollen.
Als Beispiel der ersten Art diene folgender Fall:
A. K. Dienstmädchen, 19 Jahre alt, ledig, weder erblich belastet
noch körperliche Degenerationszeichen aufweisend, hat keine Erkran¬
kung oder andere Schädigung des Nervensystemes durchgemacht, be¬
sitzt normale Intelligenz und hat vor der Schwangerschaft keine mo¬
ralischen Defekte gezeigt. In der ersten Hälfte der Gravidität war
sie heiter, ging ein Liebesverhältnis ein und wollte dann dem Lieb¬
haber einreden, daß er der Vater des Kindes sei. Als die Entbindung
begann, versperrte sie die Wohnung von innen, gebar das lebende
Kind angeblich stehend und tötete es wohl gleich darauf. Dann ver¬
suchte sie, es durch den Abortschlauch in den Kanal zu befördern,
das gelang jedoch nicht. Daher zerstückelte sie die Leiche, indem
sie Kopf und Arme abschnitt und warf die Leichenteile sowie ein
blutiges Handtuch durch den Abort oder eine Kanalöffnung. Den
Leuten, welche ihr kurz nachher begegneten, zeigte sie sich heiter,
sang und erklärte ihr blasses Aussehen mit starker Menstruation, auf
welche sie auch blutige Färbung von Wäsche etc. zurückführte. Sie
gestand ihr Verbrechen ein einziges mal, bei dem zweiten sehr langen
polizeilichen Verhöre. Nach dem Geständnis schien sie verwirrt und
geistesgestört. Doch wurde sie alsbald wieder klar und ruhig, .zog
ihr Geständnis erst teilweise, dann vollständig zurück und behauptete
nun, wie gleich anfangs, daß sie erst im dritten Monate der Schwanger¬
schaft gewesen sei und nur einige Stücke Blut verloren und beseitigt
habe. Sie habe das Geständnis nur abgelegt, um das Verfahren
schneller zum Abschlüsse zu bringen. Durch die psychiatrische
Untersuchung konnte Geistesstörung und Sinnesverwirrung zur Zeit
der Tat ausgeschlossen werden.
In die zweite Gruppe gehört der folgende Fall:
R. Cz., 34 Jahre alt, Häuslerstochter, beim Vater wohnhaft,
wurde bei ihrer ersten Entbindung vom Vater hart behandelt und mit
Vorwürfen überhäuft. Sie hielt die zweite Schwangerschaft möglichst
geheim, will von der Entbindung überrascht worden sein, gebar im
Aborte leicht, erwürgte das Kind und vergrub es hinter dem Aborte.
Sie gestand dies nach kurzem Versuche, Ausflüchte zu gebrauchen
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Der Geisteszustand der Schwangeren und Gebärenden.
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und motivierte die Tat mit Furcht vor dem Vater. Bisher war sie
unbescholten und als braves Mädchen bekannt. Die Untersuchung
förderte keine Anhaltspunkte für das Bestehen einer dauernden Geistes¬
störung oder Sinnesverwirrung zu Tage nnd ergab nur, daß Cz.
nervös und labiler Stimmung ist.
Hier ist auch der im Wiener Schwurgerichte am 20. Juni 1907
verhandelte Fall zu erwähnen. Dem 17 jährigen Mädchen, welches
dann zur Kindesmörderin wurde, hatte der Vater gesagt: „Wenn du
ein Kind kriegst, erschlag ich dich.“ Daß diese Drohung geeignet
war, die Tochter zu ängstigen, hat der Vater selbst erwiesen, als er
auf das Ersuchen des Verteidigers, er möge sich der Tochter nach
Abbüßung ihrer Arreststrafe (sie war nur wegen Verheimlichung der
Geburt verurteilt worden) annehmen, antwortete: „das tue ich nicht, ich
überlasse sie Ihnen ganz.“ Das Mädchen erklärte dann, sie wolle aus
Furcht vor dem Vater nach Abbüßung der Strafe ins Wasser gehen.
In allen den genannten Fällen von Kindesmord ist eine Geistes¬
störung im Sinne des Gesetzes nicht vorhanden. Weder eine dauernde,
denn die Geistesschwäche und die moralische Defektuosität können
nicht als volle Vernunftsberaubung gelten, noch eine Sinnesverwirrung,
denn die Erfahrung lehrt, daß das Verbrechen immer mit Überlegung
und bei klarem Bewußtsein ausgeführt wird.
Einer gesonderten Betrachtung bedürfen aber jene geistes¬
schwachen Mädchen, welche den Zeitpunkt der Entbindung nicht
kennen, ihre Scham nicht überwinden konnten, von der Entbindung
überrascht werden, in ihrer Angst einsam entbinden und das Kind
beim ersten Schrei töten, um nicht entdeckt zu werden. Der
psychiatrische Sachverständige kann in diesen Fällen eine Sinnesver¬
wirrung nicht annehmen, denn es fehlt die dafür unerläßliche Be¬
wußtseinstrübung. Wohl aber dürfte es dem Richter möglich sein
aus der Konfluenz der Affekte der Angst und der Ratlosigkeit sowie
des erregenden Einflusses der Entbindung eine Verwirrung der Geistes¬
tätigkeit zu erschließen, welche einer vorübergehenden Vernunftbe¬
raubung gleichkommt.
Es ist jedenfalls zu wünschen, daß die Sachverständigen nie
wieder in den Fehler verfallen werden, den sie in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts so oft gemacht haben, von Sinnesverwirrung zu
sprechen, wenn die Kindesmörderin mit Überlegung gehandelt hat,
durch ein Geständnis bewiesen hat, daß ihre Erinnerung erhalten ist
und sich erst später aufs Läugnen verlegt. Das Märchen von der
Sinnesverwirrung der Kindesmörderinnen ist in dieser Weise zustande
gekommen.
Archiv für Kriminalanthropologio. 29 . Bd. ] i
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IX. Bischoff
Es wurde den Umfang dieser Arbeit zn sehr ausdehnen, wenn
ich außer den schon erwähnten noch andere Fälle der alten Autoren
zum Beweise des Gesagten anfübren wollte, doch wird sich jeder,
der diese in den neueren Arbeiten immer wieder zitierten Fälle im
Originale liest, überzeugen, daß man dort ausnahmslos vergeblich
nach einem beweisenden Falle von Sinnesverwirrung sucht und daß
in den meisten der Fälle sogar die Bewußtseinsklarheit evident ist
Das hat auch Tardieu mit Bezug auf die drei Fälle Maries
gezeigt »).
Es mag merkwürdig erscheinen, daß bei Kindesmord geistige
Störungen kaum Vorkommen sollen, wenn andererseits zugegeben wird,
daß während der Entbindung solche, wenn auch selten, so doch Vor¬
kommen.
Diese auffallende Erscheinung findet aber eine ganz einfache Er¬
klärung. Zur gerichtlichen Behandlung kommen fast nur Fälle von
heimlicher Tötung. Diese sind fast immer aktiv, mit schweren Ver¬
letzungen, oft mit Zerstückelung der Leiche ausgefühi t Bei Geistes¬
störungen, welche aktive Tötung bewirken können, fehlt aber wohl
1) Anmerkung. Zum Beweise meiner obigen Behauptung möchte ich
nur einen beliebig herausgegriffenen Fall anführen, der überall zitiert ist und
von v. Krafft-Ebing als Kindesmord im krankhaften Affekte bezeichnet wurde,
Nach der unvollständigen Beschreibung v. Krafft-Ebings wäre es auch erlaubt
einen pathologischen Affekt anzunehmen: Ein Dienstmädchen war verlobt und
der Bräutigam soll bereit gewesen sein, zu heiraten, als er glaubte, daß sie
schwanger sei. Ein Chirurg habe ihr aber versichert, daß sie nicht schwanger
sei, die Geburt habe sic im Keller überrascht und vom Schmerz überwältigt,
angeblich besinnungslos, mit dem unklaren Gedanken, dem Schmerz ein Ende zu
machen, habe sie dem aus den Gcburtsteilen herausragenden Kinde den Hals
abgeschnitten. Das Kind schob sie dann hinter einen im Keller befindlichen
Wagen, die Hausfrau habe sie dann gefunden und ins Bett gebracht, wo sie erst
ganz zu sich gekommen sei.
Wenn man aber in der Originalmitteilung Henkes nachliest, findet man,
daß das Mädchen zuerst die stattgefundene Geburt geleugnet, dann behauptet
hatte, das Kind sei totgeboren und endlich ein Geständnis ablegte, aus welchem
unzweifelhaft hervorgeht, daß ihre Erinnerung an die Tat ganz ungetrübt war.
Warum sie dem Kinde den Hals abgeschnitten habe, behauptete sie nicht zu
wissen.
Gewiß ist der Fall ein psychologisches Rätsel und es ist begreiflich, daß
die Sachverständigen die Möglichkeit einer momentanen Sinnesverwirrung, so
unwahrscheinlich sie nach dem Verlaufe des Deliktes und der guten Erinnerung
war. nicht ganz ausschließen wollten, dagegen aber, daß ein solcher höchst
zweifelhafter Fall wissenschaftlich als Beweis des Vorkommens von Sinnes-
verwirrung während der Entbindung verwertet wird, muß energisch protestiert
werden.
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Der Geisteszustand der Schwangeren und Gebärenden.
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immer die Verheimlichung. Solche Fälle, in welchen die Geistes¬
störung nicht bezweifelt werden kann, werden auf administrativem
Wege erledigt.
In jenen Fällen aber, in welchen durch Unterlassung der Hilfe¬
leistungen der Tod des Kindes eintreten könnte, tritt der Tod des
Kindes nur sehr selten ein. Die meisten lebensfähigen Kinder
bleiben am Leben, auch wenn für sie in der ersten Zeit nichts ge¬
schieht.
Dort, wo die Gebärende bewußtlos war, bleibt das lebend ge¬
borene Kind also meist am Leben und andererseits gebären bewußt¬
lose Kreißende oft tote Kinder (Eklampsie, Epilepsie). In beiden
Fällen ist ein Verdacht auf Kindesmord ausgeschlossen.
Es unterliegt endlich wohl keinem Zweifel, daß die Erregung,
in welcher sich jene Mädchen meist befinden, welche sich zum
Kindesmord entschließen und der mächtige Wuusch, nichts zur Ge¬
heimhaltung zu verabsäumen, die Widerstandskraft gegen die er¬
schöpfende Wirkung der Entbindung steigert und daß daher bei
Kindesmörderinnen Ohnmacht und ähnliches seltener sind, als sonst.
Es steht mit meinen Resultaten in Einklang, daß die statistische
Kurve der Kindesmorde nach Aschaffenburg mit der Kurve der
Geburten annähernd parallel geht, während sie, wie hinzuzufügen ist,
von der Kurve der geistigen Erkrankungen abweicht.,
Von wie großer Bedeutung rein verstandesmäßige Überlegung
bezüglich des Entschlusses zum Kindesmorde ist, ergibt sich aus der
Yvernös entnommenen Beobachtung, daß 75 Prozent aller Kindes¬
morde auf dem Lande und 60 Prozent aller Fruchtabtreibungen in der
Stadt vorfallen. Äußere Umstände sind von geradezu ausschlag¬
gebender Bedeutung. Wo die Fruchtabtreibung leicht gemacht werden
kann, entledigen sich die gegen ihren Wunsch Schwangeren der
Frucht mit Vorliebe durch den Abortus, dort, wo die Fruchtab¬
treibung mangels fachmännischer Anleitung nicht ausgeführt werden
kann oder mißlingt, greifen sie zu dem letzten und gefährlichen
Mittel, zum Kindesmorde.
Würden pathologische Geisteszustände während der Entbindung
in einem größeren Prozentsätze von Kindesmorden die Ursache des
Verbrechens sein, so müßten in der Stadt, wo die Entbindungen
durchschnittlich schwerer und die zu Geistesstörungen disponierten
Frauen häufiger sind, als auf dem Lande, die Kindesmorde relativ
häufiger Vorkommen.
Es ergibt sich daher gleichmäßig aus den theoretischen Er¬
wägungen und den praktischen Erfahrungen, daß in der großen Mehr-
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IX. Bischofk
zahl der Fälle der Kindesmord nicht die Folge einer vorübergehenden
krankhaften Geistesbeschaffenheit ist, sondern aus einer verstandes¬
mäßigen Überlegung hervorgeht.
Der psychologisch motivierte Kindesmord hat gewisse Merk¬
male, die immer wiederkehren: die Geheimhaltung der Schwanger¬
schaft, das Aufsuchen eines einsamen Ortes im Beginne der Wehen¬
tätigkeit, die fast immer gewaltsame Tötung des Kindes gleich nach
der Geburt und das Bemühen, die Spuren der Geburt und der Tat
zu verbergen.
Ob der Entschluß zum Kindesmorde durch besonders mächtige
äußere Motive oder durch moralische Verkommenheit oder endlich
durch die Ratlosigkeit der geistig beschränkten Gebärenden hervor¬
gerufen wurde, dies ändert kaum diese Merkmale des psychologisch
begründeten Kindesmordes. Diese Merkmale bleiben auch so ziem¬
lich die gleichen, ob die Tat längst beschlossen war oder ob sie erst
während oder nach der vielleicht unerwartet früh oder gar nicht er¬
warteten Entbindung im Affekte beschlossen wurde.
Ich resümiere: Geisteskrankheit und vorübergehende abnorme
Geisteszustände sind bei Entbindenden selten und kommen vorwiegend
bei Disponierten vor. Der Kindesmord in einem solchen Zustande
kommt sehr selten zur gerichtlichen Behandlung.
Die Affekte der heimlich Schwangeren werden durch die Ge¬
burtsvorgänge normalerweise nicht zu pathologischer Höhe gesteigert.
Der Kindesmord wird in der Mehrzahl der Fälle bei klarem Be¬
wußtsein ausgeführt.
Besonders schwere Ergriffenheit durch die Geburtsvorgänge würde
Kindesmord nicht fördern, sondern hemmen.
Eine besondere Disposition zum Kindesmorde besitzen geistes¬
schwache ledige Erstgebärende.
Jene Fälle von gerichtlich begutachtetem Kindesmord, welche
als Beweis dafür veröffentlicht wurden, daß der Kindesmord in einem
Zustande transitorischer Verwirrtheit oder pathologischen Affektes aus¬
geführt werde, sind, so weit ich sie in der Originalpublikation nach¬
gelesen habe, nicht wissenschaftlich beweiskräftig und in einigen der¬
selben läßt sich nach dem gegenwärtigen Stande der psychiatrischen
Diagnostik nachweisen, daß kein pathologischer Bewußtseinszustand
vorlag. Insbesondere sind zahlreiche Fälle von sogenannter Wut der
Gebärenden zwar hochgradige, jedoch nicht pathologische Affekte
gewesen.
Es ist mir schließlich eine angenehme Pflicht, Herrn Professor
Haberda für die liebenswürdige Unterstützung, welche er mir bei
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Der Geisteszustand der Schwangeren und Gebärenden.
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den Literaturstudien und durch Überlassung einiger wertvoller Gut¬
achten gewährte, meinen verbindlichsten Dank auszusprechen.
Viel häufiger, als der Sachverständige, ist der Laie geneigt, die
Geistesbeschaffenheit der Kindesmörderin für eine abnorme zu halten.
Das rührt daher, daß das Verständnis für die mitleiderregenden Mo¬
tive zur Tat, insbesondere für die Furcht vor der Schande, ein all¬
gemeines ist und daß der Laie im allgemeinen eine übertriebene Vor¬
stellung von dem Einflüsse der Geburtsvorgänge auf den Gemütszu¬
stand der Entbindenden hat. Es erscheint vielleicht sonderbar, daß
gerade der Psychiater gegen diese Regungen des Mitleides Protest
erhebt, denn gerade von ihm könnte man ein besonderes Verständnis
des mächtigen Einflusses von Gemütserregungen und körperlichen
Schmerzen auf die Handlungen erwarten. Dieses Verständnis fehlt
auch nicht und es gibt wohl keinen Psychiater, welcher die Entschuld¬
barkeit des Kindesmordes in vielen Fällen, in welchen Ratlosigkeit
und Verzweiflung zur Tat gedrängt haben, nicht ebenso lebhaft oder
noch stärker empfinden würde, als der Laie.
Der Psychiater weiß aber, daß in einer Unzahl anderer Ver¬
brechen Gemütsaufregungen von gleicher Intensität der Tat voraus¬
gegangen sind.
Täglich treibt Liebe, Eifersucht, Angst, Not, Hunger, begründeter
Haß zum Verbrechen, schwere und schmerzhafte Erkrankungen bringen
den Entschluß zum Verbrechen zur Reife, und alle diese Verbrecher
sind des Mitleides ebenso würdig, wie die Kindesmörderin. Und
doch ist für jene im Strafgesetze nur eine Milderung der Strafe vor¬
gesehen, während die Strafe der Kindesmörderin, an und für sich
geringer als die des Mörders durch Anwendung des § 46 noch weiter
gemildert werden kann. Es wäre eine Ungerechtigkeit gegenüber der
großen Zahl anderer Affektverbrecher, wenn man entgegen der wissen¬
schaftlichen Erfahrung wieder in den Fehler verfallen wollte, gerade
bei der Kindesmörderin psycbopathologische Einflüsse zu vermuten,
wenn nicht triftige Gründe dazu Anlaß geben. Wir Psychiater fühlen
gewiß mit der ganzen gebildeten Welt das Bedürfnis nach einer Re¬
form des Strafrechtes. Es wäre aber ein schweres Hindernis für die
Erreichung des angestrebten Zieles, wenn sich die Gewohnheit ein¬
bürgern würde, in jenen Fällen, in welchen das psychologische Stu¬
dium des Verbrechers besonders klar zeigt, daß derselbe durch An¬
lage und äußere Umstände zum Verbrechen getrieben wurde, patho¬
logische Verhältnisse anzunehmen.
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162
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Zwei geistesgestörte Verbrecher.
Von
Dr. Heinrich Svorcik, Gerichtssekretär in Reichenberg.
I.
Ein geistesgestörter Priesterangreifer.
Krafft-Ebing erwähnt im Lehrbuche der gerichtlichen Psychopa¬
thologie (Stuttgart, Enke 1900) an einigen Stellen Mißhandlungen und
sonstige Angriffe gegen Leib und Leben der Geistlichen vollbracht
durch Geisteskranke; in einem Falle handelte es sich um die Tat
eines Melancholikers, welcher den Vorsatz faßte, einen Geistlichen zu
ermorden, um hingerichtet zu werden — der sogenannte indirekte
Selbstmord der Melancholiker, — in einem zweiten Falle versuchte
eine Wahnsinnige den Mord an einem Prediger in der Meinung, die
Pfarrer verkündeten von der Kanzel herab, daß sie gestohlen habe
(V erfolgungswahn).
In dem die religiöse Paranoia behandelnden Absätze werden als
gewöhnliche Handlungen derart Geisteskranker Mißhandlungen von
Geistlichen, Störung des Gottesdienstes, Tempelschändung u. dgl. an¬
geführt. K. E. a. a. 0. S. 99, 133, 156, derselbe: in Friedrichs Bl.
1869 H. 3.
In Nordböhmen ereigneten sich nun im Laufe ds. J. 1907
zwei ganz besonders gefährliche Fälle des Angriffes auf Geistliche;
der eine, am 19. Februar 1907 in Reichenberg, der andere am
5. Mai 1907 in Reichstadt (im benachbarten Kreisgerichtssprengel
B. Leipa gelegen).
In beiden Fällen hatten die Angreifer dieselbe gemeinsame Ab¬
sicht: Der Tötung eines Geistlichen.
Im ersten Falle, welcher den Gegenstand dieses Aufsatzes bildet,
verursachte die abgeschossene Handfeuerwaffe keine körperliche Ver¬
letzung, im zweiten Falle wurde der Dechant in Reichstadt meuch¬
lings von 3 Projektilen getroffen und schwer verletzt.
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Zwei geistesgestörte Verbrecher.
165
Der ersterwähnte Fall endete mit der Überführung des Täters in
die Prager Landesirrenanstalt, bezüglich des zweiten Falles ist die
Voruntersuchung noch nicht geschlossen, der Täter ist aber Gegen¬
stand der Untersuchung durch Gerichtspsychiater. 1 )
Die kurz gefaßte Tatgeschichte ist die:
Am 19. Februar 1907 gegen V* 10 Uhr Vormittags erstattete der
Kirchendiener Josef S. am Polizeiamte in Eeichenberg die Anzeige,
daß soeben in der Erzdekanalkirche ein Mann einen Schuß gegen den
Hochaltar abgegeben und dann, als er sich nach der Ursache des
Knalles erkundigen wollte, auch gegen ihn mit einer Schußwaffe ge¬
zielt habe. Der Täter selbst bekannte seine Tat dem Wachmanne in
der Nähe der Kirche mit den Worten: „Ich hab’s getan“.
Bei der Vernehmung erklärte der Täterdem Polizeiinspektor, er habe
durch vieles Lesen freidenkerischer Schriften die Überzeugung ge¬
wonnen, daß es weder einen Himmel noch eine Seele gebe und daß
es nur die Geistlichen sind, welche an dem Unglücke und der völli¬
gen Verdummung der Menschheit die Schuld trügen, während sie
selbst ihr Leben als Faulenzer verbrächten. Er sei deshalb seit einem
Jahre konfessionslos. Er habe ein Leben schwerer Arbeit vor sich
und es sei ihm ganz gleich, ob er jetzt oder 20 Jahre später sterben
müsse. Er habe vor 14 Tagen beschlossen, sich selbst zu erschießen,
wollte aber vordem wenigstens einen der ihm so verhaßten Priester
ums Leben bringen in der Überzeugung, daß die ganze Menschheit
seine Tat gutheißen und ihn als ihren Wohltäter betrachten würde.
Den Selbstmord habe er aber damals nicht ausgeführt. Am 19. Fe¬
bruar (dem Tage der Tat) sei er früh um 7 Uhr in die Arbeit ge¬
gangen, welche er aber nach 1 j-i Stunde infolge seiner Aufregung
über die Priester wieder eingestellt habe. Er habe nun den seinem
Schwager gehörigen Revolver, welcher sich in der Verwahrung einer
Bekannten seiner Schwester befand, unter dem Vorwände, er solle die
Waffe der Schwester zurückbringen, abgeholt und sei mit der
scharf geladenen Waffe in die Kreuzkirche gegangen, um hier einen
Geistlichen zu erschießen; da in dieser Kirche kein Geistlicher an¬
wesend war, sei er in die Erzdekanalkirche gegangen in der An¬
nahme, daß er dort gewiß einen solchen treffen werde. Auch hier sei
kein Geistlicher zu erblicken gewesen, weshalb er wieder fort ge¬
gangen sei mit dem Vorsatze, einen ihm begegnenden Priester zu er¬
schießen. Weil er keinen angetroffen habe, sei er nach einer Stunde
des Herumirrens in der Stadt wieder in die Erzdekanalkirche zurück-
1) Die Voruntersuchung wurde mittlerweile geschlossen, der Täter wurde als
Geisteskranker der Pflege einer Irrenanstalt übergeben.
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166
X. SVOKCIIt
gekehrt und habe, nachdem wiederum kein Priester da war, aus einer
Entfernung von ungefähr 10 Schritten hoch zielend einen Schuß
gegen den Hochaltar abgegeben. Als darauf ein schwarz gekleideter
Mann aus der Sakristeitür heraustrat, habe er in der Meinung, es sei
ein Geistlicher, gegen ihn die Waffe gerichtet und losgedrückt Der
Schuß versagte, der Mann sei in die Sakristei zurückgeeilt, worauf
er den Revolver gegen den Hochaltar geworfen habe und aus der
Kirche herausgegangen sei, um einen Wachmann zu suchen, damit
er ihn zur Polizei führe.
Das sei dann auch geschehen.
Diese Angaben wiederholte der Täter vor dem Untersuchungs¬
richter. Es ist ihnen zu entnehmen, daß der Täter, am 4. April 1887
geboren, seines Zeichens Schuhmacher, zuletzt Bahnarbeiter, kon¬
fessionslos, ledig und wohlverhalten ist.
Die Angaben, welche sich auf das Vorleben und^die Familien¬
verhältnisse des Täters beziehen und in welchen er die Entwicklungs¬
geschichte seiner „Weltanschauung“ kund gibt, lasse ich zwecks Ver¬
meidung von Wiederholungen jetzt unerwähnt; der Leser findet sie
im gerichtsärztlichen Gutachten ausführlich dargestellt. Zu erwähnen
sei hier nur die Erklärung des Schusses gegen den Hochaltar.
Hierüber sagt der unglückliche, junge Mann folgendes: „In der Auf¬
regung darüber, daß meine Absicht mißlang, trat ich bis zum Gelän¬
der des Hauptaltares und zog in der Absicht, zu mindestens den
Altar zu verunstalten, den Revolver aus meiner Brusttasche und schoß
gegen den Altar.“ Der Täter bringt ferner vor, daß er an diesem
Tage wieder an Nervenschmerzen im Kopfe gelitten habe, „sonst
hätte er die Tat nicht begangen.“ Das Protokoll des Untersuchungs¬
richters schließt mit der Amtsbemerkung, daß der Einvernommene
bei der Schilderung der Gründe seines Priesterhasses weinte, bei der
Schilderung des gefaßten Vorsatzes, einen Priester zu ermorden, je¬
doch ruhig, ja wohlgefällig, selbstbewußt und freudig lächelt
Der Schilderung des Kirchendieners ist zu entnehmen, daß er
damals schwarz gekleidet war, und daß die letzte Messe in der
Erzdekanalkirche kurz vor 10 Uhr beendet war, um welche Zeit
sich der Priester aus der Sakristei entfernte. Die Aussagen der übrigen
Zeugen sind für den Zweck dieses Aufsatzes ohne Belang; des¬
gleichen sind die Feststellungen des Lokalaugenscheines kriminalistisch
belanglos. Die Sachverständigen im Waffenfache erklärten, daß die
Waffe gut funktioniert und daß ein „Versagen“ ausgeschlossen ist,
ein Laderaum war leer und diesem Umstande hat der Kirchendiener
seine körperliche Integrität zu verdanken.
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Zwei geistesgestörte Verbrecher.
167
V. wurde am 6. März 1907 zum Zwecke der gericktsärztliclien
Untersuchung durch Psychiater nach Prag geschafft.
Die Familienforschung ist spärlich und wir haben außer den
Feststellungen, die in Nachfolgendem wiedergegeben werden, verhält¬
nismäßig wenig Berichte über die Familie des Beschuldigten. Bezüg¬
lich des Vorlebens und der Abstammung des V. wurde ergründet,
daß er 7 Geschwister habe, von denen 3 Schwestern verheiratet sind.
Der Vater lebt noch und ist Häusler in S, V. hat in Komotau die
Schuhmacherei erlernt und arbeitete in der Folge als Schuhmacher¬
gehilfe mit Unterbrechungen in verschiedenen Orten des In- und
Auslandes. Ende Dezember 1906 ging er nach Reichenberg, woselbst
er bis zum 19. Februar 1907 am Bahnoberbau arbeitete. Schon in
Komotau fing er an, sozialdemokratische und freidenkerische Schriften
zu lesen, in Prag besuchte er einmal das Museum und sah, daß es
keine Seele gäbe, und verlor den Glauben an Gott und Himmel. Im
Museum hat er prähistorische Gegenstände gesehen und gelernt,
daß der Mensch und die Welt schon vor 300000 Jahren da waren
und nicht so kurze Zeit, wie die Bibel lehrt. So sei er zu der Über¬
zeugung gekommen, daß nicht nur die katholische Geistlichkeit, son¬
dern das gapze, christliche und außerchristliche Priestertum ein Feind
der Menschheit und die Ursache ihrer Verdummung und ihres Un¬
glückes sei. Als Ende 1906 der Priester in seinem Heimatsorte gegen
die Bestrebungen der Reform des Eherechtes predigte und die Unter¬
schriften dagegen sammelte, so verließ er aufgeregt die Kirche und
weinte in der Erkenntnis, wie der Glaube es eigentlich mit der
Menschheit meint. Zuhause hat er oft vor seinen Familienangehörigen
gegen die Priester und den Kirchenbesuch geeifert, die Mutter hat
ihn ausgezankt, die Schwester hat ihm prophezeit, er komme noch
nach Dobrzan J ). Er ist immer ein Feind der Geistlichkeit, wenn er
aber seine Kopfschmerzen hat und an Selbstmord denkt, so fasse er
stets den Vorsatz, gegen die Priester gewaltsam aufzutreten. Diese
Nervenschmerzen werden immer heftiger und heftiger — wenn er
reiche Eltern hätte so würde er in ein Sanatorium gegangen sein,
um zu genesen. So bleibt ihm nichts anderes übrig als Selbstmord,
vor dem Selbstmorde aber wollte er an einem Priester Rache nehmen.
Sobald die Kopfschmerzen nachgelassen haben, habe er diese Ge¬
danken aufgegeben in der Erkenntnis, daß es ihm nichts nütze. Die
anarchistische Idee hält er für überspannt „denn mit Gewalt richtet
man nichts aus.“
1) Die Landesirrcnanstalt in Böhmen
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X. SVORCIK
Einen Nichtpriester zu verletzen, hält er für ein großes Vergehen
und ist eines solchen nicht fähig.
Interessant ist die Eingabe, mit welcher V. am 6. Oktober 1906
von Sachsen aus bei der k. k. Bezirkshauptmannschaft in R. seinen
Austritt aus der Kirche bekannt macht Es heißt darin: „Die heutigen
Verhältnisse zwingen mich (V.) zum Austritte weil ich im Christen¬
tum den größten Feind des Fortschrittes erblicke. Meine Seele wird
vielleicht erzittern vor dem Gerichte des Allerhöchsten; doch wenn
ihr Gotterwählten keine Angst um Euere Seelen habt, habe auch ich
nichts zu fürchten. Mit Kaisern und Königen in der Hölle wird es
besser sein als auf der Erde bei dem ganzen Elend.“ Der Gemeinde¬
vorstand äußerte sich über bebördliche Anfrage, der Einschreitende
befinde sich in einem solchen Geisteszustände, welcher die Über¬
legung ausschließt. Der Ortspfarrer erhielt von V. einen Brief, dessen
Inhalt in wortgetreuer Übersetzung angeführt zu werden verdient.
Eppendorf, 20. V. 06.
Geehrter, Geistlicher Herr!
Ich erlaube mir Ihnen hiermit mitzuteilen, daß ich aus dem Schoße
der römisch-katholischen Kirche austrete. Die letzten Ereignisse haben
mich dazu gezwungen. Ich bin ein armer Arbeiter und kenne die
menschlichen Verhältnisse sowie ihr Verschulden. Ich habe die heilige
Schrift ebenfalls durchstudiert, nun ich kann Euch nicht glauben.
Ich habe feste Gründe dafür. Warum wird im Prager Museum die
Entstehung der Welt anders dargestellt? (!) Sie (offenbar die Geist¬
lichkeit) weiß aber eben, daß darin ihre Macht liegt, daß sie die
Menschheit im Stumpfsinne erhält und weiß, daß in der Bildung der
Menschheit ihr Verfall liegt. Deshalb ist es meine Schuldigkeit,
gegen Laster, Lüge und Tyrannei zu kämpfen und ich trete aus
eueren Reihen heraus. Meine Landsleute werden sich wundern, daß
ich auf das Christentum verzichte, ich bandle aber als ein von
der Wahrheit fest überzeugter Mensch. Es ist meine Pflicht, das
heißt, wenn ich als Mensch gelten soll. Ich will Sie nicht beleidi¬
gen, aber ich verachte Sie als einen Diener der Kirche. Lieber
fallen als ein zweiter Tyrann sein, deshalb streichen Sie mich
aus dem Schoße der Kirche heraus und erklären mich meinet¬
wegen für einen Ketzer.“ J. V.
Die Schrift des V. ist in beiden Schriftstücken sehr gefällig und
es ist augenscheinlich, daß er die Zeilen mit Fleiß und Aufmerk¬
samkeit aufs Papier setzte. Die Schulleitung erklärt ihn für einen
Schüler von musterhaftem Benehmen und sehr gutem Fortschritte,
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Zwei geistesgestörte Verbrecher.
169
er sei so fleißig gewesen, daß seine Kenntnisse dem Bezirksschul¬
inspektor aufgefallen sind. Die Lehrer liebten den emsigen Schüler.
Die Familie des V. erfreut sich guten Rufes, krank war Niemand.
Seine Dienstherren loben den V. als fleißigen Burschen, er habe nie
getrunken, doch habe er Zeitschriften extremer Richtung gelesen und
über Priester geschimpft. Die im Besitze des V. Vorgefundenen Brief¬
schaften und Schriftstücke sind umfangreich und interessant, doch
würde es zu weit führen, wollten wir ihren Inhalt anführen; er deckt
sich mit den angedeuteten Ansichten V. In manchen Schriften spricht
er vom Selbstmorde, seiner Schwester schreibt er rührend „gerne
möcht ich dich sehen — wahrscheinlich komme ich um den
Verstand.“ „Die Deutschen sind aufrichtiger als mein Volk —
das macht ihre Religion“, heißt es an anderem Orte. Die Frage,
warum er den vollkommen unschuldigen Priester erschiessen wollte,
beantwortet er dahin, es sei ihm so in den Kopf gestiegen und er
könne nichts dafür. Er wisse, daß die Tötung des Priesters nie¬
mandem geholfen hätte, er dachte aber, daß er den Priester
töten und dafür gehenkt werden würde. Lieber nicht leben,
als mit krankem Geiste.“
Der ärztliche Befund lautet:
J. V. ist mittlerer Statur, starken Knochenbaues, gut ernährt, mit
sehr gut entwickelter Muskulatur, rosigen Wangen, bleichen Lippen
und bleichem Zahnfleisch. Der Schädel ist kurz syraetriscb. Die
Ohrmuscheln stehen leicht ab, die Conchen sind auffällig groß und
geräumig. Die Ohrläppchen sind fast gänzlich angewachsen. Die
Stirn ist niedrig, fast senkrecht. Die Ränder der oberen Augenhöhlen
ragen leicht hervor. Die Augen sind etwas eingefallen, die Oberlippe
regelmäßig mit einem Schnurbärtchen bewachsen, auf dem Kinn ein¬
zelne, unregelmäßig sitzende Härchen. Die Stirne pflegt stets
durch tiefe, querlaufende Falten durchfurcht zu sein. Er
kann sehr gut die behaarte Kopfhaut und die Ohren bewegen. Die
Bewegungen der Stirn, Augen und Gesichtsmuskel, der Zunge und
des weichen Gaumens sind normal und munter. Die Zunge ist leicht
weiß belegt, die Mandeln vergrößert. Der Hals ist normal, die Schild¬
drüse deutlich fühlbar. Die Halsdrüsen sind nicht geschwollen, der
Brustkorb gut entwickelt, das Atmen normal. Das Herz ist nicht ver¬
größert, die Tätigkeit regelmäßig, doch auffällig verlangsamt (48 in
der Minute). Die Geschlechtsteile sind gut entwickelt. Die Bauchhöhle
ist ohne Veränderung. Das Rückgrat ist gerade, nicht schmerzhaft,
gut beweglich. Die Muskulatur der oberen und unteren Extremitäten
ist tadellos, und außerordentlich stark, er kann mit geschlossenen
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X. SVORCIK
Augen auf den Fußspitzen gut stehen, auch auf einem Bein. Der
Bauch- und Cremasterreflex sind vorhanden. Die mechanische Reiz¬
barkeit der Muskeln ist normal. Die vasomotorische Reizbarkeit ist
erhöht, rote Streifen bleiben beim Examen lange sichtbar und es ent¬
steht ein leichter Nesselausschlag. Der Urin ist ohne krankhafte
Änderung. Der Vater ist im Jahre 1849 geboren und gesund, er ist
zornig und schlug die Kinder wegen jeder Kleinigkeit, er trinkt nicht
viel, und soviel dem Beschuldigten erinnerlich, war er nur einmal
betrunken. Mit der Mutter hatte er öfter Streitigkeiten, sie wurde in
den jüngeren Jahren öfters vom Vater geschlagen. Des Vaters Vater
hatte denselben Charakter Die Mutter ist im Jahre 1852 geboren,
gesund, ruhigen und liebevollen Charakters. In der Familie sind, so¬
viel sich V. erinnert, keine Geisteskrankheiten vorhanden, es gab
auch keine Epileptiker. Zwei Brüder des Vaters waren Kartenspieler
und haben alles verspielt, was sie hatten. Ihre Söhne machen es
genau so, trinken stark dabei und pflegen oft betrunken zu sein. Er
hatte zehn Geschwister gehabt, von denen drei an Diphteritis und
Fraisen in den ersten Lebensjahren starben, es leben zwei Brüder
und fünf Schwestern, sämtliche gesund, auch die drei verheirateten
Schwestern haben gesunde Kinder.
Er selbst hatte keine Fraisen, fing bald zu laufen an und zu
sprechen, war kein Bettnässer und hatte keine Schreckträume.
Als Schuljunge machte er Scharlach mit In der Schule kam er
gut fort.
Seiner Ansicht über die politischen Parteien: „eine Partei sei
wie die andere, jede will nur Geld haben“, kann man eine gewisse
Rechtfertigung nicht versagen.
Was seine Tat anbelangt, so sieht er selbst ein, daß der ganze
Gedanke krankhaft war. Wenn er einen gesunden Menschenverstand
hatte, möchte er sich um die Priester überhaupt nicht kümmern, sie
gar nicht anschauen und gewiß nicht nach ihnen schießen; denn
damit richtet man nichts aus. Die zeitliche und örtliche Orientierung
ist gut und genau. Seine Kenntnisse entsprechen denjenigen eines
Absolventen einer Mittelschule. Sein Benehmen ist, den Umständen
angemessen, achtungsvoll, ruhig und willig, der Gesichtsausdruck
intelligent, die Auslösung der Vorstellungen rege, die Antworten
logisch, insoweit es sich nicht um die Motivierung seiner Tat ban¬
delt. Das Benehmen in der Untersuchungshaft war befriedigend.
Das Gutachten kommt zu dem Ergebnisse, daß das ganze
Gehirn des Untersuchten den großen Vorrat unbearbeiteter, schwerer
Vorstellungen nicht fassen und unterscheiden konnte.
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Zwei geistesgestörte Verbrecher.
171
ln seiner krankhaften und verrückten Erkenntnis beging er die
ihm zur Last gelegte Tat, er ist geistig abnormal, leidet an Wahnsinn
und krankhaften Zwangsvorstellungen und muß für unzurechnungs¬
fähig erklärt werden. Er ist unfähig, die Folgen seiner Handlung
zu erkennen, kann für seine Handlung nicht verantwortlich gemacht
werden und beging die strafbare Handlung in einer Sinnesverwirrung.
J. V. beging eine Tat gegen die Sicherheit eines menschlichen
Lebens, seine Krankheit ist eine derartige, daß er eine ähnliche Tat
wieder begehen könnte. Es ist demnach nötig, daß er solange in
einer Irrenanstalt untergebracht wird, soweit seine verrückten Wahn¬
ideen und Zwangsvorstellungen nicht in den Hintergrund treten.
V. \vurde am 10. April 1907 in die Landes-Irrenanstalt in Prag
geschafft.
Vom inneren Werte vollends abgesehen, ist das Gutachten der
Prager Psychiater in bezug auf die Technik des Gutachtens nicht
ohne Interesse und es sei mir gestattet, an dieser Stelle einiges über
die Gutachtertätigkeit zu erwähnen.
Es ist heute noch eine strittige Frage, ob das Gutachten des
Gerichtspsychiaters die Paragraphen des Strafgesetzes zitieren soll,
unter welche es das Ergebnis der Untersuchung subsumiert. Wir
lesen häufig am Schlüsse der Gutachten der Psychiater den Satz:
Der Täter gehört sonach unter den Schutz des § 51 D. R. St. G.
oder es sind die Voraussetzungen des § 2 lit a, b oder c ö. St G.
vorhanden.
Professor Aschaffenburg aus Köln a. Rh. hat in dem i. J. 1907 ab¬
gehaltenen, internationalen Kurse der gerichtlichen Psychologie und
Psychiatrie zu Gießen die Ansicht vertreten, daß der Gerichtsarzt zu
einem solchen Schlußsätze nicht nur berechtigt, sondern auch ver¬
pflichtet sei. Er begründete diese Ansicht unter anderem damit, daß
durch die bestimmte Anführung der Gesetzesstelle seitens der Ge¬
richtspsychiater jedweder Zweifel des Gerichtes oder der Staatsan¬
waltschaft im vorhinein ausgeschlossen ist und eine Ergänzung und
wiederholte Prüfung des Gutachtens erspart bleibt. Es läßt sich nicht
leugnen, daß für diese Ansicht vieles spricht, insbesondere, der vom
Professor Aschaffenburg ins Treffen geführte Grund. Ich kann aber
trotz alledem seine Anschauung nicht teilen. Das Gutachten der Prager
Universitätslehrer beinhaltet eine solche bestimmte Subsuraption nicht,
wogegen ich in den sonstigen Gutachten in der Regel eine bestimmte
Erklärung, der Untersuchte falle unter den Schutz des § 51 St.-G.
oder dem Untersuchten komme der Schutz dieser Gesetzesstelle nicht
zustatten, fand. Ich verweise darauf, daß der Sachverständige nach
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172
X. &VORCIK
Krafft-Elbing das Resultat seiner Beobachtungen und die Deutung
seines Befundes in Form eines Gutachtens klar zu legen und zu¬
sammenzufassen bat, und daß der Tenor des eigentlichen Gutachtens
die Begründung des etwa Vorgefundenen anomalen Zustandes ge¬
gebenenfalls als eines krankhaften zu bilden hak Derselbe Schriftsteller
warnt vor Anwendung juristischer Termine und vor Übergriffen in
fremdes Gebiet.
Es mag mich bedünken, daß eine Entscheidung des Sachver¬
ständigen der § 51, D. R. Sk G. oder der § 2 a — c ö. St. G. sei
vorhanden oder nicht, wenn die Darstellungen und Schlußfolgerungen
des Sachverständigen in klarer, präziser und gemeinverständlicher
Sprache stattfinden, zu mindestens überflüssig ist, falls sie nicht ein
Präjudiz für das Gericht oder den Staatsanwalt in sich begreifen
soll. Wir kämen mit dem Paragraphen 260 der deutschen Sk P. 0.
und dem § 134 der österr. SkP. 0. in Kollision und an dem Grund¬
sätze, daß das Gutachten für den Richter nicht bindend
sein kann, und darf, hält insbesondere die reichs-deutsche Straf¬
prozeßordnung fest; schließlich und endlich ist die eigentliche Aufgabe
des Gerichtspsycliiaters die Feststellung der Geistesgesundheit oder Krank-
heit, nicht aber der Zurechnungsfähigkeit und Willensfreiheik')
Die präzisen Schlußfolgerungen der Prager Psychiater über den von
mir beschriebenen Priesterangreifer lassen doch ganz gewiß keinen
Zweifel über das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines Straf¬
ausschließungsgrundes übrig und doch finden wir keine der Gesetzes¬
stellen angezogen und es folgte dieser Erklärung der Prager Psychia¬
ter sofort der Antrag der Reichenberger Staatsanwaltschaft auf Ein¬
stellung des Strafverfahrens gegen V. wegen versuchten Mordes und
Religionsstörung. Die Befragung der Psychiater, ob ein Strafaus¬
schließungsgrund des $ 2 St. G. da sei oder nicht, war bei dem
klaren Wortlaute des Gutachtens ganz und gar überflüssig, und so
scheinen mir die Besorgnisse des Professor Aschaffenburg, die er
dem gerichtlichen Verständnisse des Gutachtens gegenüber den rich-
1) Vergleiche die Motiven berichte zum § 51 D.R.St.G. und den § 134 d.
österr. St.P.O., ferner Hoffmanns Lehrbuch der gerichtl. Medizin IX. Auflage
§ H3 u. folg, und die im Lehrbuche d. Krafft-Ebing angeführte Literatur.
Nachtrag bei der Korrektur: „In meinem Artikel: Zur Besprechung des „Un¬
zurechnungsfähigkeitsparagraphen“ am österreichischen Irrenärztetage zu Wien,
am 5. Oktober 1907“ (Allg. öster. Gerichtszeitung, 58. Jabrg., Nr. 58 bei Manz)
versuchte ich nachzuweisen, daß dem sachverständigen Psychiater die Beant¬
wortung der Frage der Zurechnungsfähigkeit überhaupt nicht- zustcht, sondern,
daß sich dieser einzig und allein mit der Frage zu befassen hat, ob der Be¬
schuldigte zurzeit der Begehung der Handlung geistesgestört war.
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Zwei geistesgestörte Verbrecher.
173
terlichen und staatsanwaltschaftlichen Organen zu hegen scheint, bei
Vorhandensein eines klaren und wohlbegründeten Gut¬
achtens nicht ganz begründet. Das vorangeführte Gutachten über
Josef V. vermeidet ferner die Stellung einer ärztlichen Diagnose der
Geisteskrankheit des Untersuchten. Auch dieses scheint mir das
Richtige zu sein, und ich glaube, daß, wenngleich die Ausführungen
der Gerichtspsychiater über das Vorhandensein einer bestimmten
Geisteskrankheit von unleugbarem wissenschaftlichem Wert sind, eine
umfassende Diagnose und weitläufige Begründung des Umstandes,
es läge diese und nicht jene der feinen Abarten der Geistesstörungen
vor, in das Gutachten nicht hinein gehörten. Damit soll selbstverständ¬
lich nicht gesagt werden, daß sich der Gerichtspsychiater über die
Art der Geistesstörung ausschweigen müßte; ich meine nur, daß der
Gerichtspsychiater den an dem Strafverfahren beteiligten Personen zu
sagen hat, welch’ anomaler Zustand des Untersuchten vorgefunden
wurde, in wie fern dieser Zustand krankhaft sei, und warum.
Die wissenschaftliche Behandlung der rein medizinischen, oft
an sich sehr strittigen Frage, welche Geisteskrankheit eigentlich vor¬
liegt und warum diese und nicht jene Diagnose platzgreift, gehört
- in kein Gutachten, welches für das Gericht bestimmt ist, sondern •
meinetwegen in eine psychiatrische Fachzeitung.
Wenn ich mir ein Urteil über die Art der Geistesstörung des
Josef V. erlauben darf, so würde ich auf Grund des Befundes und
Gutachtens der Prager Psychiater seine Handlung als die eines
Melancholikers, aus schmerzlichen Gefühlen und aus Zwangsvor¬
stellungen hervorgegangen, erklären. Hiefür sprechen die im Befunde
festgestellten Furchen der Stirn, (vergl. „Omega melancholicum“.)
und der „indirekte Selbstmord“ ausgedrückt in der Erklärung des
Josef V., er werde den Priester töten und werde dafür gehängt wer¬
den und ferner der beabsichtigte, aber nicht vollführte Selbstmord
des Josef V. und seine Zwangsvorstellungen, die ihn in einen wahren
psychischen Notstand brachten, wobei die Befreiung von seinem trost¬
losen Zustand um jeden Preis erlangt werden wollte.
Die Prüfung, ob dieser Versuch der Diagnose, der richtige ist
überlasse ich dem geschulten Psychiater. *)
1) Nach Beendigung des Aufsatzes hatte ich Gelegenheit, die Kranken¬
geschichte des V., aufgenoramen in der Landesirrenanstalt in Prag, zu lesen:
als Diagnosis wird dementia juvenilis angeführt. Abweichende Beobachtungen
des Zustandes des V. sind darin keine angeführt, V. wird als verschlossener, nur
selten zugänglicher Kranke geschildert.
Archiv für Kiiminaianthropologie. 29. Bd. 12
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II.
Ein geistesgestörter Hochstapler.
(Mit Tafel I—III.)
Zur Einleitung.
Die Skizzen, welche Professor G. Aschaffenburg in seinen Vor¬
trägen im internationalen Kurse der gerichtlichen Psychologie und
Psychiatrie zu Gießen, 1907, über die Hochstapler entwarf, blieben
gewiß einem Jeden der Teilnehmer in bester Erinnerung; der Vor¬
tragende beleuchtete vom Standpunkte eines scharfsinnigen Psycho¬
logen und Kenners des Strafrechtes die seelischen Vorgänge des be¬
wegten Lebens dieser sozial so sehr gefährlichen Mitglieder der
Gesellschaft und erzählte eine Begebenheit aus eigenem Leben, wie
ihn ein Hochstapler besuchte, über das ihm gewährte Viaticum be¬
leidigt war, dann einen hochtrabenden Vortrag über seine unzweifel¬
hafte Ehrenhaftigkeit hielt, zum Schlüsse Geld vom Schreibtische
nahm und sich entfernte. Sehr treffend charakterisierte Aschaffenburg
diese Erscheinung: „Es war keine Komödie, die der Hochstapler
durch seinen schauspielerischen Vortrag gespielt hätte, nein, in dem
Augenblicke sprach er aus der innigsten Überzeugung seines verun¬
glückten Genies, er fühlte und empfand als ein wirklicher Ehren¬
mann. “ Ebenso treffend und übereinstimmend mit dieser Charakteristik
urteilt der Staatsanwalt Dr. Erich Wulffen in seinem Werke über
den Dieb Manolescu, indem er sagt: Er (Manolescu) spielte nicht
den eleganten Hotelgast, während er stahl, sondern er war es wirk¬
lich. Solche Gaben lassen sich nicht anlernen und einstudieren, sie
sind da und machen sich geltend.“
Ganz richtig beurteilt der letztgenannte Verfasser die Ursachen
der „Wiedergeburt“ Manolescu’s; das am Schlüsse dieses Werkes be¬
findliche Urteil Wulffens, Manolescu sei trotz der von ihm behaup¬
teten „Regeneration“ in seinem Innern unwandelbar, ist vollkommen
begründet. (Vgl. Dr. Erich Wulffen: Manolescu und seine Memoiren.
Kriniinalpsychologisclie Studie. Langenscheidt. Berlin. 1907.)
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Zwei geistesgestörte Verbrecher.
175
Ein interessantes Bild bietet die Lebensgeschichte des Eduard C.,
eines der gefährlichsten internationalen Betrüger. Der Leser wird das
Nähere aus der nachfolgenden Schilderung erfahren: hier sei nur
darauf hingewiesen, daß ich mich in Anbetracht des seltenen Falles
eines paranoitischen Hochstaplers, welcher von einem Psychiater für
einen gefährlichen Simulanten gutachtlich erklärt, von einer Reihe
Untersuchungsrichter und Staatsanwälte mit aller Bestimmtheit als
solcher betrachtet wurde, zur Veröffentlichung einer Studie über diesen
sonderbaren Verbrecher für verpflichtet erachtete.
I.
Die Geschäftstätigkeit des am 7. Oktober 1874 in K. in Böhmen
geborenen Eduard C. beginnt im Mai 1893 im Orte Ladovitz bei
Brüx in Böhmen, er gründete dort nach einiger elektrotechnischer
Praxis ein Geschäft für Elektrotechnik und nahm mit Rücksicht auf
eigene Minderjährigkeit einen einfachen aber eigenberechtigten Berg¬
arbeiter als Gesellschafter. Es war ihm gewiß bekannt, welchen Ein¬
druck die richtige Benennung des Geschäftes, die gut angebrachte
Andeutung über den Umfang des Unternehmens und die vornehme
Ausstattung der Geschäftsbriefe auf die Geschäftswelt macht; die
Geschäftsbögen und sonstige Geschäftsbriefe des neunzehnjährigen
Unternehmers erhielten deshalb den Aufdruck: „F. C. Werkstätte für
Elektrotechnik, Telegrammadresse: Elektron-Ladovitz, Fabrikation und
Installation elektrischer Anlagen jeder Art und Größe. Besondere
Spezialitäten-KostenVoranschläge und Preislisten gratis und franko.“
Auch für Referenzen sorgte der junge Geschäftsmann und führte als
solche den Kaufmann Eduard C. in Komotau und den Elektrotech¬
niker Bohumil Bartak in Prag an. Die nur an erstklassige Fabriken
ergangenen Bestellungen brachten in kurzer und bunter Reihenfolge
Dynamomaschinen, Glühlampen, photographische Apparate, .Bohr¬
maschinen, Schraubstöcke, und Werkzeuge aller Gattungen ein. Es
ist für die spätere kriminelle Tätigkeit des C. von Bedeutung, seine
Tricks gleich beim Beginn schärfer zu beleuchten — wir werden sehen,
daß C. bis 1907 dieselben Grundsätze beobachtet hat. Haben nun
vorsichtige Kaufleute bei den angegebenen Referenzen nachgefragt,
so lief sowohl seitens des Eduard C. als auch des Bohumil Bartak
die beste Empfehlung ein; es ist leicht zu erraten, daß der Lado-
vitzer Unternehmer seine Referenzen selbst besorgte, nur nebenbei sei
bemerkt, daß außer technischen Objekten auch manche in das Fach
nicht einschlägige Waare bestellt, geliefert und nicht bezahlt blieb,
so z. B. Harzer Kanarienvögel, Amazonenpapageien und Windhunde.
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X. SVORCIK
Auf diese Art arbeitete die Firma F. C. bis Ende Januar 1894
in Ladovitz und versuchte während dieser Zeit einige elektrotech¬
nische Leistungen, C. begab sich dann nach Prag, um dort angeb¬
lich Beschäftigung im elektrotechnischen Fache zu suchen. In der
Tat entstand Ende Juli 1894 in Prag ein elektrotechnisches Geschäft,
welches, wie der Briefbogen besagt, die Lieferung von Maschinen,
Gas- und Petroleummotoren, Fahrrädern, Bogenlampen, Akkumu¬
latoren usw. zum Gegenstände hat. Fast zu gleicher Zeit hat die
Geschäftswelt von einem ähnlichen, am selben Platze gegründeten
elektrotechnischen Etablissement die Kunde erhalten und es läßt sich
leicht vermuten, daß unser C. der alleinige Inhaber der beiden
Firmen gewesen ist. Eduard C. hat in diesem Abschnitte seines Le¬
bens einen großen Fehler gemacht, den er später sorgsam vermieden
hat: er arbeitete zu lange in einem und demselben Orte. So mußte
cs kommen, daß er am 22. Oktober 1894 von der Prager Polizei
verhaftet und dem k. k. Kreisgerichte in Brüx zur Untersuchungs¬
haft gebracht wurde, wo er bei der Hauptverhandlung am
14. August 1891 wegen mehrfachen verbrecherischen Betruges zum
schweren Kerker in der Dauer von einem Jahre verurteilt wurde.
0. trat die Strafe sofort an und verließ das Brüxer Strafhaus am
8. Juli 1896 nach Verbüßung eines Teiles der Strafe in Einzelhaft.
Es waren offenbar die schlechten Erfahrungen im eigenen Vater¬
lande, die den C. ins Ausland trieben, aktenmäßig steht fest, daß
C. Ende Oktober 1896 in Hamburg auftaucht. Wo er die Zeit
zwischen der Entlassung aus dem Brüxer Gefängnisse und dem Be¬
ginne seiner Tätigkeit in Hamburg zugebracht hat, konnte ich nicht
feststellen, nach seinen Angaben bei dem Hamburger Untersuchungs¬
richter war er teils in Wien, teils in Prag und ist am 13. Oktober 1896
nach Hamburg gekommen, um nach Amerika auszuwandern.
C 4 , welcher jetzt zum vollkommenen Hochstapler wurde, gründete
in Hamburg zwei Geschäfte zugleich: das eine lautet nach dem stil¬
gerechten Aufdrucke der Geschäftsbögen „C. Mertens, Ingenieur,
technisches Geschäft Hamburg, Neuerwall“, während das andere
unter der Firma „Eduard C., elektrotechnische Anstalt Hamburg-
Brandtwiete“ in einem anderen Stadtteile sein Contor hat. Nach dem
Rapporte der Hamburger Kriminalpolizei existierten die Kontors
Mertens und C. seit dem 1. November 1896, am 12. Januar 1897
fand man die Kontors verschlossen — der Inhaber verschwand unter
Zurücklassung einiger Schreibmaschinen, ferner einiger offenbar nicht
rechtzeitig verkaufter Arm- und Kronleuchter spurlos, nachdem er
zuvor klugerweise den Briefkasteneinwurf an der Kontortür von
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Zwei geistesgestörte Verbrecher.
177
Innen aus zugenagelt hatte. Den Hamburger Aufenthalt hat C. reich¬
lich ausgenützt, er ließ sich von etwa 50 auswärtigen Firmen buch¬
händlerische Werke, Motorfahrräder, Schreibmaschinen, photogra¬
phische Apparate, Kinematographe, Fahrräder, Waffen, Bambusmöbel
u. s. w. liefern, welche Gegenstände er alsbald verkaufte mit dem
Erlöse das Weite suchend. Durch Einschaltung billigster Angebote
in den verschiedenen Zeitungen fand er zahlreiche Abnehmer, außer¬
dem stand er offenbar in Verbindung mit den in jeder Großstadt an¬
sässigen Hehlern. Gleich den anderen Hochstaplern und inter¬
nationalen Dieben macht C- vertrauliche Bekanntschaften mit
Prostituierten, so finden wir in dem Hamburger Strafakte einen
glühenden Liebesbrief an eine Prostituierte datiert Prag am
31. Januar 1S97.
Im Monate März 1897 war die Bewohnerschaft der Stadt Leipzig
um ein elektrotechnisches Institut reicher; Herr J. Strach, Mitinhaber
der Firma F. R. Naumann eröffnete im Königshause Markt , 17 ein
Geschäftslokal, befestigte an der Tür ein vornehmes Firmaschild und
versendete alsbald an namhafte Industrieunternehmungen seine
prahlerisch ausgestatteten Bestellungen. Diese verfehlten ihre Wirkung
nicht: Wollwaren, Kinematographen, Fahrräder und Schreibmaschinen
wurden anstandslos geliefert und schnell verläßt C. Ende April 1897
Leipzig, das in seinen Briefbögen gegebene Versprechen der sofortigen
Zahlung gänzlich mißachtend; er hinterläßt in Leipzig genau so wie
in Hamburg die einzige „Legitimationsurkunde“: den Haftbefehl
des Staatsanwaltes.
In der Zeit vom Juni 1897 bis Juli 1897 beherbergen den 0.
zwei seit alters im regen Verkehre stehende Nachbarstädte Zittau i. S.
und Reichenberg in Bö.; in Zittau hatte er das Maschinengeschäft
J. Danninger am Roßplatz, in Reichenberg das technische Geschäft
J. Braun, Neustädter Platz 18 gegründet. Beide Unternehmungen
gediehen nach Wunsch und unterstützten einander durch Erteilung
von Referenzen auf das Wirksamste. Ich kann an dieser Stelle die
Auskunft eines Auskunftsbureaus nicht unerwähnt lassen, welches
über den Herrn Braun Nachstehendes berichtete: „Angefragter stammt
aus Wien, woselbst seine Eltern leben, er selbst ist noch ledig, etwa
30 Jahre alt, gelernter Elektrotechniker, war zuletzt in Prag ange¬
stellt, er stammt aus einer sehr guten Familie, dessen Onkel war so¬
gar General, dessen Bruder Leutnant, sein Vater ist Oberst und soll
in besten Verhältnissen leben“. (Der Vater C. ; s war Büchsenmacher
der österreichischen Landwehr). Im Juli 1897 versah die Zittauer
und die Reichenberger Post die für Danninger Braun eingelangt« n
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178
X. SvORCIK
Briefschaften mit den Vermerken der Unbestelibarkeit — nach Breslau,
woselbst sich C. in der Obiaurstrasse als Inhaber eines elektrotech¬
nischen Geschäftes J. Braun niederließ, konnte die Post C.’s Sendungen
Mangels eines diesbezüglichen Auftrages nicht nachsenden. J. Braun
bestellt auf die uns bekannte Art Schreibmaschinen, Treibriemen,
elektrische Apparate, Bernhardinerhunde, Schreibtische, Bügeleisen,
Edisonsfassungen, Brockhaus Lexika und Kinematographe und trachtet
nach glücklichem Verkaufe dieser schönen Sachen Breslau zu ver¬
lassen. Er geht nach Dresden und wird dort am 28. August 1897
von der Polizei verhaftet und als der langgesuchte Eduard C. erkannt,
es erfolgt seine Einlieferung an das k. Landgericht in Breslau, von
welchem er am 6. Januar 1898 wegen Urkundenfälschung in Ver¬
bindung mit Betrug in 12 Fällen zum Zuchthaus in der Dauer von
5 Jahren und 10 Jahren Ehrenverlust verurteilt wurde. Nach Ver¬
büßung von einem Monate uud 10 Tagen der Strafzeit wird C. an
das Landgericht in Hamburg zur Untersuchungshaft gebracht, um
dort wegen der in Hamburg verübten Betrügereien zur Verantwortung
gezogen zu werden. Wir finden bisher in den Akten keine Amtsbe¬
merkung, wornach C. den Eindruck eines Geistesgestörten gemacht
hätte, seine Unterschriften bieten nichts Auffäliges. C. wird dann aus
dem Hamburger Untersuchungsgefängnis dem Landgerichte zu
Bautzen zugeführt, bei welchem die Anklage wegen der in Zittau
verübten Betrügereien erhoben wurde. Die Feststellungen des Verhand-
lungsprotokolles vor diesem Gerichte (3. Juni 1898) sind nun für uns
wichtig, weil hier die ersten Zeichen der Geistesstörung des C. amt¬
lich beurkundet werden; es heißt in dem Hauptverhandlungsproto¬
kolle wörtlich: „Der Angeklagte wurde über seine persönlichen Ver¬
hältnisse vernommen, er beantwortet jedoch die an ihn gerichteten
Fragen in völlig unverständlicher Weise, murmelte unzusammen¬
hängende Worte wie „Ebbe und Flut, der größte Motor der Welt¬
fabriken, chinesische Arbeiter“. Der Gerichtshof beschloß die Ver¬
tagung der Hauptverhandlung, „da der Angeklagte sich als nicht
vernehmungsfähig darstellte, entweder dem Wahnsinne verfallen ist
oder solchen simuliert“. Der Gefängnisarzt in Bautzen versah
den Akt mit der Bemerkung, C. mache den Eindruck eines Geistes¬
kranken (Paranoia) und C. sollte nach Hamburg zurückgebracht
werden.
Am 3. Juni I89S ist C. am Dresdener Hauptbahnhofe seinen
Begleitern entwichen; er sprengte die Türe der dortigen * Gefängnis¬
zelle. obwohl er laut Berichtes der Schutzmannschaft an beiden
Händen gefesselt war.
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Zwei geistesgestörte Verbrecher.
179
Es wird wohl keineswegs überraschend wirken, wenn wir den
C. bald nach seiner Flucht in voller Arbeit treffen; es ist anzu-
nehmen, daß er sich die allernötigsten Betriebskapitalien zum Teile
von seiner damals noch lebenden Mutter, zum Teile von Hehlern und
sonstigen Komplizen verschafft hat. In der zweiten Hälfte Juni 1898
erschwindelte C. in Pilsen eine Menge Fahrräder, indem er sich hinter
dem falschen Namen des Maschinenhändlers Franz Hoffraann ver¬
barg. Er verließ Mitte Juli 1898 Pilsen, um vom 18. Juli bis
16. August 1898 den Fahrradschwindel in München unter dem
Namen eines Josef Huber, fortzusetzen. Als C. Hartmann, Inhaber
eines Maschinengeschäftes und Generalvertreter der Firma The Elec¬
tric Elevator Company in N.-York sammelte C. in Köln am Rhein
bis 27. September 1898 Bücher, Pianos, Schreibmaschinen, Motorfahr¬
räder, Bohrmaschinen, Herrnkoffer, Möbelstücke, Wirkwaren, Zieh¬
harmonikas und sonstige Musikwaren, er tritt noch im selben Monate
in Berlin als H. Dub, Inhaber eines Handschuh — und Cravattenlagers
auf; um die Lieferanten vollends zu betören und zur sicheren und
möglichst raschen Lieferung zu veranlassen, versah C. seine prunk¬
haften Briefbögen mit dem vielsagenden Vermerke: Telefon Nr. 367
und „Depositenconto bei der Berliner Bank“. Neben dem umfang¬
reichen Warenschvvindel betreibt C. von nun an den Kautions-
schwindel; es ist empörend, die Berichte der Opfer zu lesen, welche
dem Schwindler mitunter die letzten Ersparnisse überantwortet haben.
Mit unglaublicher Kühnheit läßt sich nun C. in Prag nieder, und be¬
treibt als Franz Werner, Abzahlungsgeschäft Berlin, Leipziger Straße 79
und Prag Sokolstraße 66“ einen ausgiebigen Warenschwindel. Zu
gleicher Zeit begeht er als „Franz Lange, Juwelier in Prag Wenzels¬
platz“ die abscheulichsten Kautionsschwindeleien, die Betrügereien
des C. sind während des Prager Aufenthaltes zu einer förmlichen
verbrecherischen Raserei ange'schwollen. Bei der Ausführung der Be¬
trügereien in Prag war dem C. sein am 22. August 1885 geborener,
somit damals dreizehnjähriger Halbbruder Josef behilflich, wir wer¬
den diesen Menschen im Jahre 1907 als Untersuchungshäftling in
Cottbus wieder finden.
G. reiste nach Weihnachten 1898 von Prag nach München ab,
woselbst er am 27. Dezember verhaftet agnosziert, und bis zum 26. Sep¬
tember 1903 an Verübung weiterer Betrügereien durch Freiheitsentziehung
gehindert wurde; wir wollen seine Erlebnisse in diesem Zeiträume
kurz überblicken.
Am S. Juli 1899 erfolgte bei dem Landgerichte in München
seine Verurteilung wegen Betrugs uud Urkundenfälschung zu sieben-
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180
X. Syokcik
jährigem Zuchthaus^ er wurde von hier nach Regensburg übergefübrt
und erhielt bei dem dortigen Landgerichte am 22. Juli 1899 wegen
gleichen Verbrechens ein Jahr Zuphthaus, von Regensburg brachte
man ihn nach Köln, woselbst dem C. fünf Jahre Zuchthaus bemessen
wurden. Über Berlin, wo er am 2. November desselben Jahres 3 Jahre
Zuchthaus bekam, führte man unseren Hochstapler nach Leipzig, in
welcher Stadt seine frühere Geschäftstätigkeit mit 3jährigem Zucht¬
hause bestraft wird. Am 6. Dezember 1899 langt der wahrlich wie
von Erinnyen gehetzte Mensch im Zuchthause zu Brieg an, sein Straf¬
antritt hat mit dem 20. November begonnen.' Es folgt noch die fort¬
gesetzte Verhandlung in Bautzen, welche am 29. Dezember 1899 mit
neuerlicher Verurteilung zu 3jäbrigem Zuchthaus endet. C. sitzt am
30. Dezember wieder im Brieger Zuchthause, von weiteren Verhand¬
lungen verschont, das Auslieferungsbegehren der österreichischen
Gerichte hatte bei der Strafbemessung der vorgenannten Gerichte
gute Wege.
Fragen wir nun nach der Art und dem Inhalte der Verantwor¬
tung C.’s bei den mehrfachen Einvernehmungen, so finden wir, daß
seine Rechtfertigung nicht die gleiche ist. Wenn er auch manchmal
die verschiedenen Betrugsfakten zugibt, so stellt er jedwede Schädi¬
gungsabsicht grundsätzlich in Abrede; wir werden in der Folge er¬
fahren, daß diese Angabe mit den verrückten Ideen des C. vollkom¬
men übereinstimmt. Oft versagte das Gehirn des Beschuldigten, er
sprach irre und dies veranlaßte manchen Justizbeamten zu der An¬
nahme, C. sei ein Simulant, doch wäre es ungerechtfertigt, daraus den
Justizorganen einen Vorwurf zu machen, weil die Handlungsweise
und das Verhalten C.’s zu einer solchen Annahme geradezu heraus¬
gefordert haben. Ich erwähne noch den für den Prozessualisten inter¬
essanten Beschluß des Landgerichtes in München, wornach die gegen
C. durch das Landgericht München, Regensburg und Berlin erkann¬
ten Einzelstrafen auf eine Gesamtstrafe von 15 Jahren Zuchthaus
zurückgeführt wurden, in welcher Gesamtstrafe die von den Land¬
gerichten Breslau und Leipzig ausgesprochenen Strafen nicht inbe¬
griffen sind. Die Strafzeit des Verurteilten sollte nach dem Gesagten
am 20. November 1914 enden, dieses Strafende verschiebt sich mit
Zusatz von 34 Tagen bis zum 24. Dezember 1914.
Ich habe bereits die bei der Hauptverhandlung in Bautzen auf¬
getauchten und objektiv festgestellten Zweifel an der Zurechnungs¬
fälligkeit des C. erwähnt; die Frage der Zurechnungsfähigkeit wurde
beim Landgerichte in München akut und vom Gerichtshöfe nach Zu¬
ziehung eines Sachverständigen dahin gelöst, daß C. für einen ge-
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Zwei geistesgestörte Verbrecher.
181
Jährlichen Simulanten erklärt wurde. Der Ausbruch aus der Zelle des
Bahnhofes in Dresden, ein wiederholter Fluchtversuch in München
(Durchsägen der Gitterstäbe), das Verhalten des C. bei der Hauptver¬
handlung mußten notwendig den Verdacht der Simulation erwecken,
ganz abgesehen von dem in dem letztangefübrten Sinne abgegebenen
Gutachten des Gerichtsarztes. Das Verhalten des C. in München ver¬
dient unsere volle Aufmerksamkeit; C. erzählte selbst dem Münchener
Untersuchungsrichter, er sei in der amerikanischen Irrenanstalt
Buffalo New-York State Insane Asylum (!) untergebracht worden,
er sei erblich belastet, der Bruder der Großmutter mütterlicherseits
habe eine seit 20 Jahren irrsinnige Tochter, er selbst habe 1896 in
Wien einen Selbstmordversuch gemacht, indem er in den Donaukanal
sprang, indessen hatten die vom Münchener Untersuchungsrichter
angestellten Erhebungen ein negatives Ergebnis. Der Bruder des
C. (damals österreichischer Oberleutnant), berichtete dem Gerichte, er
wisse nichts von Geisteskrankheiten in der Verwandtschaft, er habe
seinen Bruder seit 1891 nicht gesehen; auch die übrigen Angaben
C.’8 fanden keine amtliche Bestätigung. Noch merkwürdiger war das
Verhalten des Beschuldigten in der Hauptverhandlung: er gab an,
er heiße nicht C., sondern stamme aus der Dynastie der chinesischen
Herrscher Ming, sein anscheinend apathisches Benehmen änderte er,
als sein Verteidiger neuerliche Beweisaufnahmen verlangte und die
Zuziehung zweier Irrenärzte in Antrag brachte, da klatschte er ver¬
gnügt in die Hände und erzählte ferner, er sei an einem Tage von
Prag nach Amerika mit Luftschiff gefahren, Explosionsmotor sei die
größte Erfindung, wenn das gemacht ist, werde er alles bezahlen, die
Fahrräder habe er bezogen, sein Vormund sei General ‘) und werde
alles bezahlen, Millionen stehen ihm zur Verfügung. Am 10. Juli 1899
(sonach zwei Tage nach der Hauptverhandlung), schloß ein Verneh¬
mungsrichter in München das Protokoll mit der Bemerkung, daß eine
eingehende Vernehmung des C. schlechterdings unmöglich sei, der¬
selbe zittere und verweigere jede Auskunft.
Als der Sträfling C. im Zuchtbause zu Brieg über gerichtliches
Ersuchen in Angelegenheit der ihm beschlagnahmten Sachen gehört
werden sollte, erklärte der Gefängnisarzt zu Breslau, C. sei so krank,
daß eine Vernehmung ausgeschlossen ist (4. November 1902). Wie 0.
sein Vorgehen selbst auffaßt, zeigt ein Brief vom 27. Oktober 1901
an die Oberstaatsanwaltschaft in Berlin, in welchem er in lang-
1) Tatsächlich war ein Oberst zum Vormunde der Kinder bestellt, welcher
sieh als Oberleutnant in hochherziger Weise der Kinder des Büchsenmachers an¬
genommen hatte.
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X. SVORC'IK
atmiger Weise darzutun sucht, er habe lediglich etwa 25000 Mark
„Kreditschulden“ kontrahiert. Das sei alles, was man ihm vorwerfen
könne, er sei aber berechtigt gewesen, soviel Geld aufzunehmen, da
seine „ungeheuren“ Erfindungen den genannten Betrag an Wert um
das Vielfache übersteigen. — Die Idee dieser Erfindungen bildet den
Kern seiner Verrücktheit.
Am 25. November 1902 erklärte Prof. Bonhoeffer in Breslau den
C. für einen originären Paranoiker, worauf dieser aus dem preußischen
Staatsgebiete ausgewiesen und am 30. Juli 1903 in Mittweida von
2 Transporteuren der Landesirrenanstalt Prag übernommen wurde.
Von dort ist C. am 26. September 1903 entwichen. Mir fehlen die
näheren Daten über die Flucht aus der Prager Irrenanstalt, es ist
mit Sicherheit anzunehmen, daß C. für die erste Zeit bei Bekannten
Unterkunft fand. Nach einer Notiz des Neuen Wiener Journal soll
C. in Gesellschaft eines Porzellanmalers entwichen sein, sie blieben
auf dem Gange zum Abendbrode zurück, kletterten über die Anstalts¬
mauer ins Freie und ließen in ihren Eßschalen Zettel mit folgendem
Inhalt zurück: „Ich überlasse mein insektenfreies Bett meinem Nach¬
bar, damit er nicht auf dem Boden schlafen muß“ und „dem Herrn
Professor danke schön für die Wasserkur ich habe mich entschlossen
fürderhin Bier zu trinken“. (Eine amtliche Bestätigung dieser Um¬
stände liegt mir nicht vor, weshalb ich für die Richtigkeit dieser
Fluchtschilderung keine Verantwortung übernehme).
C. war kurz darauf in Wien, welcher Umstand daraus hervor¬
geht, daß ein Oberaufseher der Breslauer Anstalt von ihm eine am
20. Oktober 1903 in Wien aufgegebene Ansichtskarte erhielt, die
Karte ist mit Edi Edison, Fürst von Palmyra unterschrieben.
Die Fortsetzung der kriminellen Tätigkeit des C. konnte ich
aktenmäßig erst für den 1. November 1903 feststellen, an welchem
Tage er in Halle a. S. als Ingenieur A. Holub, Lager und Lieferung
moderner Spezialartikel der Elektrotechnik auftrat. Die Waren¬
schwindeleien wurden nach dem alten Muster inszeniert und C. ver¬
ließ am 18. November 1903 Halle um einen ähnlichen Betrug aus-
zufübren, wie wir ihn schon anläßlich seines Zittau-Reichenberger
Aufenthaltes kennen gelernt haben. Als Ingenieur Ferdinand Pohl,
Generalvertreter der Sun Electric Company in London etablierte er
sich in Bodenbach, als Spediteur Josef Reismann verübte er in
Dresden eine Reihe von Bestellungsschwindeleien. In der zweiten Hälfte
des Monats November 1903 errichtete C.* in Bremen zwei Nieder¬
lassungen, die eine unter dem Namen C. Behrens, Export, Import
Ilopfenstraße, die andere unter dem Namen R. Rosenauer, am Breiten
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Zwei geistesgestörte Verbrecher.
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Weg. Seinen uns genau bekannten Trick kompliziert C., um die Lie¬
feranten vollends zu täuschen dabin, daß er in den unter dem Namen
Behrens hinausgehenden Bestellungen die Dienste des Spediteurs
Rosenauer empfiehlt; die Lieferanten befolgten gerne die Empfeh¬
lungen des Auftraggebers, und der Spediteur Rosenauer beeilte sich die
eingegangene Ware dem Herrn Behrens sobald als möglich zu
bringen. Die große Geschäftskarte des Rosenauer, welche Behrens
seinen Bestellungen beizuschließen pflegte, lautet: „R. Rosenauer, Spe¬
diteur Bremen, Fernsprecher Nr. 3537 A. B. C. Code used. Über¬
nahme von Speditionen und Kommissionen, Verfrachten jeder Art.
Verzollung und Einlagerung. Tropensichere Verpackung. Incasso.
Vertretung in allen Hauptstädten.“
Die Bremer Kriminalpolizei verhaftete am 19. Januar 1904
Behrens-Rosenauer, der Bremer Untersuchungsrichter batte sofort
den Eindruck, daß C., dessen Identität bald festgestellt wurde, geistig
nicht normal sei. Über Äußerung des Gerichtsarztes, C. biete Zeichen
einer Geisteskrankheit, wurde C. am 21. Januar 1904 in die Irren¬
anstalt Skt. Jürgen-Asyl gebracht, aus welcher er am 28. Mai 1904
entwichen ist.
Bereits Anfang Juli arbeitete C. als R. Rosenauer in Branden¬
burg. Mitte Juli eröffnete er unter der Firma Rudolf Wilhelm Neu¬
mann in Berlin, Generalvertreter der Elektromobile Co. New-York
U S A. ein Geschäft und beging eine Reihe Waren- und Kautions¬
schwindeleien, deren Umfang am besten der Umstand beweist, daß C.
in einigen Tagen des Berliner Aufenthaltes die Geschäftswelt um
48000 M. geschädigt hat. Über Stettin, wo er als Ingenieur Viktor
Sitta oder Karl von Sitta sein Unwesen trieb (August 1904), ging er
nach Görlitz, um nach kurzem Aufenthalte in Küstrin, in Berlin ein¬
zutreffen. Dort wurde seiner Tätigkeit durch die am 5. August 1905
erfolgte Verhaftung vorläufig das Ziel gesetzt. In dem unter dem
Namen E. Waldhausen verhafteten Manne wurde bald der jetzt zu
einer traurigen Berühmtheit gelangte C. festgestellt, bei den gericht¬
lichen Verhören trat nun seine Verrücktheit immer deutlicher zu Tage,
er nannte sich Edison und machte jedes ordentliche Verhör unmög¬
lich. Auf Grund des Gutachtens des Gefangenhausarztes zu Alt-
Moabit wurde C. am 16. November 1905 in die Irrenanstalt Herz¬
berge gebracht, aus welcher er von seinem Bruder Josef C. genannt S.
am 4. Januar 1907 abgeholt wurde, angeblich, um in einer Privat¬
heilanstalt in der Nähe Prags untergebracht zu werden; am 5. Januar
ist C. in Prag seinen Begleitern entsprungen, offenbar nicht ohne
Unterstützung seines Halbbruders, gegen welchen bei dem Prager
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X. SVOBCIK
Landesgerichte wegen Verbrechens der Vorschubleistung das Straf¬
verfahren noch anhängig ist. Beide Brüder wurden im März 1907 in
Cottbus verhaftet, C. hat zuvor in Lübeck und Magdeburg seine
alten Warenschwindeleien fortgesetzt. Bei der Verhaftung in Cottbus
wußte C. („Ingenieur Clesca“) seine Verantwortung derart glaubhaft
vorzubringen, daß er aus der Haft entlassen wurde, bevor sein wirk¬
licher Name sichergestellt werden konnte. Seinen Halbbruder wollte
C. gar nicht kennen. Er wurde am 18. April 1. J. in Wien verhaftet,
als er im Begriffe war einen Poste-restante-Brief am Postschalter
abzuholen, vor der Verhaftung bat C. unter dem Namen eines Inge¬
nieurs Steinhäuser in Linz etliche Schwindeleien ausgeführt. Zur Führung
der Voruntersuchung war nun das Kreisgericht in Reichenberg zu¬
ständig, die vorhandenen Gutachten machten eine neuerliche Unter¬
suchung seines Geisteszustandes überflüssig und so verfügte der Ver¬
fasser dieser Studie die Überführung des unsteten Wanderers in die
Landesirrenanstalt in Prag,, wo C., wie wir wissen schon einmal zu¬
vor untergebracht war und welche ihn seit dem 21. Juni 1907 wie¬
der beherbergt. l )
Die verbrecherische Tätigkeit des C. hat voraussichtlich nunmehr
ein Ende erfahren, der von ihm angerichtete Schaden beträgt einige
100 000 Mark und es scheint mir die Äußerung des „Wiener Neuesten
Journals“, C. sei einer der gefährlichsten internationalen Hochstapler,
die die Kriminalgeschicbte kennt keineswegs übertrieben. Die Korre¬
spondenz des C. insbesondere der Inhalt des an ihn aus Paris im
April d. J. abgesendeten Briefes gestattet einen tiefen Blick in die
moralische Verkommenheit des C.; wir haben bereits wahrgenommen,
daß C. gleich den übrigen Berufsgenossen mit Vorliebe den Verkehr
mit Prostituierten sucht und mit ihnen Liebschaften anknüpft, die
praktische Seite eines solchen Verkehres für sein Geschäft auszu¬
nützen nicht vergessend. Dieses kriminalistisch interessante Thema
kann hier ausführlich nicht behandelt werden, ganz entschieden ver¬
dient das Verhältnis der Hochstapler zu Prostituierten die Aufmerk¬
samkeit des Kriminalisten. Ich habe in einigen Fällen feststellen
können, daß die Hochstapler zum Unterschiede von anderen Ver¬
brechern (z. B. Dieben die zugleich Zuhälter sind) ihre vorübergeben¬
den Zuhälterinnen recht gut behandeln, mit ihnen Liebesbriefe
wechseln, welch’ letzterer Umstand nicht selten zur Feststellung des
1) Nachtrag bei der Ivorrktur: C. ist laut einer mir zu gekommenen
Benachrichtigung am 17. September 1907 aus dieser Anstalt neuer¬
dings entsprungen und so viel nur bekannt ist, bisher nicht fest¬
genommen worden.
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Zwei geistesgestörte Verbrecher.
185
Aufenthaltes und Festnehmung des Verbrechers geführt hat. Ich will
hier den Standpunkt der Betrogenen nicht unerwähnt lassen, welche
sich mit der Geisteskrankheit des C. nicht befreunden konnten, sie
gleichen in dieser Beziehung vielen Justizorganen, welche in ähn¬
lichen Fällen gleich Simulation wittern, von dem Wesen derselben
leider zumeist recht lückenhaft unterrichtet. Ein Beschädigter äußert
sich in einer Eingabe an eine der vielen Staatsanwaltschaften, die
sich mit C. befaßt haben, „er begreife nicht und es sei ihm fast un¬
glaublich, daß eine geisteskranke Person derartige korrekte kauf¬
männische Briefe schreibt.aus dem Briefe vom.sei im
Gegenteile ersichtlich, daß C. eine ganz vernünftige und listige
Person ist“.
Zu erwähnen wäre noch der Umstand, daß viele gesellschaftlich
hochstehende Persönlichkeiten mit dem Kautionsschwindler C. brief¬
lich verkehrten und sich mit ihm einließen, aus naheliegenden Grün¬
den kann ich auf genauere Besprechung und Anführung der einzelnen
Fälle nicht eingehen.
II.
Der zweite Abschnitt der vorliegenden Studie ist der gerichts¬
ärztlichen Begutachtung des Geisteszustandes des C. gewidmet. Dem-
Leser ist bekannt, daß C. ursprünglich sowohl von Laien als auch
Sachverständigen für einen Simulanten gehalten wurde; es ist leicht
möglich, daß Leute, die sich mit psychologischem und psychiatrischem
Studium nie befaßt haben, ihn heute noch für einen schlauen, in das
Zuchthaus gehörigen Simulanten erachten werden. Es ist leider Tat¬
sache, daß mancher praktische Jurist dem Psychiater nur Mißtrauen
entgegenbringt, die Fortschritte der Psychiatrie mißachtet und sie
direkt zu bekämpfen sucht, indem er nach seiner Überzeugung ihren
Einfluß auf die Strafrechtspflege als direkt gefährlich und Unheil
bringend ansieht. Es sind demnach die scharfen Worte Krafft-Ebings,
mit welchen er das Mißtrauen des Sachverständigen den Justiz¬
organen gegenüber begründet,. mitunter gerechtfertigt und es ist
richtig, daß gerade die Stellung des Psychiaters im Gerichtssaale
nichts weniger als beneidenswert ist. Es würde zu weit führen, wollte
ich mich an dieser Stelle darüber ausbreiten; das eine steht nach
meiner Überzeugung fest, daß solange der die „Zurechnungsfähig¬
keit“ behandelnde Teil der Strafgesetzbücher nur von Juristen ohne
Mitarbeiterschaft der Psychiater fertiggestellt wird, an keine Besserung
zu denken ist. Es ist sicher, daß dem Arzte die ihm in der Straf¬
rechtspflege gebührende Stellung mit der Zeit eingeräumt werden
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186
V
X. SVORCIK
wird, es genügt hier der Hinweis auf die von manchen Seiten
energisch verlangte obligatorische Beiziehung des Psychiaters in
Fällen der strafbaren Handlungen greisenhafter Personen, ferner der
Rauschdelikte u. s. w.
Das erste ärztliche Gutachten, welches sich mit dem Geisteszu¬
stände C. befaßte, ist das des Universitätsprofessors Dr. M., abgege¬
ben in der Hauptverhandlung am 8. Juli 1899. Ein schriftlich über¬
reichtes Gutachten stand mir nicht zur Verfügung, ich kann nur
einen Auszug aus der in der Hauptverhandlung vorgebrachten münd¬
lichen Äußerung des Prof. M. auf Grund des Berichtes der Mün¬
chener Neuesten Nachrichten vom 10. Juli 1899 wiedergeben. Darin
hieß es: „Sachverständiger Universitätsprofessor Dr. M. erblickt in
dem C. einen nicht gewöhnlichen Menschen, der ohne Zweifel eine
nicht alltägliche Bildung als Kaufmann und Elektrotechniker genos¬
sen habe; davon zeuge auch die Tatsache, daß er, wie durch die
Verteidigung wenigstens glaubhaft nachgewiesen worden, eine nicht
unbedeutende Erfindung betreffend die Verbesserung der elektrischen
Glühlampe gemacht habe, die sogar patentiert wurde. Bei diesem
Sachverhalte nehme es einen Wunder, wenn die Verteidigung bean¬
trage, man solle nachforschen, ob nicht in der Familie des Ange¬
klagten Schwachsinn herrsche. Wer gesehen, welche Eisenstäbe C. in
der Angerfrohnveste. durchgesägt habe, der müsse ihn für einen
höchst gefährlichen Menschen halten. Das blödsinnige Verhalten, das
er an den Tag legt und das ihn nicht einmal Gegenstände des ge¬
wöhnlichen Lebens z. B. ein vorgehaltenes Messer erkennen lassen
wollte, vertrage sich nicht mit dem Größenwahne, demzufolge er sich
für ein Mitglied der chinesischen Dynastie und für den größten Er¬
finder der Welt halte. Als er nach dem Ausbruchsversuche aus der
Angerfrohnveste hier diszipliniert werden sollte, sei er plötzlich ganz
vernünftig geworden, habe, um die Strafe von sich abzuwenden, sich
krank gemeldet und einen Arzt verlangt. Nach der Ansicht des
Sachverständigen sei C. ein äußerst gefährlicher Simulant. Jemand,
der. wirklich an Größenwahn leide, halte sich auch für das, wofür
er sich ausgebe, er verlange ebensowenig wie der Schwachsinnige selbst
darnach, wie es C. getan hat, in eine Irrenanstalt gebracht zu werden.
Das oben angeführte Urteil des Landgerichtes München stützt
sich auf dieses Gutachten und stellt fest, daß die über die hereditäre
Belastung des C. vom Untersuchungsrichter angestellten Erhebungen
negativ ausfielen ( kriminalpsychologisch ist von Interesse, daß sämt¬
liche Zeugen den C. für einen sehr intelligenten, geistig vollkommen
gesunden Menschen erklärten, woraus im Urteile der Schluß gezogen
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Zwei geistesgestörte Verbrecher.
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wird, daß das Gebaren des C. in der Hauptverhandlung eine aufge¬
legte Verstellung sei).
Wie wir wissen, wurde C. am 4. März 1902 der Irrenabteilung
des k. Strafgefängnisses in Breslau eingeliefert. Ich entnehme der
Krankengeschichte, daß der Kopfumfang des C. 57 cm, die Kopf¬
länge 175 mm, und die Kopf breite 155 mm gemessen hat, das Ge¬
wicht betrug zur Zeit der Einlieferung 56,5 kg, überstieg diese Zahl
nie, sank im Gegenteile im Monate August und September 1902 auf
53 kg. Der ärztliche Bericht des Prof. Dr. B. dto Breslau 25. No¬
vember 1902 lautet: Der Zuchtshausgefangene Eduard C. befindet
sich seit März d. J. in der Irrenabteilung zur Beobachtung. C. ist im
Jahre 1874 geboren. In seiner Verwandtschaft sollen Geisteskrank¬
heiten und Selbstmorde vorgekommen sein. Über seine spätere Tätig¬
keit sind seine eigenen Angaben sehr widerspruchsvoll. Er behaup¬
tet als Elektrotechniker in Italien, Amerika, Österreich, Deutschland
tätig gewesen zu sein. Einmal will er durch einen Schlag von einer
Dynamomaschine 12 Stunden lang bewußtlos gewesen sein. Im
Alter von 20 Jahren machte er betrügerischen Bankerott und erhielt
ein Jahr schweren Kerker. Im Jahre 1898 wurde er in mehreren
Fällen wegen zahlreicher raffinierter Betrugsfälle, Unterschlagungen
zu einer Gesamtstrafe von 20 Jahren Zuchthaus verurteilt. Aus dem
Verhandlungsprotokolle einer Strafsache in München im Jahre 1896
ist zu erwähnen, daß C. in der Verhandlung von Millionen sprach,
über die er verfügen könne, von Luftschiffen, mit denen er von
Prag nach New-York gefahren sei. Er ist der größte Erfinder und
werde die Summen, um welche er die Leute geschädigt habe, be¬
zahlen. Von dem zugezogenem Sachverständigen wurde er für einen
Simulanten erklärt. Bei seiner Einlieferung ins Zuchthaus zu Brieg
machte C. einen nervösen, und überspannten Eindruck. Es entstan¬
den bald Bedenken, ob es sich nicht um einen Geisteskranken han¬
delte. In seinen Briefen sprach C. dauernd von seinen Erfindungen.
Im Dezember 19.01 versuchte C. gelegentlich eines Lazarettaufent¬
haltes einen Ausbruch mittelst Durchsägens der Gitter, wie es ihm
früher mehrfach gelungen war. Er wurde überrascht, und seit dieser
Zeit übt C. hartnäckig die Rolle des unterdrückten, zum Zweck der
Ausbeutung hier ungerecht festgehaltenen Erfinders (ärztlicher Befund
der Strafanstalt). Seine Aufnahme in die Irrenabteilung wegen Ver¬
dachtes der Geistesstörung erfolgte am 4. März 1902. Körperlich er¬
gab sich an den vegetativen Organen kein abnormer Befund. Die
Gesichtsbildung ist a^symetrisch, Zahn- und Ohrbildung sind abnorm.
Es bestehen sehr starke Supraorbitalbögen, starke Querfaltung der
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188
X. SVORCIK
Stirn. Die Reflexerregbarkeit ist erhöht. Gesteigerte direkte Muskel¬
erregbarkeit. Zeitweise sehr frequenter Puls. Schwanken bei ge¬
schlossenen Augen. Zittern der Lider beim Augenschluß. Die Pu¬
pillen reagieren in allen Qualitäten gut aber die linke ist weiter als
die rechte. Der Ausdruck des C. ist leidend und das Gesicht abge¬
magert. C. befindet sich fast dauernd in ziemlich starkem Affekt und
hat lebhaften Entlassungsdrang. Im Mittelpunkt seines Denkens stehen
Erfindungen, die er gemacht haben will. Er hat sich selbstlenkende
Torpedos, elektrische Heilmittel für Tuberkulose, neue Kabelverbin¬
dungen ohne Unterseeleitung erfunden. Er hat ein Projekt der Trocken¬
legung des mittelländischen Meeres u. s. w. Viele Millionen glaubt
er auf diese Weise verdienen zu können. Um ihn davon abzuhalten,
hat ihn der Staat auf 20 Jahre eingesperrt, damit der Fiskus von
seinen Ideen den Gewinn habe. Er erzählt einen konfabulierten
Roman über seine Herkunft, wird wütend, wenn man ihn C. nennt,
er heiße Edison. An diesen originären Wahnideen hält er fest Die
objektive Prüfung seines Gedächtnisses und seiner Kenntnisse deckt
grobe Lücken auf. Trotzdem er chemisch durchaus ausgebildet sein
will, ist ihm die chemische Formel für Wasser nicht bekannt und
ähnlich liegt es auf den anderen Gebieten. Dieses Verhalten ist sich
bis heute gleich geblieben. Das allgemeine Befinden ist ziemlich
schlecht. Im Zusammensein mit anderen Kranken wird er leicht er¬
regt und gerät in Konflikte. Er selbst wünscht sich Isolierung.
Eine Besserung ist bis jetzt nicht eingetreten und ist auch in abseh¬
barer Zeit nicht zu gewärtigen. Es handelt sich um eine auf der
Basis des angeborenen Defektes erwachsene chronische Geisteskrank¬
heit, vom Charakter der originären Paranoia.“ Prof. B. beantragte
zum Schlüsse des Gutachtens die Überführung des C. in eine Irren¬
anstalt.
Der Akt des Strafgefängnisses Breslau zeigt eine überaus ge¬
wissenhafte Beobachtung, ganz abgesehen von dem hohen humani¬
tären Standpunkte, auf welchem die Direktion dieser Anstalt steht
Wir finden in der Krankengeschichte genaue, fast tagtäglich erfolgte
Aufzeichnungen, es finden sich im Akte zahlreiche Briefe, Skizzen
und Entwürfe des Kranken, welche zum größten Teile seine Erfin¬
dungen zum Gegenstände haben. In einem der Briefe beschwört C.
seinen Bruder Franz zum Kaiser zu gehen, „damit er endlich sein
Recht und seine Ehre wiederbekomme, da er schon Jahre unschuldig
leide und der Ruhm und die Gloria der deutschen Nation es nicht
zulässen“. In anderen Briefen und Aufzeichnungen finden wir die
philosophische Weltanschauung des C. Er verspricht auf seiner
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Zwei geistesgestörte Verbrecher.
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Ozeaninsel Palmyra ein Missionswaisenbaus für 20000 Kinder und
Chinesen, Neger und Indier zu bauen, worin seine Seelenwande¬
rungslehre gelehrt wird,“ welche allein auf Wahrheit beruht nach dem
ewigen Gesetze vom Kreislauf des Stoffes und Geistes.“ „Denn die
Seele“ heißt es an einer anderen Stelle, „kann nicht im Himmel oder
Hölle faulenzen, das geht nicht. Alles ist Kreislauf und Genie bleibt
Genie, jedesmal. Napoleon war vielleicht auch Caesar, und Wallen¬
stein auch Alexander.“ Wir stießen ferner auf die bereits in München
angebrachten Ideen von dem chinesischen Ursprünge C.’s., diese Idee
steht im innigsten Zusammenhänge mit seiner Seelenwanderungslehre;
C. sagt uns, „er habe seit Jahren Vorliebe für das chinesische Volk,
habe in München darüber eine große Rede gehalten, und es sei kein
Zweifel, daß er einst nach dem Seelenwanderungsgesetze in China
nach seinem Tode wiedererscheinen wird und vielleicht dort früher
in einer Dynastie existierte.“ Daß C. Zeitungsleser war und über
bedeutende Ereignisse gut orientiert war, beweist ein Schreiben, wel¬
ches er genau nach dem Muster des französischen Romancier Zola
verfaßte; genau, wie dieser Schriftsteller mit einem wuchtigen
„J’accuse!“ einsetzt, ähnlich schleudert C. seinen Richtern die hoch¬
trabende Anklage ins Gesicht, indem er also anhebt: „Ich klage die
Richter, welche mich verurteilt haben an wegen Justizmord begangen
an mir. „Ich klage das Reichsmarineamt an wegen Betrug
um meine 5 Millionen, welche ich für diese neuen Erfindungen zu
bekommen habe: 1) elektrisches Compaß für Selbststeuerung, 2) selbst¬
steuerndes elektrisches Torpedo, 3) kanonenloses neues Kriegsfahrzeug,
welches das größte Schiff vernichten kann und selbst unbesiegbar
ist.“ Das verrückte „J’accuse“ des C. endet mit dem emphatischen
Ausrufe: „Ich fürchte den Tod nicht Schleppt micbgpeder und
wieder und wieder vor euer Justizmordgericht. Wie du mir, so ich dir!
Ich schreibe nichts mehr ich verlange den Gerichtsschreiber. Edison.“
Die Diagnose des Prof. Dr. P. lautete gleichfalls auf Paranoia.
Der Krankengeschichte ist zu entnehmen, daß sich das Verhalten
und die Angaben des C. im Examen mit dem früher Gesagten
decken. Neu ist die Feststellung von Gehörshalluzinationen: C. be¬
hauptet, daß ihm der Erfinder des kugelsicheren Panzers, Schneider¬
meister Dove zuflüstere, C. müsse jetzt nach Spandau kommen, wo¬
selbst sich Dove nach Annahme C.’s über Auftrag des Kriegsmini¬
steriums lebenslänglich eingesperrt befinde.
In dem Akte der Bremer Irrenanstalt finden wir die gleiche
Diagnose: Paranoia. Das Gutachten des Dr. D. und seines Assisten¬
ten Dr. S. hat nachstehenden Wortlaut: C. ist von schwächlichem
Archiv für Kriminalanthropologie. 29. Bd. 13
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X. SvORCIK
Körperbau. Im Gesicht, das einen ängstlichen Ausdruck zeigt, fallen
die zahlreichen tiefen Furchen der Stirne auf. Die Hände zittern fast
beständig, es bestehen sonst keine bemerkenswerten krankhaften kör*
perlichen Symptome. Sein Geisteszustand, wie er sich nach den Be¬
obachtungen in der Anstalt zur Zeit darstellt, ist in erster Linie
charakterisiert durch das Vorhandensein fixierter Wahnideen, die sein
Denken und Handeln hemmen und in einseitiger Weise beeinflussen.
Er bildet sich ein, daß er eine Reihe großer Erfindungen gemacht
habe, die andere zum Teile ausgenützt und ihn dadurch um Millionen
betrogen haben, ferner, daß das Marineministerium in Berlin ihn auf
Schritt und Tritt verfolge, weil es fürchte, daß er seine Erfindungen
an andere Länder verkaufen könne, endlich, daß er der Sohn Edisons
sei. Diese Ideen sind bei C. so fixiert, daß er für einen Einwurf
oder eine Belehrung völlig unzugänglich ist, vielmehr in jedem, der
dies versucht, einen Feind wittert. Dokumentiert sich schon hierin
eine erhebliche Schwäche auf intellektuellem Gebiete, so tritt sie noch
deutlicher hervor, wenn man die schwachsinnigen Schlüsse berück¬
sichtigt, auf denen sich seine Projekte aufbauen, durch die er eine
Erfindung an die andere reiht. Andererseits muß zugegeben werden,
daß manche seiner Projekte einer gewissen, richtigen Grundidee
nicht entbehren, und erst durch die umkleidenden falschen Voraus¬
setzungen und Folgerungen als wahre Hirngespinste erscheinen,
gegenüber, seiner Idee, ein hervorragendes Genie zu sein und mehr
wissen und leisten zu können als andere ergibt die objektive Beob¬
achtung, daß er nur über einen ziemlich unbedeutenden Schatz posi¬
tiven Wissens verfügt und daß seine Bildung nicht höher, als etwa
seinem Stande als gewöhnlicher Elektrotechniker entsprechend ist.
Sein Urteilsvermögen erscheint auch außerhalb des Gebietes seiner
Wahnideen* recht beschränkt. Sein Auffassungsvermögen ist noch
ziemlich gut. Die Prüfung des Gedächtnisses wird ein wenig er¬
schwert durch die bei C. augenscheinlich bestehende Neigung, seine
früheren Handlungen zu verschleiern, doch scheint das Gedächtnis
nicht unerheblich geschwächt zu sein. C. war während der Beob¬
achtungszeit in der hiesigen Anstalt von großer Reizbarkeit, ein ge¬
ringfügiger äußerer Anlaß brachte ihn aus seinem ruhigen Gleichge¬
wicht. Die Stimmung war anhaltend deprimiert. Streng mied er
jeden Verkehr mit anderen Patienten und war ängstlich in seinem
Benehmen gegenüber der Umgebung, er wünschte immer, allein zu
sein. Was nun die Diagnose des bei C. vorliegenden Geisteszustandes
betrifft, so dachten wir bevor wir Kenntnis von seiner Vorgeschichte
hatten, zunächst an die Möglichkeit einer Simulation und haben da-
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Zwei geistesgestörte Verbrecher.
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raufhin C. scharf beobachtet. Für Simulation sprach einmal bis zu
einem gewissen Grade sein Verhalten außerhalb der Anstalt und die
Art der ihm zur Last gelegten Verbrechen, dann insbesondere sein
affektvolles Benehmen nach seiner Aufnahme in der Anstalt in Ver¬
bindung mit der großen Fülle der verschiedenen Wahnideen, die er
in den ersten Tagen produzierte, und die, wenigstens für eine be¬
ginnende Geisteskrankheit — und eine solche schien nach der Lage
der Verhältnisse zunächst in Frage zu kommen — etwas Ungewöhn¬
liches sind. Nach der weiteren Beobachtung in der Anstalt, nach¬
dem wir vor allem Kenntnis von der Vorgeschichte erhalten hatten,
sind wir in Übereinstimmung mit den Ansichten früherer Begutachter
zu der Überzeugung gekommen, daß C. an einer Geisteskrankheit
Paranoia leidet, die bei ihm schon längere Zeit besteht, sich in den
letzten Jahren etwas verschlimmert hat, daß er außerdem ein ge¬
borener Verbrecher ist, dessen verbrecherische Nei¬
gungen durch seine krankhaften Ideen vielleicht etwas
beeinflußt sind, die sich im übrigen unabhängig neben
einander auf der Grundlage einer erblich ein wenig be¬
lasteten Disposition entwickelt haben. Wann die Geistes¬
krankheit zum Ausbruche gekommen ist, läßt sich nicht genau ent¬
scheiden, doch scheint sie in den Jahren 1898 und 1899, als C. we¬
gen seiner mannigfachen Betrügereien von verschiedenen Gerichten
verurteilt wurde, in ihren ersten Stadien bestanden zu haben.
C. wurde damals für einen Simulanten gehalten, eine genaue Prü¬
fung seines Geisteszustandes indes ist unterblieben. Deutlicher sind
dann die krankhaften Symptome im Zuchthause zu Brieg hervorge¬
treten, und in Breslau und Prag hat 0. annähernd dasselbe Krank¬
heitsbild dargeboten, wie es jetzt vorliegt. Sehr beachtenswert ist,
daß C., wie bereits oben bemerkt, nach seiner Entweichung aus der
Prager Irrenanstalt Karten an den Oberaufseher der Breslauer Irren¬
anstalt geschrieben bat, auf denen er sich „Edison, Fürst von Pal¬
myra“ nennt und von Millionen redet, die er in der nächsten Zeit er¬
werben werde. Das krankhafte System seiner Wahnideen ist seit dem
Beginn der Erkrankung dasselbe geblieben, nur hat es sich in der
letzten Zeit langsam in typischer Weise weiter entwickelt und hat
sukzesive weitere Kreise seines Geistes ergriffen. Daß C. in seinem
Wahnsystem völlig unbeeinflußbar ist, ist ein weiteres charak¬
teristisches Symptom für die bei ihm vorliegende Geisteskrankheit.
Was für einen vorurteilsfreien Beobachter zunächst den Verdacht auf
Simulation im vorliegenden Falle erweckt, ist einmal die Art der be¬
gangenen Verbrechen, die einen erheblichen Grad intellektueller
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X. SvORClK
Fähigkeiten erheischen, ferner der Umstand, daß die Geisteskrank¬
heit außerhalb der Anstalt wenig sichtbar geworden ist und erst als
C. die Freiheit entzogen wurde, wieder offenkundiger hervorgetreten
ist Dazu ist zu bemerken, daß die bei C. vorliegende Form von
Geisteskrankheit gewöhnlich erst in späteren Jahren zu einer erheb¬
lichen geistigen Verblendung führt, daß Personen die dieser Krank¬
heit verfallen sind, auf manchen Gebieten noch viele Jahre geistige
Regsamkeit und Energie entfalten können. Ferner hat C. auch außer¬
halb der Irrenanstalt Symptome von Geisteskrankheit geboten, wie
aus den erwähnten, nach seiner Entweichung aus Prag geschriebenen
Karten hervorgeht, die zeigen, daß er nicht nur in der Anstalt und
unter Beobachtung an seinem Wahnsystera festhält und die einen
ziemlich sicheren Beweis gegen die Annahme einer Simulation dar¬
stellen, da es von vornherein unwahrscheinlich erscheint, daß ein
Verbrecher die Simulation noch nach Erlangung der Freiheit, deren
Erreichung doch in einem Falle, wie der vorliegende als der Zweck
der Simulation in letzter Linie angesehen werden muß, aufrecht er¬
hält, zumal er keine unmittelbaren Vorteile von einer fortgesetzten
Simulation in Aussicht hat, und sich im günstigsten Falle bei einer
späteren Ergreifung nur den Weg in die Irrenanstalt gegenüber dem
Zuchthause sichert. Die Annahme, daß bei C. dieser letztere Beweg¬
grund event. in Frage kommen könnte, scheint wenig stichhältig,
Im übrigen wissen wir von dem Leben C.’s außerhalb der Anstalt
wenig, er scheint, während er seine Schwindeleien betreibt, ziemlich
zurückgezogen gelebt zu haben und unruhig von einer Stadt zur an¬
deren geeilt zu sein. Das letztere Verhalten bringt er selbst mit
seinen Verfolgungsideen in Zusammenhang, und es ist in der Tat,
der Art seiner Wahnideen und seiner Geistesstörung durchaus ent¬
sprechend. Hierbei ist ferner zu bemerken, daß C. auch in der An¬
stalt spontan nicht von seinen Ideen redet, sondern erst, wenn man
sich in ein Gespräch mit ihm einläßt. Was den Umstand betrifft, daß
die Schwindeleien C.’s mit einer gewissen Umsicht und raffinierten
Schlauheit ins Werk gesetzt sind, so ist zu bemerken, daß C. früher
längere Zeit dieses Handwerk getrieben hat und eine gewisse Routine
darin erlangt haben wird, andererseits scheint es, daß C. einen Kom¬
plizen hatte und daß dieser vielleicht der geistige Urheber des
Schwindelgeschäftes ist. Gegen Simulation spricht auch, daß C. in
der Anstalt spontan seinen richtigen Namen nannte und über sein
Vorleben richtige Aufklärungen gab. Nach allem diesen halten wir
die Simulation für ausgeschlossen. Wir sind der Ansicht, daß die
Geisteskrankheit, an der C. jetzt leidet, auch zur Zeit der Begehung
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Zwei geistesgestörte Verbrecher.
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der ihm zur Last gelegten Straftaten bestanden hat. Wenn auch die
bei C. nach gewiesenen verbrecherischen Neigungen zur Zeit nicht
völlig abhängig von seinen Wahnideen erscheinen, indem offenbar
eine gewisse Absicht, seine früheren Taten etwas zu verschleiern, be¬
steht, und sein Gedächtnis wahrscheinlich nicht so geschwächt ist,
wie es nach seinen Aussagen zunächst zu sein scheint, so wird doch
sein Handeln und Wollen durch seine Wahnideen vielfach beeinflußt.
Es ist nicht unwahrscheinlich, daß seine Verfolgungsideen zum Teil
die Schuld an dem früheren Namenswechsel tragen. Auf Grund seiner
Ideen hat C. seine eigenen moralischen Anschauungen — er darf
Schulden machen, weil er Millionen geistiges Eigentum besitzt, er
darf anderen Leuten Geld vorenthalten, weil ihm dieses für seine
großen Erfindungen vorenthalten ist. C. ist aus diesem Grunde, abge¬
sehen von den begangenen Straftaten, ein gemeingefährlicher Mensch.
Seine Geisteskrankheit hat einen derartigen Grad erreicht, daß er
voraussichtlich nicht wieder gebessert werden wird und der dauern¬
den Internierung in einer Irrenanstalt bedarf. Wir fassen unser Gut¬
achten dahin zusammen, daß C. an einer Geisteskrankheit leidet und
daneben intensive verbrecherische Neigungen hat, die zum Teil mit
seiner Geisteskrankheit im Zusammenhänge stehen, daß er sich zur
Zeit der Begehung der strafbaren Handlungen in einem Zustand der
Geistesstörung befand, in dem seine freie Willensbestimmung im Sinne
des § 51 des St.-G.-B. ausgeschlossen war.“ Wir werden im letzten
Kapitel dieser Abhandlung Gelegenheit haben, die scharfe Beobach¬
tung der Gutachter in Bremen zu prüfen, ich kann schon hier verraten,
daß die Vermutungen der Bremer Psychiater rticksicbtlich der kriminellen
Veranlagung des C., eine glänzende Bestätigung finden werden.
Um Wiederholungen zu vermeiden, bringe ich aus dem Berichte
des Gefängnisarztes Dr. M. zu Berlin das Gutachten wörtlich, aus
der Vorgeschichte nur Einiges. Dr. M. sagt in seinem Berichte fol¬
gendes: „Es war schon erwähnt, daß C. gleich am 5. August bei
seiner Einlieferung im Untersuchungsgefängnis ein sehr auffälliges
Benehmen zeigte. Am 9. August fing er in seiner Zelle zu toben an,
zerbrach die Klosetbürste, warf die Waschschüssel und den Eßnapf
gegen die Zellentür und versuchte den Bankfuß abzubrechen. Er
mußte in den Keller verlegt werden. Tags darauf war C. schon wie¬
der ruhiger, er äußerte aber Halluzinations- und Verfolgungsideen,
und erst am 19. August konnte er als einigermaßen beruhigt auf eine
Parterre-Station verlegt werden. Bei meinen wiederholten Besuchen
war C.’s Benehmen fast immer das gleiche. Allen Fragen nach seinen
Straftaten wich er aus. Auf die Frage, warum er im Gefängnis sei,
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V
X. SVORCIK
sagte er: das Reichs-Marineamt habe ihn verhaften lassen, man wolle
ihm sein Geld für seine Erfindungen nicht geben, er habe keine Be¬
trügereien begangen, nur Schulden gemacht. Die Menschen seien ihm
von jeher nachgegangen, man habe von ihm gesprochen, man habe
ihn aus seinen Stellungen entlassen, ihn verfolgt, seine Patente aus¬
genützt. Man werde es mit ihm so machen, wie mit dem Schneider¬
meister Dove, der den bekannten Panzer erfunden habe und der jetzt
in Spandau gefangen gehalten werde. Im Jahre 1903 sei seine gute
Mutter durch die deutsche Regierung und zwar durch die Band eines
Geheimagenten ermordet worden. Er habe mehr Bücher gelesen als
Hundert andere Menschen, Gott habe ihm Talent und Genie gegeben,
er wolle ruhig sterben, seine Seele werde doch wieder geboren. Seine
Lieblingsidee ist, daß die deutsche Regierung ihm die Insel Palmyra
im Mittelmeer versprochen habe, da werde er wie ein Fürst regieren;
er werde das ganze Mittelmeer trocken legen, auf diese Weise Europa
vergrößern und Tausende reich und glücklich machen. Das Reichs¬
marineamt sei ihm jetzt 5 Millionen Mark schuldig. Er habe für das
Ministerium ein Torpedo erfunden, von dem der Schuß statt jetzt
1000 Mark nur 100 Mark koste. Um diese Erfindungen ganz aus¬
nützen zu können, wolle man ihn jetzt allmählich verschwinden
lassen. Früher habe man solche Leute einfach ermordet. Auf körper¬
lichem Gebiet zeigt C. einen ziemlich ungünstigen Ernährungszustand.
Der Gesichtsausdruck ist mißtrauisch und ängstlich. Die Augen
etwas verschwommen, die Pupillen liegen exzentrisch, reagieren aber
prompt. Im übrigen besteht ziemlich starkes Zittern, eine gewisse
Pulsbeschleunigung und Steigerung der Kniereflexe. Eine Prüfung
der intellektuellen Fähigkeiten ist unmöglich. Auf Rechenexempel
verweigert er die Antwort, ebenso auf Fragen nach Gegenständen
des allgemeinen Wissens; man hat aber dabei den Eindruck, daß die
Kenntnisse C.’s in der Tat ganz gering sind, und daß er zum Teile
den Fragen ausweichen will, weil er sie einfach nicht beantworten
kann. C. ißt sehr wenig, sein Schlaf ist im ganzen ziemlich
unruhig, er mußte wiederholt Schlafmittel bekommen. Im übrigen
wurde C. bei den Vorbesuchen wiederholt lebhaft erregt, ja einmal
direkt aggressiv. Wenn man seinen Wahnideen widersprach und nicht
ohne weiteres auf dieselben einging, so kannte seine Erregung keine
Grenzen, er schrie, tobte und war überhaupt nicht los zu werden.
Mit einem Redeschwall sondergleichen suchte er einen von der Rich¬
tigkeit seiner Ideen zu überzeugen und vor allem auch davon zu
überzeugen, daß er unschuldig verfolgt werde, ein unglückliches Genie,
ein Märtyrer sei, den man allmählich zu Grunde gehen lassen wolle.
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Zwei geistesgestörte Verbrecher.
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Gutachten. Das ganze Bild, das C. darbietet, ist zweifellos
dasjenige der Verrücktheit, die, wie Prof. B. bemerkt hat, vermutlich
auf dem Boden der Degeneration entstanden ist. Für diese Degenera¬
tion und für den aus ihr entsprungenen Schwachsinn spricht der er¬
hebliche Intelligenzdefekt, der bei C. zu erkennen ist, wenngleich er
alle Antworten auf Intelligenz-Prüfungsfragen hartnäckig verweigert.
Übrigens verweise ich bezüglich der Intelligenzdefekte noch auf den
Fragebogen der in der Irrenanstalt in Bremen mit C. aufgenommen
ist, und aus welchem gleichfalls der hochgradige Mangel an elemen¬
taren Kenntnissen, besonders Rechnen hervorgeht In gleicher Weise
wie Dr. D. hatte ich zunächst von C. den Eindruck des Simulanten.
Er drängt einem seine Wahnideen förmlich auf, als wolle er den
beobachtenden Arzt um jeden Preis überzeugen, daß er (C.) verrückt
sei. Nachdem ich indessen ihn längere Zeit beobachtet hatte, und
Kenntnis von allen den psychiatrischen Vorgängen bekam, mußte ich
zu der Überzeugnng kommen, daß es sich in der Tat um eine wirk¬
liche Verrücktheit handelt. Es ist ja auffällig, daß C. nicht ohne ge¬
wisse Raffiniertheit es verstanden hat, so enorme und umfangreiche
wie erfolgreiche Betrügereien zu verüben. Indessen verraten die
ganzen Betrügereien, die er von jeher verübt hat, doch eine gewisse
Eintönigkeit Und andererseits ist er, trotzdem ja das Motorgeschäft
die Grundlinien seiner Operation bildet, doch ziemlich wahllos in der
Wahl der Gegenstände, die er sich zu verschaffen sucht Ich halte
es nicht für ausgeschlossen, ja für ziemlich wahrscheinlich, daß C.
Freunde oder Hintermänner gehabt hat, die seine Verrücktheit er¬
kannten und dieselbe weidlich ausgenützt haben. Er selbst hat mir
hin und wieder verworrene Andeutungen von solchen Leuten ge¬
macht, ich konnte aber nichts Bestimmtes aus ihm herausbekommen.
Auffallend war mir, daß er den Namen Waldhausen, als ich ihn auf¬
forderte denselben zu schreiben, in ganz anderer Weise zu Papier
brachte, als er unter den Geschäftsbriefen zu sehen ist. Auf der an¬
deren Seite ist es dagegen wohl anzunehmen, daß C. in der Freiheit
eine erheblich bessere geistige Verfassung zur Schau getragen haben
wird, als im Gefängnis. Es ist ja auch wiederholt in den Beiakten
davon die Rede, daß in der Irrenanstalt sein ganzes Benehmen fast
von Anfang an ruhiger und gleichmütiger war und diese zeitweise
Besserung hat dann auch wohl die schon wiederholt erwähnten
Fluchtversuche möglich gemacht. Wenn B. wie D. die Geisteskrank¬
heit C.’s als Paranoia bezeichnen, so kann man sich dieser Bezeich¬
nung wohl anschließen, denn unter Paranoia ist ein Bild geistiger
Erkrankung zu verstehen, in dem Verfolgungs- und Größenideen
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X. Svorcik
gleichmäßig vereinigt sind. Der Verfolgungsideen ist schon genügend
gedacht worden, die Größenideen verraten sich in den Erfindungs¬
plänen und in der ganzen Märtyrerrolle, in der sich C. als ingeniöser
Erfinder gefällt. Das dabei seine Größenideen einen hochgradig
schwachsinnigen Charakter an sich tragen, braucht wohl kaum betont
zu werden. Dieser Wirrwarr von zum größten Teil törichten Erfindungs¬
ideen trägt den Stempel des Schwachsinnes an der Stirn. Es ist ohne
weiteres anzunehmen, daß C., wie in den Jahren 1902 und 1904
krank war, wie er jetzt geisteskrank ist, daß er so auch zur Zeit
der ihm jetzt zur Last gelegten Straftaten sich in einem Zustande
von krankhafter Störung der Geistestätigkeit befunden hat Zugleich
muß aber auf das Allerentschiedenste betont werden, daß C.’s Zustand
unheilbar ist, daß eine Besserung, geschweige eine Heilung nicht zu
erwarten steht; andererseits ist hervorzuheben, daß C-, wie schon die
Vorgutachter bemerkten, ein entschieden verbrecherisch veran¬
lagter Geisteskranker ist, und daß ihm aus diesem Grunde
eine erhebliche Gemeingefährlichkeit zukommt. Meines Erachtens
dürfte C. auf keinen Fall in den Besitz persönlicher Freiheit kommen,
er müßte dauernd in einer Irrenanstalt derart verwahrt werden, daß
die Möglichkeit einer Entweichung ausgeschlossen ist Gegenstand eines
Strafvollzuges kann C. natürlich in keinem Falle sein. Ich gebe daher
mein Gutachten dahin ab:
1) C. war bei der Begehung der ihm jetzt zur Last gelegten
Straftaten unzurechnungsfähig, § 51 St-G.
2) C. ist auch jetzt unzurechnungsfähig.
3) C. ist im höchsten Grade gefährlich geisteskrank.“
Soweit das Gutachten des Berliner Gerichtsarztes. Die Kranken¬
geschichte der Irrenanstalt Herzberge der Stadt Berlin in Lichtenberg,
in welcher C. am 16. September 1905 aufgenommen wurde, bezeich¬
net die Krankheit C.’s als einfache Seelenstörung; sein Verhalten
gleicht dem früheren: wir vernehmen die Geschichte von seinen Er¬
findungen, hören, daß er immer verrückter wird und erklärt, er sei
noch nicht bestraft, dies werde nur von seinen Feinden behauptet
Eine genaue Anamnese war nicht zu erhalten, es wurde starke Hypal-
gesie und Arteriosklerose festgestellt.
Der Geisteszustand des C. war nach dem Gesagten sehr genau
untersucht worden, eine neuerliche Begutachtung in Österreich war
überflüssig. Laut eines mir zugekommenen Berichtes der Direktion
der psychiatrischen Klinik in Prag, hat in dem Benehmen C.’s keine
Änderung stattgefunden.
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Zwei geistesgestörte Verbrecher.
197
III.
Man mag die Wechselbeziehungen zwischen der Kriminalität und
der Vererbung und die Existenz des geborenen Verbrechers an¬
zweifeln, gewiß ist es unrichtig, wenn die Anfechtung dieser wissen¬
schaftlichen Sätze leidenschaftlich, kritiklos und in apodiktischer,
dogmatischer Form geschieht. Es ist denn doch eine feststehende
Tatsache, daß die wissenschaftliche Forschung beider gegnerischen
Richtungen insoweit Klarheit schuf, als auf Grund hauptsächlich
naturwissenschaftlicher Prüfung der einschlägigen Fragen dargetan
wurde, daß der Begriff und die Existenz des geborenen Verbrechers
wissenschaftlich gerechtfertigt sind (wenngleich nicht im Sinne Lom-
brosos und seiner unbedingten Anhänger). Es ist diesen Forschungen
vorzüglich zu danken, daß das Gespenst der Staatsgefährlichkeit die¬
ser Lehren für immer für unbefangen denkende Leute verschwunden
ist; die ins Treffen geführte Losung vom drohenden Umsturz der
Rechtsordnung verlor angesichts der methodischen, gewissenhaften
Forschung der modernen Psychiatrie und Kriminalpsychologie ihre
Zugkraft: dies Alles blieb aus und es stellten sich positive Ergebnisse
der mühevollen Arbeit ein. Es ist hier nicht der Ort, um auf weitere,
genauere Behandlung dieser Dinge einzugehen, die nachfolgenden,
tatsächlichen Feststellungen mögen als ein kleiner Baustein zum
Gebäude der kriminalpsychologischen Forschung dienen.
Die Nachforschungen nach den Ascendenten des G. hatten fol¬
gendes Ergebnis:
Der Vater des C. wurde am 2. April 1839 in B. in Südböhmen
als Sohn eines Maurergebilfen geboren, er erlernte die Büchsen¬
macherei und stand zuletzt in K. in einem k. k. Landwehrinfanterie-
Bataillone in aktiver Dienstleistung. Ein noch lebender pensionierter
Landwehrhauptmann, desgleichen der damalige Waffenoffizier des
Bataillons (jetzt Oberst im Ruhestände F. von G., dem ich für Mit¬
teilung näherer Daten zu Dank verpflichtet bin, schildern ihn als
einen braven, ruhigen, ehrliebenden Menschen mit festem Charakter.
Mit dieser Wahrnehmung steht die Konduitenliste des Vorgesetzten
Kommandos in voller Übereinstimmung, er wird hier als ein
gutmütiger, bescheidener, ehrliebender Soldat geschildert, welcher
ziemlich begabt war, dessen Aufführung eine sehr anständige
war, dessen Eifer mit Erfolg begleitet wurde und der keinem
Fehler unterworfen war. (Diese Bemerkung bezieht sich offen¬
bar auf das Nichtvorhandensein der Trunksucht, der Spielsucht
u. dgl.). Er war sparsam und kam mit seinen Gebühren aus.
Dieser brave Mann starb am 26. Oktober l SSO an Lungen-
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198
X. SVORCIK
tuberkulöse. Die Mutter des Eduard C. stammte aus Südböhmen,
sie wurde am 30. August 1845 als Tochter eines Instmannes ge¬
boren. Ein 90jähriger Inwohner ihres Geburtsortes gab an, es sei
die ganze Familie „geistig nicht recht gewesen“, die Katharina S.
sei ein bißchen blöd gewesen. (In den Briefen, welche Eduard aus
der Breslauer Anstalt schrieb, findet sich manche Andeutung in die¬
sem Sinne). Nach dem Tode ihres Mannes übersiedelte die Witwe
nach D. (1886), von dorten nach Prag, woselbst sie am 4. Juli 1903
infolge eines Schlaganfalles starb, zuvor litt sie an Asthma. Als
Witwe brachte sie am 22. August 1885 in K. einen Sohn Namens
Josef zur Welt, welchen wir im ersten Kapitel als einen Gehilfen
seines Bruders in Prag bereits kennen gelernt haben. Sie fristete ihr
Dasein als Straßenverkäuferin von Radieschen und gebratenen Ka¬
stanien. Es scheint, daß die Witwe des ehrliebenden Soldaten
moralisch nicht besonders hoch stand, sonst hätte sie mit ihrer Pension
einen besseren Nebenerwerb gefunden und wäre der wegen Mit¬
schuld an den Betrügereien des Eduard über sie verhängten Unter¬
suchungshaft entgangen. Zur traurigen Tatsache ist es nun geworden,
daß alle drei Söhne dieser Muttej kriminell wurden; die kriminelle
Belastung dieser drei Personen ist nicht nur deshalb von Interesse,
weil drei Abkömmlinge derselben Mutter sozialgefährlich geworden
sind, sondern auch aus dem Grunde, weil das Angebinde dieser drei
Menschenkinder der Hang zur Begehung von Eigentumsdelikten bil¬
det (Betrug, schwerer Diebstahl und Unterschlagung).
Der älteste Sohn der Eheleute Franz und Katharina C. wurde
am 11. Oktober 1869 in Wien geboren, woselbst sein Vater damals
Büchsenmacher war, er besuchte mit Erfolg die Schulen und wurde
offenbar mit Rücksicht auf die tadellose Dienstleistung seines Vaters
und die Bemühungen des damaligen Oberleutnants von G. in eine
Kadettenanstalt aufgenommen, worauf er bis zum Hauptmann der
Infanterie avancierte. Die Beschreibung dieses Offiziers ist glänzend:
„sein gediegenes Wissen, seine reife Urteilskraft, sein hervorragender
Eifer, seine Ambition und Ausdauer lassen ihn als besonders verwendbar
erscheinen“. Wir werden an die ähnliche Beschreibung der Eigenschaften
seines verstorbenen Vaters erinnert, welche der Sohn überkommen
haben kann. Doch ließ die Unzulänglichkeit der Widerstandskraft
gegen Versuchungen diesen hochbegabten Offizier über Bord gleiten,
er wurde wegen Unterschlagung ärarischer Gelder (868 Kr. 20 h.)
vom Kriegsgerichte zu X. am 14. April 1907 zum Kerker in der
Dauer von einem Jahre und 8 Monaten verurteilt, wobei auf die
Entlassung aus der Offizierscharge erkannt wurde. Hauptmann C.
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Zwei geistesgestörte Verbrecher.
199
wurde im Laufe des Strafverfahrens auf seinen Geisteszustand unter¬
sucht, der körperliche Befund ergab Paniculus adiposus, Pityriasis
versicolor am Stamme, Venenektasien im Gesichte, leichten Pfeilnaht¬
kamm, aufgeworfene Orbitltalränder, große Abstände der Schneide¬
zähne, leichte Druckempfindlichkeit des rechten 5. Hirnnerves, Lid¬
tremor, Fingertremor, leichte Dermographie, Empfindlichkeit der
Nervenstämrae an den oberen Extremitäten, Steigerung der tiefen
Reflexe daselbst sowie des Kniesehnen- und Achillessehnenreflexes.
Eine hereditäre Belastung wurde nicht festgestellt, er selbst weiß
di esbezüglich keinen Bescheid, weil er keinen Verkehr mit der Fa¬
milie hatte; er hat keine schwere Krankheit überstanden, nur „zog
er sich in der Jugend ein Loch im Kopfe zu“, welches nach seiner
Ansicht ohne Bedeutung war. Alkoholmißbrauch und venerische
Krankheiten wurden negiert, nach dem Aussprache seiner Kameraden
war er anspruchslos, stets schweigsam, in sich gekehrt, über dienst¬
liche Angelegenheiten gefragt oft wie geistesabwesend — ein Zustand
von dem sich C. selbst dahin äußert „er habe manchesmal nicht ge¬
wußt, was er soeben gelesen und geschrieben habe und habe sich
manchesmal im Bette gefunden ohne zu wissen, wie er dahingekom¬
men sei“. Die Militärgerichtsärzte erklärten den Exploraten für einen
Neurastheniker, welcher geistesgestört nicht sei, die Zurechnungs¬
fähigkeit sei im Sinne des Militärstrafgesetzbuches nicht ausge¬
schlossen. Bemerkenswert ist der Schlußsatz des Gutachtens: „Doch
unterliegt es keinem Zweifel, daß das sich stets steigernde Leiden
schließlich eine solche Energielosigkeit und Willensschwäche bedingte,
das der Genannte (C.) der Verwicklung seiner Verhältnisse apathisch
gegenüberstand und nicht mehr die Kraft zum Handeln aufbrachte,
was immer neue Komplikationen und schließlich den Zusammenbruch
zur Folge hatte.
Der dritte Sohn der Katharina C. machte schon als schulpflich¬
tiger Knabe die Bekanntschaft mit den Kerkermauern, es genüge da¬
her der Hinweis auf das im ersten Kapital Gesagte; es ist angesichts
der Lebensweise der Mutter anzunehmen, daß seine Erziehung ver¬
nachlässigt wurde. Er wurde wegen Mitschuld an den Betrügereien
seines Bruders Eduard in Cottbus verhaftet und erhielt dort eine
längere Freiheitsstrafe, ich bin leider nicht in der Lage Näheres über
seinen Strafprozeß mitzuteilen, weil mir keine Akten des dortigen Land¬
gerichts zur Verfügung standen. Außerdem hat sich C. noch wegen
eines schweren Einbruchsdiebstahles und der Beihilfe zur Flucht
seines Bruders Eduard zu verantworten. So viel steht fest, daß
Josef S. als Portier in einigen Prager Hotels ein gutes Einkommen
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200
X. SvORCIK
hatte und Not kaum den Beweggrund seiner Taten darstellen dürfte.
Das Leben des Eduard C. wird jedenfalls in der Irrenanstalt seinen
Abschluß finden, die Prognose der zwei anderen Brüder gestaltet sich
nach dem Gesagten sehr düster; der jüngste scheint für die Gesell¬
schaft gänzlich verloren zu sein und dürfte ein sozialgefährliches
Mitglied bleiben. Daß die Strafe beim Hauptmann C. geeignet ist
seine ausgezeichneten Gemütseigenschaften eher zu vernichten als
eine Besserung herbeizuführen, ist für einem Unbefangenen sehr
wahrscheinlich — für die Berechtigung des Verlangens nach der be¬
dingten Verurteilung ist dieser Fall geradezu typisch. Die Vorwürfe
der „Humanitätsduselei“, welche den modernen Bestrebungen auf dem
Gebiete des Strafrechtes gemacht werden, leiden Not: gerade diese
Lehren, welche ich nur andeutungsweise streifen konnte, bieten der
menschlichen Gesellschaft mehr Schutz als die schönsten Ausfüh¬
rungen über die Vergeltung, Rache und dgl. Wem frommt die Ver¬
nichtung der etwa noch vorhandenen guten Geraütseigenschaften
eines Verurteilten? Wo bleibt der greifbare Erfolg der durchgeführten
Vergeltung? In vielen Fällen, wie der dargestellte gibt es bei un¬
nachsichtiger Durchführung der Vergeltungs- und Racbetheorien zwei
Geschädigte: das rechtskräftig verurteilte Individuum und die Ge¬
samtheit. Mögen die wichtigsten der verlangten Reformen in den zu¬
künftigen Strafgesetzgebungen gastliche Aufnahme finden, mögen die
mit der Strafrechtspflege betrauten Organe die bestehenden Gesetze
möglichst unter dem Gesichtswinkel des Fortschrittes behandeln und
als das höchste Gesetz die Liebe zu der gesamten Menschheit aner¬
kennen !
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Zwei geistesgestörte Verbrecher.
201
Erläuterungen zu den Abbildungen Nr. 1—8
auf Tafel I—III.
Nr. 1 zeigt den C. in den verschiedenen, im ersten Kapitel beschriebenen
Lebensabschnitten. Die Betrachtung der Lichtbilder gibt uns die Aufklärung
über den Umstand, warum C. seine enormen Schulden nicht persönlich kon¬
trahierte, ja den persönlichen Verkehr mit seinen Lieferanten sorgsam vermieden
hat: einem solchen „Ingenieur" hätte kein Geschäftsmann Automobile, Schmuck¬
sachen u. dgl. geliefert Interessant ist, die Ausführungen des C. in dieser
Richtung zu vergleichen, welche in dem an den Berliner Oberstaatsanwalt ge¬
richteten Briefe enthalten sind. Die Richtigkeit der Folgerungen der Gutachter,
welche in diesem Falle jede Simulation ausgeschlossen haben, erfährt in den an¬
geschlossenen Bildern und Zeichnungen eine außerordentliche Bekräftigung; ich
möchte gerne einiges über die hierher gehörigen Fragen erwähnen, da aber diese
Studie nur eine „Beobachtung“ darstellt, so würden längere theoretische Aus¬
führungen über den Rahmen einer solchen Beobachtung hinausgehen. Wer Be¬
lehrung sucht, der findet sie in den Kriminalpsychologien von Hans Groß und
Robert Sommer, sowie in dem Buche Aschaffenburgs „Das Verbrechen und seine
Bekämpfung“. Die Auffassung Sommers und seine Behandlung der Lehre vom
geborenen Verbrecher ist besonders empfehlenswert: Sommer trennt in der ihm
eigenen gewissenhaften Weise bei Besprechung der Lehre Lombrosos mit sicherer
Hand das Licht vom Schatten, so daß der Leser über diese strittige Frage ein
festes Urteil gewinnt.
Das Bild Nr. 3 ist eine gute Illustration der Auffassung des Gutachters D.,
diese Aufnahme des C. entspricht vollkommen der somatischen und psychischen
Verfassung, in welcher sich C. zur Zeit der Freiheit befand. Kriminalistisch
praktisch finde ich den Modus, welcher bei der Hamburger Polizei bei photo¬
graphischen Aufnahmen verdächtiger Individuen eingehalten wird, d. i. die Auf¬
nahme des Individuums samt dem Schilde mit Daten und sonstigen Zeichen.
Die Einhaltung dieses Modus würde manchen Zeitverlust ersparen, welcher bei
Gerichten leicht entstehen kann, falls derlei Daten fehlen und ein Begleitschreiben
augenblicklich nicht bei der Hand ist.
Beim Bilde Nr. 7 fällt jedem Fachmann die geschnörkelte Schrift auf;
solche Schreibweise ist erfahrungsgemäß namentlich Paranoikern eigen, welche
hiermit gleichsam ihre verschrobene Denkweise klar zum Ausdrucke bringen.
Wir begegnen oft im täglichen Leben Leuten, deren schriftliche Aufsätze, Briefe
u. dgl. von unzähligen Unterstreichungen, Ausrufungszeichen und Interjektionen
wimmeln. Jeder praktische Jurist wird eine Menge Urkunden gesehen haben,
in denen der Verfasser mit Begeisterung den Satz „hiedurch sei ihm ein offen¬
bares, himmelschreiendes Unrecht geschehen,“ einigemalc recht dick unterstrichen
und mit der nötigen Anzahl Ausrufungszeichen versehen hat.
Das letzte Bild zeigt die ZukunftspUine (Vs in unverkennbarer Weise.
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XI.
Zwei gerichtliche Urteile.
Mitgeteilt von
Dr. Richard Lezariski, Landgerichtsrat in Zloczow.
A. Überreste des Dianakultes In Ostgalizien zu Beginn des
XX. Jahrhunderts.
Obgleich besonders in neuester Zeit vielfach behauptet wird, daß
sich die slawischen Mythologien selbständig auf heimischem Boden
entwickelten, wird es dennoch zugegeben, daß, wenigstens im geringen
Maße, der Einfluß fremdländischer, heidnischer Mythologien nicht ver-
kaunt werden kann. Einen Beweis hierfür bildet der der griechischen
und römischen Mythologie entlehnte Dianakult.
Nach dem Muster Griechenlands, wo Artemis als Göttin des Erd¬
segens (Artemis paidotrophos) in Frühlingsfesten, und im Anschluß
an das heidnische Italien, wo Diana als Spenderin der ländlichen
Fruchtbarkeit durch Darbringung von Opfern und Veranstaltung von
Fackelzügen gefeiert wurde, bestand bei den heidnischen Slawen,
namentlich bei den Polen, der Kult der Frühlingsgöttin: „Dziewanna u ,
deren Namen schon, etymologisch, die römische Herkunft kenn¬
zeichnet.
Eine Reminiszenz an die alte heidnische Zeit bildet das in dem
ostgalizischen Dorfe Zeldec bis jjunzu in Übung bestehende, mit einer
griechisch-katholischen, kirchlichen Feier verschmolzene, beim Früh¬
lingsanbruche jahrj ährlich in der Nacht zum 15. April gefeierte
„Dijania-Fest“.
Obzwar der heidnischen Göttin Diana, deren Namen sie trägt,
nicht mehr geweiht, ähnelt die Feier, was den Kultgebrauch anbe¬
langt, den heidnischen.
Mitten im Dorfe, in einer Entfernung von kaum 10 Metern von
den Hütten und Wirtschaftsobjekten, wird Feuer angefacht und durch
Hinzulegen von Holzabfällen, Reisig, Stroh und dergl. stundenlang
genährt.
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Original frorn
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Zwei gerichtliche Urteile.
203
Dies war auch der Fall während der „Dijania-Feier“ in der
Nacht zum 15. April 1906, an der 33 junge Burschen als Zeremonien¬
meister teilgenommen haben.
Als das zusammengescharrte, in Feuersglut versengende Holz
nahe am Auslöschen war, rissen die Burschen fremde Planken,
Pfosten, Dächer und dergl. im Werte von 300 Kronen ein und warfen
das widerrechtlich erworbene Brennmaterial in die Flammen, die
weiter um sich griffen und die benachbarten Hütten ernstlich be¬
drohten.
Laut Anklageschrift der Lemberger Staatsanwaltschaft vom
18. September 1906 GZ. St. 3306/6 wurden sämtliche 33 Täter wegen
5
Verbrechens der öffentlichen Gewalttätigkeit durch boshafte Beschädi¬
gung fremden Eigentums nach § 85 lit. a. Str.G. und wegen Übertretung
gegen die Sicherheit fremden Eigentums nach § 453 Str.G. angeklagt.
Bei der am 22. Febr. 1907 durch geführten Hauptverhandlung wurden
18 Angeklagte anklagegemäß schuldig erkannt und zu einer schweren
Kerkerstrafe in der Dauer von drei Wochen bis zu zwei Monaten
verurteilt. Doch hat der Oberste Gerichts- und Kassationshof mit
Urteil vom 19. Junil907 ZI. 7132 das durch die Nichtigkeitsbeschwerde
der Angeklagten angefochtene Urtei l behoben und die Sache — den
Schuldspruch nach § 453 Str.G. unberührt lassend — zur neuerlichen
Verhandlung und Entscheidung verwiesen, weil das angefochtene
Urteil^festzustellen vermißte ,J ob die Angeklagten vorsätzlich und im
Bewußtsein der Widerrechtlichkeit der Schadenszufügung gehandelt
haben, als sie aus Anlaß des in der Nacht zum 15. April 1906 im
Orte Zeldec herkömmlicher Weise gefeierten Dianafestes ver¬
schiedene fremden Eigentümern gehörige Holzmaterialien unter gleich¬
zeitiger Beschädigung fremder Objekte zur Unterhaltung eines Freuden¬
feuers als Brennzeug verwendet und den Eigentümern hierdurch einen
Schaden von mehr als 50 Kronen zugefügt haben, oder aber, daß
ihnen bloß Fahrlässigkeit und Mutwillen zuzuschreiben wäre.
(Staatsanwaltschaftliche Akten St. 3306/6 — Gerichtliche Akten
No. 2957/6.)
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204
XI. Lkzanski
B. Ein Fall der Nekrophilie.
Ende April 1907 ließen sich in selbstmörderischer Absicht zwei
junge Mädchen in Lemberg von einem Eisenbahntrain überfahren.
Die ziemlich weit von der Bahnstrecke weggeschleuderten Leichen
wurden am nächsten Tage geborgen und in einer vorstädtischen
Leichenkammer aufgebahrt. Massenhaft strömten Neugierige dahin,
um die Leichenstücke zu besichtigen. Darunter befand sich Chaim
H., ein 32jähriger verheirateter Bäckergehilfe, Vater eines Kindes,
der ungeachtet der Anwesenheit anderer Personen seine Hand unter
das Kleid einer Leiche schob und ihr Scharahaare herauszupfte. Am
nämlichen Tage erschien er in der Leichenkammer zum zweiten Male,
entblößte wieder eine Leiche und riß ihr abermals Schamhaare aus.
Nachher begab er sich in die nächste Schänke und wies den dort
Anwesenden eine Handvoll Haare mit der Frage vor, ob sie imstande
wären, nach dem Gerüche zu unterscheiden, welche von den vorge¬
zeigten Schamhaaren der einen und welche der anderen Selbst¬
mörderin ausgerissen worden sind. Daß es sich gegebenen Falls nicht
bloß um den Besitz eines von den Selbstmörderinnen herrührenden
Gegenstandes handelte, dem im Volksmunde abergläubische Wirkungen
zugeschrieben werden, vielmehr darum zu tun war, dem perversen
sexuellen Triebe zu genügen, wäre schon daraus zu ersehen, daß der
Leichenschänder die bei seiner ersten Anwesenheit in der Leichen¬
kammer ausgerissenen Schamhaare sofort weggeworfen hat, und daß
er vor einigen Zeugen gestand, die Absicht gehabt zu haben, an
einer Leiche einen Beischlafsakt auszuüben. Nachdem ihm dies nicht
gelungen war, hat er sich damit begnügt, den Leichen Schamhaare
auszureißen, um auf diese Weise seinen perversen Geschlechtstrieb
zu befriedigen.
Ob das Handeln des Chaim H. aus krankhaftem Empfinden und
Wollen hervorgegangen ist, und ob er sich zur Zeit der Verübung
der strafbaren Handlung im Zustand krankhafter Störung der Geistes¬
tätigkeit befand, ist näher nicht untersucht worden.
Er wurde wegen Vergehens nach § 306 Str.G. angeklagt, schuldig
erkannt und zu einer sechswöchigen strengen Arreststrafe verurteilt.
(Staatsanwaltschaftliche Akten St 3054/7 — Gerichtsakten
Vr. 1143/7.)
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XII.
Aberglaube und Verbrechen.
Ein Fall aus der Praxis.
Von
Polizeipräsident Koettig in Dresden.
Es ist unter den Kriminalisten eine bekannte Tatsache und auch
in dieser Zeitschrift bereits wiederholt darauf hingewiesen worden,
daß der Aberglaube selbst in unserer aufgeklärten Zeit und trotz der
hohen Kulturstufe unseres Volkes noch immer üppig blüht und ge¬
deiht und nicht selten auch auf die Verübung von Verbrechen einen
verderblichen Einfluß ausübt.
Dieser Einfluß macht sich in der Hauptsache in doppelter Richtung
geltend.
Entweder bildet der eigene Aberglaube des Verbrechers für diesen
das Motiv seines Verbrechens: Abschneiden der Hand und Tötung
eihes Knaben, weil das Beisichtragen einer bei Lebzeiten abgehackten
Hand den Dieb unsichtbar macht und ihn straflos davonkommen
läßt (Groß, Arch. Bd. XXIV S. 161), Blutschande mit der eigenen
Tochter, um von angeblich unheilbarer Krankheit geheilt zu werden
(Groß, Arch. Bod. XV S. 397), oder der Verbrecher benutzt den Aber¬
glauben einer bestimmten anderen Person, um gegen diese zu operieren.
Zu den letzteren Fällen einen Beitrag aus neuester Zeit zu liefern,
ist der Zweck dieser Zeilen, welche in der Hauptsache den Fest¬
stellungen des ergangenen Gerichtsurteils folgen und welche erneut
beweisen, daß der Aberglaube nicht nur auf dem platten Lande, wie
man gewöhnlich annimmt, sondern auch in den großen Städten sich
verbreitet findet.
Der vermögenslose Arbeiter A. war im Jahre 1905 mit seinem
Arbeitskollegen B. näher bekannt geworden.
Der letztere hatte ihm anvertraut, daß er gern schnell reich
werden wolle, daß er zu diesem Behufe, wenn schon ohne Erfolg
zu haben, bereits Gold zu machen versucht habe, und daß er, wenn
Archiv für Kriminalanthropologie. 29. Bd. 14
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206
XII. Koetti«
er ihm nur zu Reichtum verhelfen würde, sich am liebsten dem Teufel
verschriebe, wie es offenbar schon sein Großvater getan gehabt hätte,
der im Besitz eines „magnetischen Talers“ gewesen sei, der stets
wieder zu ihm zurückgekehrt wäre, so oft er ihn auch ausgegeben
habe. B hatte an diese Mitteilung die Frage geknüpft, ob denn A.
ihm nicht zu helfen im Stande sei und ob er nicht wisse, auf welche
Weise er durch den Teufel zu einem magnetischen Taler kommen
könnte, wie deren einer im Besitz seines Großvaters gewesen sei.
Aus diesen und ähnlichen Reden hatte A ersehen, daß B, so ver¬
nünftig und aufgeklärt er im übrigen erschien, ein Mensch war, der,
im krassen Aberglauben befangen und fest an die Existenz des Teufels
als des mächtigen Beherschers des Geisterreiches glaubend, der Über¬
zeugung lebte, daß der Teufel ihm zu den von ihm heißersehnten
Reichtümern verhelfen würde, wenn er sich bereit finden ließe, sich
ihm mit Leib und Seele zu eigen zu geben. Dies beschloß er, alsbald
sich in folgender Weise zu Nutze zu machen, um sich auf diesem
Wege durch Täuschung Bs bewußt widerrechtlich und ohne jede
Gegenleistung Geld von ihm zu verschaffen.
Er machte B. glauben, daß er im Stande sei, ihn in unmittelbare
Verbindung mit dem Teufel zu bringen, indem er ihm sagte, daß er
zu diesem Zwecke nur den ihm bekannten Schriftsetzer C, ein über¬
aus taugliches Medium, zu hypnotisieren brauche, er sage dann in
der Hypnose alles, was er, B, zu wissen begehren würde und es würden
ihm auf diese Weise, zuverlässige Nachrichten aus dem Reiche der
Geister und von dessen Beherrscher, dem Teufel selbst, zugehen.
Diese bewußt wahrheitswidrigen Vorspiegelungen nahm der aber¬
gläubische B, wie der A erkannte und wollte, durchaus für bare
Münze und er bat den Angeklagten, die Hypnotisierung Cs alsbald
ins Werk zu setzen. Das Letztere geschah denn auch, d. h. C der
von A dahin unterrichtet wurde, daß es gelte, mit B einen Scherz
zu machen, ließ sich von A zu wiederholten Malen zum Schein
hypnotisieren und machte, in der angeblichen Hypnose dem gespannt
aufhorchenden B allerhand, behauptlich aus dem Geisterreiche und
vom Teufel stammende geheimnisvolle Mitteilungen, die ihm A zuvor
eingegeben hatte und deren Inhalt im wesentlichen dabin ging, daß
der Teufel mit ihm in Verbindung zu treten und ihn reich zu machen
Willens sei, wenn er sich ihm verschreiben würde, und daß er zur
Nachtzeit an eine des näheren bezeichnete Bank in der Nähe des
Friedhofs nur Geld niederzulegen brauche, um es dereinst, nachdem
es der Teufel geholt haben würde, von diesem ganz erheblich ver¬
mehrt zurückzuempfangen.
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Aberglaube und Verbrechen.
207
Die erste dieser Mitteilungen, die an Bs Erzählung von dem
magnetischen Taler seines Großvaters anknüpfte, lautete: mit einem
Taler ging es jetzt nicht mehr, das wäre früher gegangen, jetzt
müßten es 3000 M. sein, die B bei der vorbezeichneten Bank zur
Verfügung des Teufels niederlegen müsse, wenn er einst 3 Millionen
Mark zurückerhalten wolle!
Als darauf B, der die verlangten 3000 M. aus eigenen Mitteln
nicht beschaffen konnte, eines Tags im Januar 1906 versuchsweise
einen Taler für den Teufel an den verabredeten Ort gelegt und dies,
sowie, daß der Taler am nächsten Tage verschwunden gewesen sei,
dem A mitgeteilt hatte, veranlaßte ihn auf Geheiß des A der von
diesem behauptlich erneut in Hypnose versetzte C, abermals des
Nachts an die Bank in der Nähe des Friedhofs zu gehen und dort
einen Brief abzuholen, den der Teufel für ihn daselbst niedergelegt
habe und zu dessen Entzifferung er einer geweihten Kerze bedürfe,
an deren Licht er den Brief beim Lesen halten müsse.
Der gläubige B kam dem sofort nach, begab sich in der nächsten
Nacht an die Bank und fand dort einen von A verfaßten, mit Zwiebel¬
saft geschriebenen Brief vor. In diesem Briefe, dessen zunächst
unsichtbare Schriftzüge er mittels der Wärme einer von ihm in P beim
dortigen katholischen Pfarrer eigens gekauften geweihten Kerze zum
Vorschein brachte, wurde die gemachte Mitteilung wiederholt, in der
Weise, daß der angebliche Briefschreiber, der Teufel, der sich am
Schlüsse des Schriftstücks mit „Kaiser Lucivuge“ unterzeichnet hatte,
erneut erklärte: mit einem Taler ging es nicht, es müßten 3000 M.
sein und hinzufügte, daß B inzwischen der kurze Zeit vorher bei
der Friedhofsbank deponierte und von dort verschwundene Taler auf
diese 3000 M. vom Teufel gutgeschrieben worden wäre.
B der nach alledem an der Wahrheit all dieser ihm behauptlich
aus dem Geisterreicbe und vom Teufel selbst zugegangenen Mit¬
teilungen nicht den geringsten Zweifel hegte, versuchte nunmehr, die
vom Teufel verlangten 3000 M. sich von dritter Seite leihweise zu
verschaffen. Indes gelang ihm dies nicht. — Darüber war das zeitige
Frühjahr herangekomraen. Um diese Tage bat er eines Tages den A,
doch einmal C in der Hypnose zu fragen, wieviel eigentlich seine,
Bs, Ehefrau noch Geld besitze; er gedachte, den Teufel eventuell
hierauf zu verweisen, falls er selbst die noch rückständigen 2997 M.
nicht leihweise aufzutreiben vermöchte. C, von A wiederum ent¬
sprechend informiert, antwortete ihm hierauf: wie groß das Vermögen
seiner Ehefrau noch sei, dürfe er nicht sagen, bevor nicht die 3000 M.
gelegt seien; er solle übrigens wieder zu der Friedhofsbank gehn,
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208
XII. Koettig
dort würde wieder ein Schreiben des Teufels liegen, das er sich ab¬
holen solle.
Als daraufhin B sich abermals zu der fraglichen Bank begab,
fand er dort richtig einen wiederum mit „Kaiser Lucivuge“ Unter¬
zeichneten, mit Tinte auf Pergament geschriebenen Brief vor, in dem
zu lesen stand: „wenn er wisse wolle, wieviel seine Ehefrau Vermögen
habe, müsse er 50 M. an der Bank niederlegen, diese 50 M. würden
ihm dann gut geschrieben werden!“ hinzugefügt war die Drohung:
wenn er die 50 M. nicht legte, würde der Kaiser Lucivuge
blutige Rache an ihm nehmen!
Auch diesen Brief hatte, wie schon erwähnt, A geschrieben. Es
dauerte ihm zu lange, bis B das von ihm durch die Täuschung
erstrebte Geld in größerer Menge beschaffte. Deshalb nahm er die
Gelegenheit war und benutzte Bs Anfrage nach dem Stande des
Vermögens seiner Ehefrau, um ihm die Aufforderung zukommen zu
lassen, zunächst wenigstens einmal 50 M. zu beschaffen und knüpfte
hieran, um B, wie ihm auch gelang, einzuschüchtern und willfährig
zu machen, die Drohung, daß der Teufel an ihm, blutige Rache
nehmen würde, falls er das Geld nicht hergäbe.
In der Tat händigte nunmehr B aus Furcht vor der Verwirk¬
lichung der ihm zugegangenen Drohung des Teufels dem A die ver¬
langten 50 Mark mit dem Aufträge aus, das Geld für ihn an der
mehrerwäbnten Bank zur Verfügung des Teufels niederzulegen.
B glaubte auf diese Weise die gewünschte Auskunft vom Teufel zu
erlangen.
A nahm das Geld und verwandte es sogleich in seinem Nutzen.
Auch ließ er dem B, um die Entdeckung der Täuschung zu verhindern,
und um sie fortsetzen zu können, einen „Brief vom Teufel“ zugehn,
in dem dieser zunächst noch nähere Angaben über das Vermögen
der Frau verweigerte, aber dem B die erhaltenen 50 M. wieder „auf
sein Konto gutschrieb“.
Gegen Ende März 1906 ließ A dem B wiederum einen Brief zu¬
kommen, in dem er die Mitteilung an ihn gelangen ließ, daß er nun¬
mehr zum „Kareist“ d. h. zum Genossen des Teufels ernannt worden
sei, und daß der Teufel, der „Kaiser“, ihn nun und zwar in der Zeit
von 12 —'/22 Uhr Nachts auf dem Friedhofe persönlich zu sprechen
wünsche. Er solle die Urkunde mitbringen, in der er sich dem Teufel
mit Leib und Seele zu eigen gäbe; diese Verpflichtungsurkunde müsse
er dem Teufel übergeben, indem er sie ihm vor die Füße werfe.
Auch das glaubte B. Er begab sich zu der ihm angegebenen Zeit
auf den Friedhof und traf dort richtig eine vermummte Gestalt an
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Aberglaube und Verbrechen.
209
die sich ihm als „Kaiser Lucivuge“ darstellte und — auf einem
Grabhügel stehend — ihm erklärte, daß hier unten der Schatz be¬
graben liege, von dem er 3 Millionen erhalten sollte.
In der Folgezeit richtete A noch eine ganze Anzahl angeblich
vom Teufel herstammender und ihm von diesem zur Besorgung an¬
vertrauter Briefe an B. Sie bezweckten sämtlich, B in seinem Glauben
an die Vermittlerrolle des A im Verkehr mit dem Teufel zu bestärken
und die endliche Beschaffung der mehrerwähnten 3000 M. herbei¬
zuführen.
So schrieb er ihm nach dem letztgenannten Vorfälle unter der
von B, wie er voraussah, als besondere Ehrung empfundenen Adresse
„an das Mitglied des geheimen Freimaurerbundes“: daß er die 3000 M.
nur bald beschaffen möge, es seien erst unlängst 25 Millionen nach
Dresden gefallen, der Teufel teile reichlich aus, aus den 3000 M.
bekäme er 3 Millionen und aus 10000 M. würden gar 20 Millionen Mark!
Auch das glaubte B, er fühlte sich durch die vom Teufel ge¬
wählte Anrede diesem wieder näher gekommen und machte in der
dadurch neu belebten Hoffnung mit Hilfe des ihm sichtlich schon jetzt
wohl gewogenen Teufels den ersehnten Reichtum endlich zu erreichen,
immer wieder neue Versuche, die 3000 M. sich leihweise zu verschaffen.
Eines Tages im Sommer 1906 nahm auf Bs Bitten A auch wieder
einmal, und zwar wiederum nur zum Schein, eine Hypnotisierung Cs
vor. Zu dieser Zeit hatte B in der Zeitung gelesen, daß ein Herr
ein 500 Markschein verloren hatte. Um sich den ausgesetzten Finder¬
lohn verdienen zu können, wünschte er durch C zu erfahren, wo sich der
500 Markschein befände. Daraufhin wurde ihm durch A der Bescheid:
C habe gesagt, wenn er 50 M. an die Bank in R. lege, würde er
durch einen Brief des Teufels erfahren, wo sich der 500 Markschein
befänd. B nahm auch dies gläubig auf, er entlieh sich bei einem
Bekannten 50 Mark und legte diese persönlich des Nacht an der
Friedhofsbank nieder. Als er sich am nächsten Tage abermals
dorthin begab, war das Geld, das A inzwischen weggeholt hatte, um
es für sich zu verwenden, verschwunden und an seiner Stelle lag ein
von A verfaßter Brief folgenden Inhalts da: der Eigentümer des in
Verlust geratenen 500 Markscheins habe diesen inzwischen wieder¬
erlangt; B sollte aber nun endlich die 3000 Mark legen; die neuer¬
lichen 50 Mark wären ihm wiederum „auf sein Konto gutgeschrieben“.
Auch hieran war die Drohung geknüpft: wenn B die 3000 M. nun
nicht bald legte, würden die Geister blutige Rache an ihm
nehmen. Unterzeichnet war der Brief wiederum mit „Kaiser
Lucivuge“.
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210
XII. Kokttk;
Am Abend des nämlichen Tages fand B ein ihm von A dorthin
praktiziertes weiteres Schriftstück an seiner Wohnungstür vor, in dem
ihm der Kaiser Lucivuge erneut mitteilt: er werde blutige Rache
an ihm nehmen, wenn er die 3000 M. nun nicht sofort beschaffen
sollte, er werde im Nichtzablungsfalle durchbohrt werden. Auch
diesen Brief hatte der Angeklagte verfaßt. Das war Ausgangs
Sommer 1906.
Seitdem lebte B in beständiger Angst davor, daß der Teufel die
von ihm wiederholt und zuletzt mit besonderer Deutlichkeit ausge¬
sprochene Drohung ihn eventuell umzubringen, verwirklichen werde,
falls er nicht die zugesicherten 3000 M. vollständig erlege. Er ver¬
doppelte deshalb seine Anstrengungen Geld zu beschaffen, um jenen
zu befriedigen. Trotz aller seiner Bemühungen gelang es ihm aber
nur, sich von dritter Seite die Gewährung eines Darlehns von 3000 M.
für Ende des Jahres 1906 zusichern zu lassen. Da am 10. Dezember
1906 erschien die Ehefrau des A in dessen Auftrag bei B in seiner
Wohnung und überbrachte ihm einen angeblich vom Teufel her¬
rührenden, in Wahrheit aber von ihrem Ehemanne geschriebenen
Brief.
In diesem Briefe schrieb der „Kaiser Lucivuge“ weshalb er, B,
sich so lange Zeit nicht habe sehen lassen? es wären eine Menge
Briefe von ihm nicht abgeholt worden, deren Beförderung dem A
obgelegen habe; dafür müsse er 57 M. Strafe zahlen und an die
Friedhofsbank legen; er solle jetzt der verehel. A Vollmacht geben,
die solle das Geld mitnehmen und befördern, ihr Ehemann habe mit
ihm nichts mehr zu tun. Auch dieser Brief schloß mit der Drohung:
die Geister würden blutige Rache an ihm nehmen, wenn
er die 57 Mark nicht beschaffte. B besaß nur noch 20 Mark.
Aus Angst gab er diese sogleich der verehel. A mit, indem er ihr
gleichzeitig schriftlich bescheinigte, daß nunmehr sie an Stelle ihres
Ehemannes seinen Verkehr mit dem Teufel zu vermitteln berechtigt
sein solle. Er meinte noch fragend zu ihr: ob sie als Frau sich denn
nicht fürchte, nächtlicher Weile für ihn an die Bank in Kaditz zu
gehen? Dies verneinte indes die A. Die empfangenen 20 M. trug
sie, dem Aufträge ihres Mannes entsprechend, nicht erst an den
„Teufelsbriefkasten“ am Friedhof, sondern gab sie sogleich ihrem
Ehemanne, der sie schleunigst für sich verwendete.
An den nächsten Tagen bemühte sich B vergeblich, die an den
57 M. noch fehlenden 37 M. aufzutreiben. Dann, als alle seine Be¬
mühungen fruchtlos blichen, wandte er sich an A mit der Frage, ob
er denn die 37 M. nicht in Raten an den Teufel zahlen könnte.
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Aberglaube und Verbrechen.
211
B versprach, diese Frage an C zur Beantwortung vorlegen zu wollen
und schrieb ihm darauf einen Brief, den er B wiederum durch seine
Ehefrau zustellen ließ. In diesem Brief, der vorgeblich die Antwort
des Teufels auf die bezügliche, ihm von C in der Hypnose vorgelegte
Anfrage sein sollte, schrieb ihm der „Kaiser Lucivuge“: er könne das
Geld in 3 Katen, am 12., 15. und 22. Dezember zahlen, aber er
solle ja pünktlich sein, er wisse doch, was ihm bevor¬
stehe, ob ihm etwa das Geld lieber wäre als sein Leben!
B vermochte aber auch jetzt nicht, die fehlende Summe zu be¬
schaffen. Um nun den Teufel zn zeigen, daß er nicht etwa ans
Böswilligkeit die Zahlung verweigere, händigte er zur Ablieferung
an ihn dem A am 16. Dezember 1906 den letzten Rest seiner Barschaft
mit 2,50 M. ein. Auch dieses Geld nahm A, angeblich um es an
den Teufel abzuliefern, verwendete es aber in Wahrheit sofort in
seinem Nutzen.
Inzwischen wurde dem Treiben des A dadurch ein Ende gemacht,
daß gegen ihn von einem Manne, den B unter Darlegung des Sach¬
verhalts um Geld angegangen hatte, bei der Polizeibehörde Straf¬
anzeige wegen Betrugs erstatte.
Noch jetzt indes fürchtete B die ihm angedrohte „Strafe der
Geister“ so sehr, daß er dem recherchierenden Kriminalbeamten zu¬
nächst jede Auskunft verweigerte. Er ging diesem gegenüber erst
dann mit der Sprache heraus, als der Beamte durchblicken ließ, daß
er selbst mit den Geistern in Verbindung stehe und schließlich das
Erforderliche durch sie auch ohne ihn in Erfahrung bringen würde.
Erst dann wich die Furcht von ihm, daß er durch seine Mitteilungen
den Teufel erzürnen könne, und er ließ sich nunmehr dazu herbei
den ihn ausfragenden Beamten Rede und Antwort zu stehen.
Das gegen A anhängig gemachte Strafverfahren endete mit seiner
rechtskräftigen Verurteilung wegen in Tateinheit begangenen Betrugs
und Erpressung nach §§ 263, 253, 73, 32. Str. G. Bs zu 6 Monaten
Gefängnis und dreijährigem Ehrenrechtsverluste.
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XIII.
Über einige technische Behelfe für Untersuchungsrichter.
Aus einem Vortrag, gehalten in der österreichischen kriminalistischen
Vereinigung in Wien am 19. November 1907.
Von
Landesgerichtsrat Dr. Weinlich.
(Mit 40 Abbildungen.)
Es braucht wohl nicht erst hervorgehoben zu werden, wie schwer
es ist, mit Worten zu schildern, wie schwierig es ist, Wortschilderungen
richtig zu verstehen und aufzufassen, wie viel andererseits das Prinzip
des Anschauungsunterrichtes, der Versinnbildlichung zum raschen,
sicheren Verständnis beiträgt. — Dieses Prinzip der Versinnbildlichung,
der Graphik im weitesten Sinne möge daher für den Dienst des
Untersuchungsrichters, der mehr als andere sowohl selbst rasch und
sicher auffassen muß, als auch das selbst Erkannte möglichst un¬
zweifelhaft andern verdeutlichen soll, in ausgedehntester Weise zur
Anwendung kommen.
In großen und wichtigen Fällen wird der Untersuchungsrichter
wohl die Verpflichtung haben, sachverständige Fachleute beizuziehen,
und ihren wissenschaftlichen Methoden, ihren feinen Instrumenten,
ihren geschulten Hilfskräften die exakte Arbeit und damit die Ver¬
antwortung überlassen. — Vorausgesetzt, daß er sie haben kann.
Ich verlange nun aber außerdem vom Untersuchungsrichter, daß
er — ganz abgesehen von den unabweislichen offiziellen Lokalaugen¬
scheinen — sich in allen Fällen, in denen die Situation, die Lokalität,
ich möchte direkt sagen das Milieu, in irgend einer Weise in Frage
kommt, an Ort und Stelle begebe und sich die Sachlage selbst an¬
schaue, das so Erschaute aber für diejenigen, denen er es verdeut¬
lichen will und soll, graphisch aufzeichne oder darstelle.
Wenn wir einmal Seminare oder Kurse für Untersuchungsrichter
haben werden, in denen diese in den für ihren Dienst notwendigen
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Über einige technische Behelfe für Untersuchungsrichter.
213
technischen Fertigkeiten unterwiesen werden können, dann werden
wir freilich mehr oder weniger fachmännische Leistungen fordern
dürfen.
Solange dieses nicht der Fall ist, werden wir für den in techni¬
schen Künsten und Fertigkeiten minder oder gar nicht versierten
Durchschnittsjuristen Erleichterungen und Hilfsmittel benötigen, die
ihn in den Stand setzen sollen, alles, was er selbst wahrgenommen
hat und das sich irgend zur Darstellung durch Graphik oder Ver¬
sinnbildlichung eignet, auch wirklich in diesem Sinne festzuhalten,
sei es, um sich selbst den Ausdruck zu erleichtern; sei es, um die
von ihm aufgefaßten Umstände andern, also z. B. Zeugen, Beschul¬
digten, Sachverständigen, vor allem aber der Staatsanwaltschaft und
nicht zuletzt dem erkennenden Gerichte so deutlich als möglich mit-
teilen zu können.
Ich will nur einige der häufigsten Fälle herausgreifen, und nur
solche Methoden erwähnen, die sich mir in der Praxis bewährt haben,
denn nur für diese kann ich einstehen. — Ich möchte dieselben den
Erfordernissen des täglichen Dienstes, namentlich des Großstadt* .
dienstes, angepaßt wissen.
Vieles wird vielleicht schon von dem einen oder dem andern
selbst in Anwendung gebracht sein, dann will ich nur daran erinnert
haben.
Vor allem gewöhne man sich entsprechend dem Grundgedanken,
daß das Bild, sei es auch noch so primitiv, augenscheinlicher und
sicherer schildert als das Wort, beständig den Bleistift zur Hand zu
haben, und sofort wie sich bei einer Einvernahme oder sonstwie irgend
Gelegenheit bietet, etwas bildlich darzustellen, dieses, wenn auch in
noch so einfacher Weise zu versuchen.
Als Erleichterung für den Nichtzeichner möchte ich hierfür die
Anwendung einer Art konventioneller Zeichen vorschlagen, ähnlich
denen, wie sie die Mappierung, die Kartographie kennt
Ich möchte nur Beispiele anregen, das System wäre natürlich
ausgestaltungsfähig. — Man kann darstellen:
Menschliche Gestalt aus der Vogelschau: durch einen kleinen
Kreis mit zwei angesetzten Strichelchen, die die vorstehenden
Füße und damit die Richtung andeuten, nach der der Betreffende
sich wendet:
a ; will man noch zum Ausdruck bringen, daß
der Dargestellte nach einer andern Richtung sieht, so kann man
in die Umfanglinie des Körpers noch die des Kopfes einzeichnen
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214
XIII. Weiklk-h
und an dieser durch die Andeutung der Nase die Blickrichtung
vermerken:
Etwa notwendige Darstellung der Armhaltung ist
durch angesetzte Strichelchen leichtlich gemacht
Tiere, z. B.
Pferde von oben gesehen: Die Draufsicht von Fahr¬
zeugen ergibt sich von selbst.
Lastwagen Straßenbahnwagen Automobil
Menschliche Gestalt aufrecht, iim Aufriß: Strich mit Ringelchen
oben, das den Kopf andeutet, etwaige Gliedmaßen durch Seitenstriche
bezeichnet',; die Stellung, stehend, sitzend, hockend, knieend läßt sich
durch Knickung der Körperlinie unschwer zum Ausdruck bringen.
Das sieht nun freilich possierlich aus; die konventionellen Zeichen der
Mappierung, die steifen Bäumchen mit Schattenstrich i oder z. B.
die kleinen Dampfschiffchen mit rauchendem Schlot
zur Bezeichnung einer Darapfschiffstation gehören ja an und für sich
auch ins Kinderzeichenheft; das nimmt ihnen aber nicht das Sig-
nificante, und ihre allgemeine Anwendung befreit sie von der Lächer¬
lichkeit.
Einige Beispiele mögen zeigen, wie viel Worte man sich durch
die konsequente Anwendung solcher Zeichen ersparen kann und wie
sehr deutlicher eine Situation dadurch zum Ausdruck gebracht
werden kann.
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Über einige technische Behelfe für Untersuchungsrichter. 215
Die hier dargestellte Situation, knapp vor einem Straßenbalin-
unfall, müßte mit Worten des Langen und Breiten etwa so ausge¬
drückt werden:
Zeuge a sagt: Ich stand auf dem Trottoir gerade an der Ecke,
mit dem Rücken gegen die Hauskante, sah links von mir einen zwei-
spännigen Geschäftswagen aus der X Straße in die Nstraße hinein
fahren und zwar auf seiner rechten Straßenseite, also (für Österreich)
auf der falschen. Er schien die Straße übersetzen zu wollen.
Da ich mehr gegen ihn gewendet war, bemerkte ich das Heran¬
kommen eines Straßenbahnwagens von rechts (von mir aus) erst im
letzten Moment. Der Kutscher, welcher, da der Wagen einen gedeckten
und geschlossenen Kutschersitz besaß, etwa so :
keinen freien Ausblick hatte, riß, als er an mir vorüber war, die
Pferde nach links (von sich aus) usw.
Zeuge h sagt: Ich stand rechts hinter dem Motorführer auf der
vorderen Plattform mit dem Rücken an die vordere Wagenwand ge¬
lehnt usw.
Zeuge d wird sagen müssen: Ich saß auf der linken Längsbank
(in der Fahrtrichtung) im Innern des Wagens, knapp neben der vor¬
deren Glaswand, so daß ich freie Aussicht voraus hatte, da vor mir
niemand draußen auf der Plattform stand usw.
Zeuge b müßte erzählen: Ich war gerade im Überschreiten der
Nstraße begriffen, in der Richtung gegen die XStraße, als ich einen
Motorwagen von links, einen zweispännigen Wagen aus der X Straße
herauskommen sah. Als die Pferde schon auf dem Geleise waren,
werde ich etwa 12 Meter (Länge des Straßenbahnwagens) von der
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216
XIII. Weislich
Stelle, an der dann die beiden Fahrzeuge zusammenstießen, entfernt
gewesen sein usw.
In ähnlicher Weitschweifigkeit müßten die Situationen der andern
Beteiligten geschildert werden, — und werden denn auch üblicher¬
weise auf mehrbogigen Protokollen so beschrieben.
Wenn man nach der mündlichen Darstellung der Leute eine
Skizze wie die obige aufzeichnet, den Beteiligten zeigt und die An¬
erkennung der Richtigkeit im Protokoll vermerkt, so wird man sich
darauf beschränken können zu sagen: Ich stand bei a der mir vor¬
gewiesenen, richtigen Skizze, ich stand bei b, oder ich ging wie bei
b dargestellt, ich saß bei d etc., und derjenige, der sich aus den Auf¬
zeichnungen des Untersuchungsrichters einen Reim zu machen ver¬
pflichtet ist, wird mit einem Blick und ohne viel Denkoperationen,
ohne sich die schwülstigen Protokolldiktionen merken zu müssen, die
Situation erfassen. — Wie schon erwähnt, dienen solche Darstellungen
auch speziell zur Kontrolle der Beteiligten untereinander - Eine Figur
versteht auch der Mindestgebildete.
Ein Kutscher sagt zum Beispiel: Ich saß vorn auf meinem
Wagen. Da ich hohe Kisten geladen hatte, konnte ich nicht nach
rückwärts sehen und daher den herankommenden Straßenbahnzug
oder dergl. nicht sehen. Meine Situation
war etwa folgende:
Diese graphische Notiz wird einem
Zeugen gezeigt. — Dieser sagt sofort:
Der Kutscher saß wohl vorn, aber auf der höchsten Kiste, hatte
also freie Aussicht, etwa so:
Die Konklusionen kann man
sich natürlich im Protokoll
sparen, weil sie sich durch
die graphische Darstellung
ohne weiteres von selbst er¬
geben.
Bei einem Raubanfall gaben die Beteiligten die widersprechendsten,
unverständlichsten Schilderungen. Nur so viel war zunächst zu ent¬
nehmen, daß die Beraubte, ein Kindermädchen, einen Kinderwagen
schob und der Täter dann von ihr mit dem Wagen niedergestoßen
wurde. — Man versuchte folgende Skizze zu konstruieren (absicht¬
lich in den obgedachten konventionellen Zeichen für Nichtzeichner
dargestellt), worauf die Leute sich sofort auskannten und anzugeben
wußten, daß der Täter dem Mädchen den Weg vertrat und über
den Korb des Wagens hinüber nach ihr (und ihrer Kette) griff,
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Über einige technische Behelfe für Untersuchungsrichter.
217
worauf das Mädchen ihn durch rasches Vorschieben des Wägelchens
zu Fall brachte. Ich bemerke hier, daß Aufrisse, wenn auch noch
so primitiv, auch von den bescheidensten Intelligenzen verstanden
werden, während Grundrisse
und Draufsichten schon eine ge¬
schultere Vorstellungskraft ver¬
langen.
Hier möchte ich den Vor¬
schlag einreihen, Maße, von
denen im Protokoll die Rede
ist, soweit sie in den Raum
des Papiers fallen, nicht nur
mit Ziffern einzusetzen, son¬
dern gleich nach dem ja stets zur Hand befindlichen Maßstab
einzuzeichnen. Augenmaß ist nicht jedermanns Sache. Maße sind
nicht immer erinnerlich. Es aaa ^1
wird dieses oft zur Berichtigung ' '
oder Vergewisserung einer Aus¬
sage beitragen. Zum Beispiel:
Das Brett war zwei Zenti¬
meter dick.
Oder ein Zeuge sagt: Der
Knüppel, mit dem mich der N. N. schlug, war 10 Zentimeter dick.
Man zeichnet das Maß ein:
2 cm >
oder
-mcin-
Er sieht es und sagt sofort: Nun. so dick war er nicht; etwa
so, wie ich mit dem Finger zeige:
l<. » .-> I
< ...—. 10 ...-.->
man mißt nach und findet 6 Zentimeter.
Maße, die den Papierraum überschreiten, möge man in Form
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218
XUI. Weislich
einer abgepaßten Schnur, eines Fadens, eines Papierstreifens dem
Akte anschließen und hat sie so stets zur Hand.
Ein mir nützlich scheinendes, überaus einfaches Versinnbild¬
lichungsmittel, namentlich wenn Größen Verhältnisse in Betracht
kommen, ist die Darstellung kleinerer Gegenstände in natürlicher
Größe durch Umfahren ihrer Konturen mittelst eines Bleistiftes. Man
halte die Bleistiftspitze schräg nach innen, um keine unrichtige Ver¬
größerung zu erhalten. Details innerhalb der Kontur lassen sich dann
leicht mit freier Hand einzeichnen, z. B.
ein kleiner Schlüssel oder eine Schere,
Messer, Steine, Revolver und dergl.
lassen sich so mit Leichtigkeit dar¬
stellen. Ein Blick auf die Skizze, deren
Maße unanfechtbar sind, wird einem
sofort den richtigen Eindruck bieten. —
Das läßt sich mit Vorteil nicht nur bei Gegenständen an wenden, die
man aus irgend einem Grunde nicht zu Gerichtshanden nehmen kann
oder will, sondern auch bei den im Depositenamt verwahrten
Corporibus delicti, die man nicht beständig mit dem Akt herum¬
schleppen kann und die sich speziell der Staatsanwalt nicht immer
gleich zur Hand holen kann. In gleicher Weise lassen sich z. B.
Hände, die irgendwie durch Größe, Kleinheit, besondere Bildung
von Bedeutung sein
können (z. B. gleiche
Länge von Zeige- und
Mittelfinger, Eignung
zum „Scheremachen“,
Verdacht auf berufs¬
mäßigen Taschendieb¬
stahl) oderStiefelsohien
mit Nägeln usw. durch Umfahren der Kontur in authentischem Umriß
zum Akte bringen.
Alle diese Sachen kann jedermann ohne allen Behelf machen.
Für kompliziertere Darstellungen verweise auch ich, als auf ein
souveränes Hilfsmittel, auf das von Dr. Ehmer im Archiv für Krim.
Anthrop. und Kriminalistik Band XXIX. Pag. 1 erwähnte Millimeter¬
papier, das Papier mit quadratischer Rastrierung. Seine Verwendung
in Form eines überall käuflichen Abreißblocks erscheint mir praktisch,
da dieser bequem in die Aktentasche geht und eine feste Unterlage
beim Zeichnen im Freien bietet. Die verhältnismäßige Kleinheit des
Formates beschränkt ihn wohl mehr auf kleinere Objekte. Doch
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Über einige technische Behelfe für Untersuchungsrichter. 219
kann z. B. für einen größeren Grundriß das Croquis bequem auf den
nächstfolgenden Blättern fortgesetzt werden, entsprechende Bandmarken
sorgen für den richtigen Anschluß. Die quadratische Kastrierung
(5 mm Quadratseitenlänge) bietet außer den Vorteilen eines gleich¬
bleibenden, den verschiedensten Maßverhältnissen anpaßbaren Ma߬
stabs das Gerippe und die Grundlage für Darstellungen aller Art,
vor allem auch vorgezeichnete gerade Linien, und Abscissen und
Ordinaten für alle Kurvenzeichnungen. Auch ich möchte seine An¬
wendung für Grundrisse und Aufrisse wärmstens empfehlen, nament¬
lich für Maschinenzeichnungen. Und hier sei mir gestattet zu be¬
merken, daß meines Erachtens ein intelligenter UR. die Skizze einer
Maschine für unsere Zwecke sehr viel besser machen wird können
als der technische Fachmann.
Letzterer wird natürlich die Darstellung schöner und vollständiger
geben; aber er wird sicherlich zu. viel Details einzeichnen und das
wird diejenigen, für deren Auffassungskraft die Darstellung bestimmt
ist, verwirren. Der UR. wird aber, wenn er einmal die Konstruktion
und das Funktionieren der betreffenden Maschinen kapiert hat, ganz
gewiß nur die Teile zur Darstellung heraussuchen, die im konkreten
Falle von Bedeutung sind. Er wird wissen, auf was es jeweils an¬
kommt, er wird aber auch als Laie wissen, welche Darstellung und
welche Hilfen der Laie braucht, um seinerseits die betreffende Kon¬
struktion und ihre Funktionen zu verstehen.
In der Laienskizze wird ja manche Ausdrucksform der Ingenieur¬
kunst, manche Materialdarstellung mangeln, aber das, was der Staats¬
anwalt, der Gerichtshof, die Geschworenen oder der laienhafte Zeuge
auffassen können und müssen, das wird darin zu sehen sein.
Es bedarf keiner weiteren Betonung, daß jeder Grundriß nach
den Weltgegenden orientiert sein muß, teils der Genauigkeit halber,
teils um schnelle, sichere Bezeichnung seiner Bestandteile zu ermög¬
lichen. Das kann man nun natürlich mit jedem kleinen Taschen¬
kompaß, mit jedem Uhranhängselkompaß, im Notfall mit der Taschen¬
uhr machen, zwischen deren, der Sonne zugewendetem Stundenzeiger
und der Ziffer XII Süden gelegen ist.
Sehr viel sicherer und bequemer aber habe ich solche Orien¬
tierungen mit einem kleinen Instrument gemacht, das Dr. E. Mylius
in Leipzig erdacht und auf seinen Reiseyachten auf Kreuzfahrten zu
Peilzwecken verwendet hat.
Ich brachte es, nachdem ich es in gleicher Weise erprobt, aus
der Navigation in den Untersuchungsrichterdienst herüber und ver-
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220
XIII. Weinlich
änderte unter Beibehaltung des Prinzips nur die Ausführung ein
weniges.
Ich nahm einen gewöhnlichen, nicht zu kleinen Taschenkompaß
in quadratischer, hölzerner Fassung und brachte an dem Deckel innen
einen Spiegel an. Wenn nun der Deckel durch eine Spange im
Winkel von 45° gegen die Schwingungsebene der Nadel respektive
gegen die Ebene der Rose fixiert ist, so erscheint Rose und Nadel
im Spiegel senkrecht, und das Ablesen der Nadelstellung geht mit
Hilfe eines in der Mitte des vorderen Deckelrandes befindlichen
Visierknopfes sehr viel präziser, als wenn man über die Fläche der
Rose selbst mit oder ohne Visier hinweg„peilen tt muß, wobei der
Kompaß einer festen Unterlage bedarf und horizontal gestellt werden
muß, während sich die Horizontalstellung des obgedacbten Peil¬
kompasses in freier Hand dadurch von selbst ergibt, daß man einen
schwarzen Strich, der auf
das Deckelglas über der
Rose und Nadel gezogen
ist, mit der Vertikalen
eines über den Spiegel
gespannten Fadenkreuzes
(oder einer in den Spiegel
geritzten Vertikallinie) in
Deckung bringt.
Der Spiegel zeigt natür¬
lich Rose und Nadel ver¬
kehrt. Darum empfiehlt
es sich, der leichteren Ab¬
lesung halber der Nadel
Peilcompaß eine Rose in „Spiegel-
nach Dr. E. Mylius-Leipzig sc hrift tt unte rzulegen. Im
Spiegel zeigt dann die blau angelaufene Hälfte der Nadel nach Süden.
Wenn man sich das Apparatchen vom Mechaniker neuherstellen läßt
und nicht nur einen gewöhnlichen Kompaß adaptiert, so kann selbst¬
verständlich alles so eingerichtet werden, daß auch die Nadel im
Spiegel richtig, also mit der blauen Hälfte nach Nord zeigend,
erscheint.
Dieses sehr nützliche Instrument, mit dem man auf einem kleinen
Fahrzeug bei lebhaftem Seegang noch ganz genaue Peilungen machen
kann, eignet sich für uns ganz besonders auch für Horizontalwinkel¬
messungen, um z. B. die Längsachsen zweier im Winkel aneinander¬
stoßender Räume zu orientieren oder um zwei im Winkel zusammen-
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Über einige technische Behelfe der Untersuchungsrichter.
221
treffende Straßen, den Winkel, den zwei kreuzende Geleise, oder ein
Geleis und eine Fahrtrichtung mit einander einschließen, richtig dar¬
stellen zu können.
Die Kompaßrose im Gehäuse Die Kompaßrose im Spiegel
(Spiegelschrift)
Es dient weiter z. B. dazu, um die Winkel zu messen, die man
braucht, um die Entfernung eines Punktes zu erfahren, zu dem man
aus irgend einem Grunde nicht hingelangen kann.
Ich will wissen, wie weit b von a entfernt ist. Dazwischen be¬
findet sich ein Fluß, den ich nicht überschreiten kann, wohl aber
kann ich am Ufer auf und nieder gehen (s. Seite 222).
Ich werde mir zunächst nach links (im Beispiel der Einfachheit
halber rein westwärts) eine gerade Linie legen und diese mit Me߬
kette, oder wie weiter unten erwähnt durch geübtes Abschreiten, ab¬
messen. Am Endpunkte visiere ich mit dem Peilkompaß nach dem
Punkte b. Er „peilt“ N 40 0 0, der Winkel a ist also 50 °.
Archiv für Kriminalanthropologie. 29. Bd. 15
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222
XIII. Weikltch
Ich messe eine ebensolche Linie, rein Ost, auf, sagen wir, 60 ni.
Am Endpunkte peile ich wieder den Punkt b und finde seine Orien¬
tierung W 43 0 N. Der Winkel ß hat also 43 °.
Mit diesen Daten konstruiere ich — ohne alle Trigonometrie —
die Situation auf dem Papier, die Schenkel der Winkel a und ß
treffen sich in b, die Distanz a—b, auf dem Papier gemessen, ergibt
54 Meter.
Es läßt sich eine Menge der einfachen nautischen Peilmethoden
im Situationszeichnen zur Ortsbestimmung verwenden, da wir aber
dabei der Trigonometrie nicht wohl entraten können, so würde ihre
Erwähnung über den Rahmen meiner Anregungen, die möglichst
wenig Spezialkenntnisse voraussetzen möchten, hinausführen.
Die Winkelmessung mit dem Peilkompaß wird sich bei Fest¬
stellung und Darstellung von Sehfeldern bewähren. Die Grenzlinien
zeichne man möglichst genau mit roter Tinte in die Situationsskizze
ein, dann werden oft überraschende Resultate zu Tage kommen;
manche Verantwortung eines Motorführers oder Kutschers, er habe
das aus der Seitengasse herauskommende Gegenfuhrwerk absolut nicht
sehen können, zerfällt in nichts und wird zurückgezogen.
Auch zur genauen Feststellung des Winkels einer (nicht recht¬
winkeligen) Zimmer- oder Hausecke wird unser Instrumentchen —
an die Mauer angelegt — gute Dienste leisten. Speziell für solche
Zwecke ist es notwendig, daß der Kompaß in ein quadratisches Ge¬
häuse eingebaut ist, wie es der von mir adaptierte und benützte ist
Die Deviation können wir für unsere Zwecke unbeachtet lassen. Für
die Anlegung von Grundrissen, welche Straßenanlagen oder freies
Land darstellen sollen, also für die eigentliche Situationsskizze, haben
wir meist eine sichere Basis in dem käuflichen Stadt- oder Ortsplan,
beziehungsweise in der, allerdings erst im Grundbuchsamte aufzu¬
suchenden Katastralmappe.
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Über einige technische Behelfe cler Untersuchungsrichter.
223
Ohne Stadtplan kommt der Untersuchungsrichter in
der großen Stadt überhaupt nicht aus. Er kann nicht alle
ihre Gassen und Plätze kennen, in viele ist er noch gar nicht ge¬
kommen, er benötigt den Plan auch beim raschen Ausrücken,
um auf kürzestem Wege an den jeweiligen Tat- oder Unfallsort
gelangen zu können. Nun habe ich es sehr praktisch gefun¬
den, bei allen Fällen, in denen Straßen- und Platzverhältnisse irgend¬
wie in Frage kommen (also vor allem bei Verkehrsunfällen,
Aufläufen etc.), zugleich mit der ersten Ausschreibung der
Zeugenladung etc. mir eine einfache Situationsskizze der in
Frage kommenden Gegend aus dem Stadtplan (der etwa im Maßstabe
1:15000 ausgeführt sein wird) etwa lOfach vergrößert auf einen
halben Bogen Papier zu entwerfen. Die Vergrößerung geht mit einem
Lineal und Zirkel sehr leicht. Man zieht die Richtung einer Haupt¬
straße mit dem Lineal, das über den Plan und das seinen Seiten
parallel gelegte Papier geschoben wird, trägt die Straßenbreite, die
Strecke von einer Seitengasse zur nächsten mit dem Zirkel lOfach
auf und gliedert dann Seitengassen etc. in gleicher Weise an.
Wenn dann noch die Häuserblocks mit dem auf dem Schreibtisch
ja immer zur Hand befindlichen Rotstift umrändert, Parkanlagen,
Alleen etc. mit dem Blaustift notiert, ebenso Geleise, Kirchen, Monu¬
mente eingezeichnet sind, die Straßennamen und die Hauptrichtungen
(z. B. gegen Hernals, gegen innere Stadt), endlich das Windrosenkreuz
eingeschrieben sind, so hat man für sich und seine Parteien eine
prächtige Orientierung und Grundlage zum Erfassen der Situation
und zur zweckdienlichen Fragestellung. Je einfacher gemacht,
desto faßlicher. Die Zeit zu ihrer Herstellnng (minimal) macht sich
durch Zeitersparnis bei den weiteren Erhebungen bezahlt. Die Ver¬
größerung kann natürlich auch mittelst Storchschnabel gemacht werden.
Die von diesem reproduzierten Linien geraten aber, wenn man nicht
einen teuren metallenen Präzisionspantographen zur Verfügung hat,
etwas zitterig, auch benötigt man zur Ausführung ein Reißbrett, während
das Vergrößern mit Lineal und Zirkel auf und zwischen den Akten
ohne alle Vorbereitung, während man fragt, verhört und diktiert, vor
sich gehen kann. Für den Maler-Netzspiegel fehlt mir die praktische
Erfahrung. Es kommt wohl endlich nur darauf an, an der Hand
der Vorlage ein deutliches Situationsbild zu schaffen; der Eine wird
sich mit dieser, der andere mit jener Methode leichter helfen können.
Oft wird eine solche in camera caritatis gemachte Skizze, die
ja zunächst nur orientieren und die Fragestellung erleich¬
tern soll, genügen.
15*
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224
XIII. Weini.ich
Kommen genauere Maßbestimmungen in Frage und bandelt es
sich überhaupt um feinere Details und um die eigentliche Darstellung
der Situation, wie sie wirklich ist, so muß man allerdings an Ört
und Stelle gehen und die Skizze „reambulieren“. Eine Korrektur
nach der Natur wird aber wesentlich leichter sein, wenn
man schon eine Grundlage für die Planskizze in der
Vergrößerung aus dem Stadtplan hat, in die man die Ver¬
besserungen einnotiert, worauf man dann allenfalls die richtiggestellten
Linien „ins Reine“ kopiert (etwa durch Pausen oder alla finestra:
der Zweck heiligt die Mittel!).
Bei der „Reambulierung“ wird man Messungen nötig haben.
Für die meisten Fälle genügt das Abschreiten, wenn man vor¬
her seinen Schritt unter Beobachtung des Gefühls der Muskel¬
spannung von Fußmitte zu Fußmitte gemessen hat. Man
wird ca. 75 cm finden; die Schritte werden aber beim Aneinander¬
reihen größer (durch das Moment des mitschwingenden, vorwärts¬
drängenden Körpers von ca. 70 Kilo Gewicht). Man wird also
ca. 80 cm als Schrittlänge annehmen müssen, das ist aber indivi¬
duell und bedarf der vorherigen Beobachtung und Übung.
Ich selbst zog es vor, mir das Gefühl der Muskelspannung für
einen Meterschritt zu merken (es ist sehr charakteristisch,
fast ein Schmerz), dann kann man direkt Meter abschreiten,
während man sonst um rechnen muß. Die Meterschritte werden
beim Aneinanderreihen kleiner, vom 5. an etwa um 5 cm, eine Folge
der Ermüdung. Daher Anwendung: für kleinere Distanzen (bis
10—12 m) Meterschritte mit Muskelspannung, für größere:
SO cm-Schritte (ohne Anstrengung). Ein Vorteil des Abschreitens
liegt darin, daß man bei den Messungen keinen Gehilfen braucht
und kein Aufsehen erregt, welch’ letzteres im Großstadtdienst, selbst
wenn man die frühen Morgenstunden oder die Nachtstunden wählt,
bei Verwendung der Meßkette kaum zu vermeiden ist und daher die
Meldung beim Polizeikonimissariat, sowie die Assistenz eines Wach¬
organs nötig macht.
Vielfach kann man sich gleichbleibende Maße merken: Spur¬
weite der Straßenbahngeleise mit 1,2 m, geringster Zwischenraum
zwischen parallelen Geleisen: 1,2 m, die Entfernung der Gaskandelaber,
Telegraphenstangen, Leitungssäulen von einander, die Länge von
Waggons, Straßenbahnwagen nach Type etc.
Oft wird es sich darum handeln, ein Gefälle in Prozenten
messen zu sollen. (Verkehrsunfall.)
Ifat dieses in einer Gasse (mit Häusern) zu geschehen, so
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Über einige technische Behelfe der Untersuchungsrichter.
225
kann man als Konstante die Horizontale verwenden, die an den
Häusern, durch Risalite, Oberkante der Kellerfenster, Unterkante der
Parterrefenster etc. gegeben ist. Man mißt z. B. die Höhe des Risalits
bei Beginn des Gefälles über dem Erdboden (oft trifft eine solche
Horizontallinie am Hause mit dem sich senkenden Erdboden [Trottoir etc.]
ganz zusammen), schreitet dann z. B. 37 Schritte — 30 Meter auf
der sich senkenden Straße ab und mißt die Höhe des Risalits resp.
der betreffenden Horizontallinie über der Straße am Ende dieser
Strecke; dann konstruiert man auf dem Papier und berechnet:
auf 30 m hat sich die Straße um 6 m (7—l) gesenkt, also auf 100 m
um 20 m. Gefälle = 20 Prozent.
Zu den Messungen der Höhe der Horizontalen über der fallenden
Straße läßt sich, u m d a s
Aufsehen erregende
Messen mit Zoll¬
stab zu vermeiden, ein
Krückstock (Spazier¬
stock) mit eiserner
Spitze verwenden, in
den man sich einen
Maßstab in Zenti¬
metern mit dem
Federmesser ein¬
schneidet und den
man unauffällig an die
Hausmauer anhalten
kann.
Fehlt eine Hori¬
zontale am Haus oder ein solches überhaupt (freie Gegend)
so kann man denselben Stock als einfaches Nivellierinstrument
verwenden. In seiner Krücke ist — genau daheim gemessen
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226
XIII. Weislich
und kontrolliert — eine Schraube mit Linsenkopf und ein kleiner
Nagel eingelassen, so daß der Nagel mit dem Schlitz im Schrauben¬
kopf eine Horizontale bildet, wenn der Stock selbst senkrecht steht.
Letzteres wird durch ein an den Schraubenknopf angehängtes kleines
Lot (Faden mit Bleistückchen) erreicht.
So erhält man einen recht verläßlichen Traguardo. Den
Punkt, den man in der Horizontalen einvisiert, merkt man
sich entweder, wenn er markant genug ist, oder läßt ihn
durch einen Begleiter, eventuell an ihm selbst, wo dieser
dann selbst als Meßlatte dient, markieren. Dann mißt man
wieder: Höhe der Visiervorrichtung (90 cm), abgeschrittene Strecke,
Höhe des an visierten Punktes und konstruiert resp. berechnet wie
früher. Zu gleichem Zwecke dient der auch später zu besprechende
V ertikal Winkelmesser, den sich ebenfalls jedermann selbst machen
kann, worauf ich bei allen meinen Vorschlägen Gewicht lege.
In den Mittelpunkt einer Pappendeckelscheibe befestigt man einen
Faden mit Bleigewicht. Durchmesserartig ist auf die Pappscheibe
ein Pappendeckelstreifen aufgeklebt, dessen beiderseitige, quadratische
Enden im rechten Winkel aufgebogen sind und zentrale Visierlöcher
haben. Eine Kerbe am Rande der Scheibe, 90° von dem durch den
Pappstreifen markierten Durchmesser entfernt, gestattet ein Festlegen
des Lotfadens in einer Stellung, bei der die Visierlinie (durch die
beiden kleinen Öffnungen) horizontal ist.
Wenn nmn alle diese einfachen Vorrichtungen durch wiederholte
Kontrollversuche überprüft erhält, so kann man sich mit einer für
unsere Zwecke genügenden Sicherheit auf dieselben verlassen.
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I ber einige technische Behelfe (1er Untersuchungsrichter.
227
Bei Grundrissen von Innenräumen kann man sich, wenn nur die
Innensituation eines Raumes in Betracht kommt, die Andeutung der
Mauerdicke ersparen; Möbel im Grundriß zeichne man möglichst mit
ihrer wirklichen Kontur in der Vogelschau; also z. B. einen sogenanten
Klubfauteuil nicht nur so:
Fauteuil
sondern lieber mit etwas
mehr Aufmerksamkeit:
man kann nicht wissen, wozu
man es braucht! Handelt es sich um kompliziertere, zusammenhängende,
mehrfache Innenräume, so ist es praktisch, sich vom Hausbesitzer oder
seinem Stellvertreter den authentischen Hausplan auszuleihen. Man über¬
prüft ihn nach der Natur, damit man sicher sein kann, daß er dem
momentanen Zustande entspricht und paust ihn dann mit hartem
Bleistift auf Pausleinwand (in jeder Papierhandlung erhältlich)
durch.
Man zieht die Bleistiftlinien auf der Vorderseite der Leinwand
mit Tinte oder besser Tusche nach, wobei man schon einzelne Teile
oder Punkte, auf die es besonders ankommt, mit andersfarbiger Tinte
hervorheben kann.
Von der Rückseite her untermalt oder hintermalt man dann das
Mauerwerk mit recht kräftig aufgetragener roter Wasserfarbe (Zinnober),
Holzwerk etwa braun; man kann auch Flächenteile, die irgendwie
hervorgehoben werden sollen (z. B. den eingestürzten Teil eines
Hauses), von der Rückseite her durch Farbenauftrag, beispielsweise
blau kenntlich machen („lasieren“, wie die Planskizzen der Geometer).
Man hat da mit einem Schlage alle Maße und Distanzen authentisch
beisammen und kann dann den Plan durch beliebige Einzeichnungen,
Beschreibungen, Notizen erläutern und verdeutlichen. Eine Maßskala
und das Windrosenkreuz dürfen natürlich gleichwohl nicht vergessen
werden.
Eine treffliche Anleitung zum einwandfreien Situationszeichnen
im Terrain bieten (abgesehen von dem Handbuch des Herrn Professor
Groß) die Situationszeichnungsschule und die allgemeine praktische
Geometrie von Oberst von Reitzner (Wien bei Seidel & Sohn).
Aus der Grundbuchsmappe muß man immer auf Pausleinwand
abpausen.
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228
XIII. Weinlich
Bei Aufrissen möge sich der Nichtzeichner auf Darstellungen
in der rein theoretischen senkrechten Projektion, ohne alle Rücksicht
anf Perspektive, beschränken. Solche, die also eigentlich auch nur
ein senkrecht gestellter Grundriß sind, wird er aber vielfach, zumal
mit Hilfe von Dr. Ehmer’s Millimeterpapier, ganz leicht zustande
bringen, z. B. Hausfassaden.
Da werden zu den Messungen in der horizontalen Ebene Höhen-
messungen hinzukommen. Kann man auf die betreffende Höhe
hinaufgelangen, so wird man sie wohl am einfachsten mit einer ge¬
wöhnlichen Fadenspule, die man von oben herabläßt, oder von der
man den mit einem Steinchen beschwerten Faden abrollen läßt, messen
können. Man schneidet den Faden ab und mißt ihn mit dem Zenti¬
meterstab.
Kann oder will man nicht in die Höhe hinauf (ein eben teil¬
weise eingestürztes Baugerüst ist manchmal selbst für einen sehr
ambitionierten Untersuchungsrichter nicht ganz praktikabel), so
braucht manVer-
z x tikal - Winkel-
messungen.
^ ~ Der Fachmann
hat dazu natür-
x' lieh feine Präzi-
x' sionsapparate.—
,x Für unsere
Zwecke, wo es
auf eine, (erfah¬
rungsgemäß) 50
x.-,\ cm nicht über-
y.i -. _. i. - - steigende Fehler-
yj grenze kaum an-
—J--- a kommen wird, ge¬
nügt der oben
beim Gefällemessen erwähnte Winkelmesser (Pappscheibe mit Visier
und Lot). Wer trigonometrische Methoden aus der Schulzeit ver¬
gessen hat und sie nicht wieder nachlernen will, kann eine Höhe
gleichwohl in der Weise messen, daß er sich vom Fuße der betreffenden
Höhe (Hausmauer etc.) eine Basislinie möglichst genau abmißt oder
abschreitet, an ihrem Endpunkte den Höhenpunkt mit dem Winkel¬
messer anvisiert, und die Lage des Lotfadens an der Pappscheibe
dadurch fixiert, daß er ihn mit dem Finger festhält und längs des¬
selben mit Bleistift eine Linie auf der Scheibe zieht. Den Winkel,
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Über einige technische Behelfe der Untersuchungsrichter.
229
den die Visierlinie mit der Bleistiftlinie einschließt, mißt man mit
einem durchsichtigen Transporteur. Dann konstruiert man auf dem
Papier, unter Bedachtnahme auf die ein für alle mal gemessene eigene
Augenhöhe (z. B. 1,70 m). Das nebenstehende Beispiel wird zeigen,
wie es gemeint ist
Ich will wissen, wie hoch c über der Erde a—b ist. Nach Ab¬
messung der Basislinie a—b mit 20 Meter habe ich von b aus den
Punkt c (den Winkelmesser in der Augenhöhe b—d = 1,7 Meter
haltend) anvisiert Der Winkel « ergibt sich mit 125 0 oder ß mit 35°.
Ich konstruiere die Zeichnung mit diesen Daten auf dem Papier, der
aufsteigende Winkelschenkel schneidet die Höhenlinie in c. a—c auf
dem Papier nach der zu Grunde gelegten Skala nachgemessen, ergibt
16,5 Meter. *
In gleicher Weise konstruiert und mißt man, wenn die Länge
c—d in Frage kommt; das wäre der Fall, wenn z. B. jemand von
c aus auf einen in b stehenden Menschen geschossen und diesen in
den Kopf getroffen hätte, die Schießsachverständigen aber die Schu߬
distanz wissen möchten. Natürlich kann da (und es wird besser sein)
der Winkel / von c aus gemessen werden, wobei man die Stellung
des Schießenden annehmen und (so wie dieser mit der Schußwaffe)
mit dem Winkelmesser auf den Kopf einer in b stehenden Person
zielen kann. Die Konstruktion und Messung ist dann mutati3 mutandis
die gleiche wie früher.
Mit perspektivischen Darstellungen nach der Natur plage man
sich nicht, auch wenn man sich die dazu nötige Fertigkeit zutraut.
Auch von sehr geübter Hand entworfene derlei Skizzen machen (wenn
wir unsere Zwecke im Auge haben) nur allzu leicht den Eindruck,
daß sie mehr auf Schönheit und Bildwirkung als auf Sachlichkeit
aspirieren, namentlich auch, weil es nicht leicht möglich ist, genaue
Maße einzuhalten, wie dieses bei Grundriß und Aufriß selbstverständlich
ist Man hat kein rechtes Vertrauen zu ihnen.
In solchen Fällen hat die Photographie einzutreten.
Nun noch ein Wort über diese. Ich möchte vom modernen
Untersuchungsrichter direkt verlangen, daß er die Photographie
wenigstens im Rahmen des bescheidensten Amateurtums beherrscht.
Das ist heutzutage weder ein Luxus noch eine Kunst, für unsere
Zwecke genügen nämlich billige Apparate. Da Momentaufnahmen
bewegter Objekte nicht leicht notwendig sein werden, so kann man
das, was allenfalls bei schlechten Lichtverhältnissen (trübes Wetter,
Winterszeit, Innenräume) dem billigen Objektiv an Lichtstärke abgeht,
durch Verlängerung der Zeitaufnahme um ein paar Sekunden ein-
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230
XIII. Weislich
bringen. Das lichtstarkere Objektiv ist aber das Kriterium für den
Preis des Apparates. Bei gutem Sonnenlicht sind auch die billigsten
* modernen Kameras für normale Momentaufnahmen den teuersten
praktisch gleichwertig. — Bei der ungeheuren Konkurrenz wird zwischen
den Fabrikaten der verschiedenen Firmen kein wesentlicher Unterschied
bestehen. Natürlich hat jeder Amateur sein Lieblingssystem, an das
er gewöhnt ist.
Die Frage des Stativs, die bei obgedachter Häufigkeit der Zeit¬
aufnahmen sehr zu erwägen ist, löst sich leicht dadurch, daß man
wenn man sich kein teures Teleskopröhrenstativ oder ein bequemes
Stockstativ gönnen, andererseits die schweren Holzstative nicht mit¬
schleppen will, immerhin einen Tisch, eine Etagfcre oder dergleichen
als Unterstützung verwenden kann, wenn man den Apparat ganz an
den Band der Unterlagsfläche rückt (sonst kommt der Tischrand ins
Bild!) und den Apparat während der Belichtung fest niederdrückt.
Dazu eignen sich natürlich Kastenapparate mit ihrer großen, gleich¬
mäßigen Unterfläche (die alten Magazinkameras, Bulls-Eye-Kamera etc.)
besser als die Klappapparate, auch wenn letztere eine aufschlagbare
Stütze unterm Objektivteil haben.
Ich spreche hier wohl nur von Handapparaten mit Format 9x9 oder
9x12 cm. Größere Formate werden für den Amateur alsbald unhandlich.
Die Frage, ob Glasplatte oder Film, möchte ich, obwohl ich ein
treuer Anhänger der verläßlichen, dauerhaften Platte bin, für Unter¬
suchungsrichterzwecke doch zu Gunsten der modernen Filmspulen
entscheiden. Die Möglichkeit, ohne Dunkelkammer „wechseln“ zu
können, ist mindestens ebenso unschätzbar als die Unzerbrechlichkeit
und Leichtigkeit, dann kommt aber noch der Umstand hinzu, daß
man das Filmnegativ, z. B. für den Fall, daß rasch angefertigte, nicht
genügend gewaschene Kopien bald vergilben sollten, zu den Akten
legen kann, da es ein papierdünnes, unzerbrechliches Blatt ist. Die
Unverläßlichkeit bezüglich Empfindlichkeit und gelegentlicher Un¬
ebenheit der Aufnahmsfläche wird minder fühlbar werden, denn wir
wollen ja keine „schönen“ Bilder machen.
Entwickelungs- und Positivprozeß mache man möglichst selbst.
Es geht rascher, billiger, sicherer, nur der Aufnehmende weiß zu-
verläßig, wie viel und unter welchen Umständen belichtet worden
ist und wie daher der Entwickler zu wählen ist, und schließlich, es
ist ein großer Genuß.
Die notwendigen Chemikalien sind, wenn man sich auf den
normalen Vorgang beschränkt, so harmlos, daß man auf seinem
Schreibtisch, in jedem Zimmer entwickeln kann, wenn man sich die
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Über einige technische Behelfe der Untersuchungsrichter.
231
Dunkelkammerarbeit auf die Abend- und Nachtstunden aufbebt, zu
denen wohl jeder Raum durch Jalousien oder Vorhänge vor dem
Eindringen des spärlichen Straßenlichtes geschützt werden kann. —
Halbwegs frische Entwickler und Fixierbäder funktionieren so rasch,
daß man die Dunkelkammerarbeit auf Minuten einschränken kann.
Das folgende Wässern kann neben irgend einer anderen häuslichen
Beschäftigung weiterbetrieben werden. Beispiel: Aufnahme während
der Mittagspause, Entwickeln und Fixieren von 8—’/29 Uhr abends,
Waschen (mit viertelstündlichem Wasserwechsel) bis V 2 II Uhr. Über
Nacht ist das Negativ trocken. Kopieren um V 28 früh, wird samt
Tonfixage bis 8 Uhr fertig sein. Nun ist das Bild nur noch zu
laschen, ein Geschäft, das zur Not bei oftmaligem Wasserwechsel
oder in fließendem Wasser in einer Stunde besorgt ist, und nun ist
das zwischen Fließpapier abgetrocknete Positiv schon für alle Zwecke,
wenn auch vielleicht nicht für die Ewigkeit verwendbar. Da sehe
ich ganz von den Kodakschen Tageslichtentwicklern und dem Kopieren
vom nassen Negativ auf Entwickelungspapier ab. Ich vermeine,
daß der intelligente, seinen Fall kennende Untersuchungsrichter ebenso,
wie er eine bessere, d. h. brauchbarere Maschinenskizze herstellen
kann, auch zweckdienlichere photographische Aufnahmen machen
wird, als dies der Fachmann für unsere Zwecke vermag, denn der Unter¬
suchungsrichter wird das Essentielle, für den konkreten Fall Not¬
wendige aus der Menge des Überflüssigen herauszuschälen wissen.
Auch kann nur derjenige, der selbst schon photographische Fiaskos
erlebt hat, beurteilen, was man der Photographie zumuten darf.
Man hüte sich im allgemeinen vor Überschätzung der Photo¬
graphie und ihrer Anwendbarkeit.
Sie bringt durchaus nicht immer das absolute „Ding an sich“.
Vor allem bringt sie alles, was im Seehfeld ist, und das ist, so
notwendig es manchmal sein mag, doch oft verwirrend; dann kommen
die kolossalen Perspektiverzerrungen in Betracht (Nähe unmäßig ver¬
größert, Ferne unnatürlich verkleinert). Endlich gibt sie unrichtige
Farben- und Helligkeitswerte, wenn man nicht orthochromatische Platten
verwendet. Nach meiner Erfahrung ist eine vernünftige, klare Situ¬
ationsskizze in Grundriß und Aufriß meist oder doch oft instruktiver
und einer Photographie vorzuziehen. Eventuell kann man aus einer
Photographie einzelne wichtige Teile herauspausen und so im Zu¬
sammenhalte mit dem Gesamtbilde verdeutlichen.
Zu den Fällen in denen die Photographie geboten ist, gehört
unter anderem, wenn man nachweisen muß, daß von einem Punkte
ein bestimmter anderer Punkt unzweifelhaft zu sehen ist.
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232
XIII. Wkinlioi
Sehr nützlich kann die selbst ausgeübte Photographie im Bureau
zu Agnoszierungszwecken angewendet werden, wenn man z. B. Be¬
schuldigten, gegen die man irgend Rücksicht zu üben hat, das Peinliche
der offiziellen Photographie im anthropometrischen Amte ersparen
will. Es geht mit dem bereits vorbereiteten Apparat so überraschend
schnell nnd schmerzlos, daß eine Verweigerung oder ein Versager
kaum zu gewärtigen ist Aufnahme en face und en profil. Bei
ersterer wird die vom Fenster abgewandte Gesichtshälfte durch ein,
z. B. vom Schriftführer vorgehaltenes Blatt Papier als Lichtreflektor
aufgehellt
Wenn irgend zweckdienlich, photographiere man immer einen
Meterstab mit, um Nachmessungen und dergleichen zu ermögliche!!.
Dieser ist natürlich nur für die Ebene in der er steht von richtiger
Geltung, es müssen also eventuell mehrere Maßstäbe in verschiedenen
Abständen aufgestellt werden. Da der meist gelbe Zentimeterstab
bei Anwendung gewöhnlicher Platten oder Films im Bilde schwarz
„kommt“, ist auf die richtige Wahl seines Hintergrundes zu achten,
sonst sieht man ihn gelegentlich auf dem Bilde nicht.
Große Gesammtansichten werden wohl besser durch den Berufs¬
photographen gemacht, da dieser über große Bildformate verfügt. —
Der Untersuchungsrichter mag ihn bei der Aufstellung des Apparates
leiten.
Dann mache man sich aber seine kleinen Detailaufnahmen selbst;
mit dem kleinen, leichten Handapparat kann man beliebig klettern und
kriechen und sich sein Plätzchen im Bedarfsfälle auf einer schwankenden
Gerüstleiter in der Höhe eines vierten Stockwerks suchen.
Für kompliziertere Aufgaben brauche ich wohl nicht erst an das
Paulsche Handbuch zu erinnern.
Zur Versinnbildlichung wird man wohl gelegentlich auch zur
Plastik greifen. Man lasse sich nicht durch das überlegene Lächeln
so mancher Fachgenossen von solchen vermeintlichen Spielereien
abhalten.
Um den Zweck der Verdeutlichung zu erreichen, darf kein
erlaubtes Mittel unversucht gelassen werden. — Wer es zu Wege
bringt, durch einige in Wachs oder Ton gebosselte Figürchen (die freilich
manchem als ein des Juristen unwürdiges Kinderspielzeug erscheinen
werden) ein wesentliches Detail eines Raufhandels so darzustellen, daß
alle Beteiligten die Richtigkeit anerkennen und damit der Staatsanwalt¬
schaft oder dem erkennenden Gericht eine augenscheinliche Basis zur Ein¬
stellung oder Anklage beziehungsweise zum Freispruch oder zur
Verurteilung geboten wird, bat sich mit dieser Spielerei gewiß nicht
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Über einige technische Behelfe der . Untersuchungsrichter.
233
lächerlich gemacht; er ist wahrscheinlich rascher zum Ziele gekommen
und hat eine sicherere Grundlage zur Entscheidung geschaffen, als der
Kollege, der über denselben Vorfall zahlreiche Bogen wortreicher
Protokolle diktiert hat.
So handelte es sich mir einmal darum, bei einem Kanaleinsturz
den italienischen Ar¬
beitern die Frage
begreiflich zu
machen, ob die Erd¬
zunge zwischen zwei
im Winkel zusam¬
menstoßenden Ka¬
nälen vor dem Zu- '
sammenbruch „ puntato“
In letzterem Falle konnte sie nämlich durch Bretterverschalung
und „Steher“ versichert gewesen sein. Die Leute verstanden mich
erst, als ich, der Kinderzeit gedenkend, zwei kleine Kartonagemodelle
nach den Schnittmustern:
anfertigte, die zusammengeklebt die spitze und die stumpfe Erdzunge
darstellten.
Ich wählte das Kartonmodell anstatt des Tons oder einer andern
plastischen Masse, da ersteres zusammengefaltet, dem Akte ange¬
schlossen werden konnte.
Wie nützlich und aufklärend, namentlich auch für den Staats¬
anwalt, es wirkt, wenn der Untersuchungsrichter sich sobald als möglich
eine Situation selbst anschaut, das Erschaute aber graphisch festzu-
halten sucht, beweist ein Beispiel, welches ich aus Hunderten aus¬
wähle und mit dem Ersuchen vortrage, entschuldigen zu wollen, daß
ich zu diesem Zwecke wieder auf die eigne Praxis zurückgreifen muß.
Beim Bäckerstreik in Wien im Frühjahr 1907 wurde mir ein
junger Bursche eingeliefert, welcher klipp und klar gestand: „Ich habe
durch das Auslagefenster eines Bäckerladens, durch das ich im
erleuchteten Lokale Menschen sah, einen sehr großen Stein geworfen“.
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234
XIII. Weislich
Also klarer Tatbestand des Verbrechens der öffentlichen Gewalt¬
tätigkeit nach § 85 b des österreichischen Strafgesetzes.
„Aber“ setzte er hinzu, „es war eine Mauer dazwischen“.
Da in ei ne Intellegenz nicht ausreichte um das zu verstehen, die
Intelligenz meines Häftlings aber nicht genügte, um ihm eine nähere
Aufklärung zu ermöglichen, so machte ich am Abend auf dem Heim¬
wege aus dem Bureau einen kleinen Umweg zum Tatort (die meisten
der eingangs gedachten nicht offiziellen Lokalaugenscheine lassen sich
mit solchen gesundheitsförderlichen Spaziergängen verbinden) und
sah mir die Situation an. Da fand ich folgendes:
Der Bäckerladen hatte ein Auslagefenster und eine Thür gleicher
Breite. Letztere war zur Zeit der Tat mit einem Rollbalken geschlossen,
kam also nicht in Betracht. Das Auslagfenster zeigte ein großes
Loch in der Scheibe. In das erleuchtete Lokal konnte man trefflich
hineinsehen, aber die vom Beschuldigten erwähnte Mauer war auch
da, und zwar nicht, wie ich vermutet hatte, als Mauerbank, über
die man hinwegsehen konnte, sondern als Mauerpfeiler a c f e des
Grundrisses, neben dem (zwischen a und b) man in’s Lokal hinein¬
schauen konnte.
Der Zwischenraum zwischen a und b respektive c und d war
einerseits zu schmal um den großen Stein, auch wenn er gerade
dort aufgetroffen wäre, zwischen a und b und durch die zweite
Scheibe bei c und d ungehindert durchzulassen, andererseits befand
sich aber die „Einschußöffnung“, die der Werfende bei der kurzen
Wurfdistanz (Trottoirbreite) sicher auswählen konnte, gerade vor dem
Mauerpfeiler, an dessen Fuß auch der Stein gefunden worden war.
Es hatten also sowohl die Anzeige als der Beschuldigte recht gehabt.
Aber eine Gefährdung war ausgeschlossen. Eine kleine Skizze —
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Über einige technische Behelfe der Untersuchungsrichter. 235
und andern Tags war mein Bäckergehilfe auf freiem Fuß und der
Akt wurde wegen Übertretung der Sachbeschädigung und des
Koalitionsgesetzes dem Bezirksgericht abgetreten.
Es sei mir gestattet, noch einer Vorrichtung zu erwähnen, die
allerdings nur als Hilfsmittel fiir den Untersuchungsrichterdienst in
den Rahmen dieser Auseinandersetzungen eingefügt werden darf.
Bei Kindesmordunter8ucbungen hören wir erfahrungsgemäß sehr
oft folgende Verantwortung:
Die Verdächtige, deren Kind im Hauskanal gefunden wurde,
erzählt, sie habe, ohne ihre Entbindung so nahe zu glauben, Stuhl¬
drang gefühlt, sei auf den Abort gegangen, dort sei ihr ein großer
Körper abgegangen, sie habe bei Leibe nicht an dem Zug, der die
Schalenklappe öffnet, gezogen, oder gar das Kind dnrchgequetscht,
vielmehr sei, als sie aufstand und in die Abortschale hineinschaute,
nichts zu sehen gewesen. Das Kind müsse also selbst die Klappe
durch sein Gewicht geöffnet haben und durchgefallen sein. Vom
medizinischen Standpunkt ist die Sache, unter der Voraussetzung des
Zerreißens der Nabelschnur, nicht so ohne weiteres von der Hand
zu weisen.
Ich muß vorausschicken,
daß in den Vorstadthäusern
von Wien meistens soge¬
nannte altartige englische — =
Aborte in Gebrauch sind.
Die trichterförmige Schale
wird unten durch eine runde offen
Klappe gesöblossen, die durch
eine Zugstange vom Sitzbrett
aus geöffnet werden kann,
wobei gleichzeitig die Wasser-
spülung betätigt wird.
Um die Verantwortung der Beschuldigten zu prüfen, muß nun
zunächst der Durchmesser und Umfang der unteren Schalenöffnung
gemessen werden (mit Zirkel) und das Maß mit den größten Kindes¬
kopfmaßen (aus dem Obduktions- oder gerichtsärztlichen Untersuchungs¬
protokoll) verglichen werden. — Diesbezüglich stimmt die Sache
meistens, der Durchmesser der unteren Schalenöffnung ist meistens
11—12 cm und ist genügend groß, um den Kindeskopf und damit
auch den übrigen Kindeskörper durchzulassen. Nun gilt es den
Kindeskörper und sein Verhalten in der Schale nachzuahmen. Zu
diesem Zwecke habe ich aus einer Bleiplatte einen unten geschlossenen
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236
XIII. Weislich
Hohlzylinder zusammengeklopft, der durch Abschneiden auf das
Gewicht von 1900 Gramm gebracht wurde, das mir von den Gerichts*
ärzten angebene Minimalgewicht einer lebensfähigen Neugeburt. Das
genaue Kindesgewicht im konkreten Falle wird durch Hineinlegen
von Gewichten hergestellt.
Der Hohlzylinder hängt an einer starken Schnur. Damit kann
man das Kind in der Abortschale, wenigstens in den für die Unter¬
suchung entscheidenden Extremen nachahmcn. Man stellt zuerst den
Zylinder frei auf die geschlossene Abortklappe. (Schnur in der Hand.)
Es kommt vor, daß das Gegengewicht der Klappe so gering ist,
daß sich die Klappe ganz öffnet, und unser Zylinder frei durchfällt.
Die Verantwortung kann nicht widerlegt werden. — Gewöhnlich
rührt sich die Klappe nicht Nun läßt man den Zylinder an der
Schnur längs der Topfwand hinabgleiten
(so wie das Kind aus dem Mutterleib austritt)
und auf der dem Scharnier entgegengesetzten
Seite der Klappe auffallen.
Gewöhnlich rührt sich die Klappe nicht,
trotzdem der glatte Metallzylinder doch
sicherlich nicht die Adhäsionsfähigkeit des
feuchten, weichen Kinderkörpers hat. Geht
aber die Klappe doch auf und kann das
Gewicht frei durch, so wird eine Anklage
schon ihre Schwierigkeiten haben.
Nun nimmt man den äußersten, unwahr¬
scheinlichsten Fall, man läßt den Zylinder
aus der Höhe des Sitzbrettes rfei auf die
Klappe herabfallen. (Schnur mit Lose in
der Hand haltend.) Schlägt er die Klappe
ganz auf, so wird der Beschuldigten noch
immer geglaubt werden können.
In den meisten Fällen wird sich aber die Klappe wohl ein weniges
rühren, von einem freien Durchfallen des Zylinders ist aber keine
Rede, und damit ist die Verantwortung als unrichtig erwiesen.
Bei ganz offenen Aborten, oder neuartigen Syphonretiraden ist
die Vorrichtung natürlich unverwendbar.
Nur schlagwortweise möchte ich erwähnen, wie notwendig es
für den modernen Untersuchungsrichter ist, das Automobil und die
elektrische Straßenbahn theoretisch und praktisch zu kennen.
Die Direktion der städtischen Straßenbahnen in Wien gewährt
in dankenswerter Weise die Möglichkeit, die Konstruktion und den
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Über einige technische Behelfe für Untersuchungsrichter.
237
Betrieb ihrer Motorwagen in praktischen Demonstrationen und Ver¬
suchen kennen zu lernen.
Höchst wünschenswert wäre es, wenn eine solche praktische
Schulung der Untersuchungsrichter auch für die gangbarsten Automobil¬
typen ermöglicht werden könnte. — Nur dann, wenn der Staatsanwalt
und der Richter selbst erfahren haben, wie überaus manövrierfähig
dieses Vehikel ist, wie viel Leichtsinn und Unverstand seitens der
Fahrer und seitens der Passanten und Gegenfahrer notwendig sind, um
einen Unfall herbeizuführen, wie schwerwiegend aber auch andererseits
unter Umständen die diesen Maschinen noch anhaftenden Mängel
sind, dann erst werden Fehlurteile in Automobilangelegenheiten nicht
häufiger Vorkommen als auf andern Gebieten, die der richterlichen
Kognition unterstehen.
Und noch zum Schluß eine Kleinigkeit, aber was ist im Unter¬
suchungsrichterdienst eine Kleinigkeit?
Jahrelang quälten wir uns auf auswärtigen Kommissionen mit
den Taschentintenzeugen. — Ich habe alle erreichbaren Systeme durch¬
probiert und landete schließlich — bei einem gewöhnlichen Glasfläschchen
mit Korkstöpsel in einer Blech hülse, denn keiner der Verschlüsse der
Taschentintenzeuge hielt auf die Dauer.
Nun,* diese Misöre ist endgültig vorüber, seitdem man billige und
brauchbare Füllfedern bekommt.
Ich will resümieren: Wir haben es mit dem realen Leben zu tun;
darum hinaus, und das reale Leben auch wirklich selbst angeschaut!
Man darf aber die Schilderungskraft des Wortes und die Auf¬
fassungsfähigkeit der Menschheit nicht überschätzen, darum möglichst
deutliche Versinnbildlichung, ausgedehnteste Anwendung der Graphik
im weitesten Sinne.
Alles aber, was ich vorgebracht habe, bat nur den Zweck, die
Findung der möglichst absoluten objektiven Wahrheit zu vereinfachen
und zu beschleunigen, sei es, um einen Schuldigen, wenn es schon
nicht anders sein kann, möglichst schnell und auf möglichst sicherer
Basis seiner Strafe zu überweisen, sei es, und das halte ich für den
vornehmeren Teil unserer Aufgabe, einen bloß Verdächtigten möglichst
bald außer Verfolgung setzen zu können.
Archiv für Kriminalanthropologie, 29. Bd.
1 ß
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XIV.
Zur Frage der Zeugenwahrnehmung.
Zwei Fälle aus der Praxis.
Mitgeteilt vom
Dr. Adolf Iiedenig, Graz.
Die Zahl der Fälle, in welchen der Beweis der Unschuld oder
Schuld des Verdächtigten lediglich auf der Basis der sogenannten
Realien erfolgen kann, ist eine äußerst geringe. Meist ist die
Grundlage für die Beurteilung die Aussage, sei es die des Be¬
schuldigten, sei es die von Zeugen. Längere Zeit brauchte es,
bis man zur Überzeugung gelangte, daß gerade diese Beweismittel
mit äußerster Vorsicht zu behandeln sind. Vielfach noch wird auch
kritiklos der Aussage von Zeugen, die ja unter Wahrheitspflicht
erfolgt, mehr Glaube beigemessen, als der des Beschuldigten, ohne
daß jene Umstände in Rechnung gezogen wurden, die bei bester
Absicht zur Wahrheitsangabe die Zeugenaussagen beeinflussen. Die
neuere Zeit hat auch auf diesem Gebiete mit den Methoden wissen¬
schaftlicher Forschung eingesetzt und das Experiment zur Grundlage
gemacht, aus welcher allgemeine Gesetze abgeleitet werden sollen.
Allein auch beim Experimente dürfte mit Fehlerquellen zu rechnen
sein, die einer Verallgemeinerung im Schlüsse hinderlich zu sein ge¬
eignet sind, und es wird daher vielleicht nicht unwillkommen sein
wenn auch Fälle aus der Praxis mitgeteilt werden, die gerade auf
dem Gebiete der Wertung von Aussagen Interesse erwecken können*
I.
Am 8. Dezember 19 .. nachmittags gegen 4 Uhr wurde ein
Mädchen, Hermine K., von einem jungen Manne, Ferdinand M., kurz
vor Beginn eines Konzertes erschossen. Der Täter, ein gewesener
Offizier, der nach Verlust seiner Charge sich den Lebensunterhalt
durch Ausnützung seiner musikalischen und literarischen Fähigkeiten
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Zur Frage der Zeugenwahrnehmung.
239
verschafft hatte, wurde sogleich nach der Tat verhaftet und dem
Gerichte eingeliefert.
Der Vorfall spielte sich in einer Konzerthalle ab und zwar in
einem vom Hauptsaale durch eine Barriere geschiedenen Vorraume,
der dem Orchester gegenüber liegt Zwei Türen, die gleichfalls dem
Orchester gegenüberstehen, vermitteln den Zutritt zu diesem Vorraume,
der rechts und links von breiten Bogengängen flankiert wird. Sieben
Stuhlreihen stehen in diesem Raume, jede zu zwanzig Sitzen. Diese
Reihen werden durch einen in der Richtung gegen das Orchester
führenden Mittelgang in eine rechte und linke Hälfte geteilt. Bei
Vornahme des Augenscheines wurde ein breiter Blutstreifen vorge¬
funden, der sich von der fünften Stuhlreihe (gezählt vom Orchester
gegen den Ausgang zu) und zwar vom zweiten und dritten Stuhle
rechts vom Mittelgange aus gerechnet gegen die rechte Türe zu
hinzog.
Rechts und links wird hier und im folgenden stets im Sinne
eines von dem Eingänge gegen das Orchester zu Schauenden gebraucht.
Ein Projektil wurde im Hauptsaale an einer Stelle vorgefunden,
wohin es offenbar durch Kleider von Konzertbesuchern verschleppt
worden war.
Die zur Tat benutzte Waffe war ein 9 mm Revolver, in dessen
Trommel sechs Patronen steckten, wovon zwei ausgeschossen waren.
An der Getöteten fand man an der rechten Schläfe eine Schu߬
wunde. Die Leichenöffnung ergab, daß das Projektil welches auch
vorgefunden wurde, das Gehirn in [fast horizontaler Richtung mit
einer kleinen Neigung nach oben durchdrungen batte. Der Schuß
muß aus unmittelbarer Nähe abgefeuert worden sein, da seine Wirkung
eine enorme war und das Schädelgewölbe zertrümmert hatte.
Soweit die objektiven Feststellungen. — Der Täter selbst gab
bei seiner am folgenden Tage vorgenommenen Vernehmung nach¬
stehendes an. — Die auf die Vorgeschichte der Tat und seine
persönlichen Verhältnisse bezüglichen Angaben werden, obwohl sie
für die Beurteilung der Person des Täters und seiner Handlung von
höchstem Interesse sind, an dieser Stelle nicht berührt.
„Am Donnerstag, den 8. Dezember 19 .., war ich in der Konzert¬
halle. Ich wußte von der Hausmeisterin und einem Bekannten, daß
Hermine K. jedesmal, wenn konzertiert wird, hingehe. Diesmal aber
nahm ich an, sie werde nicht hingehen, sich denkend, daß ich sie
erwarten könnte. Ich ging hin, um mir die Zeit zu vertreiben und
in der schwachen Hoffnung, sie doch zu treffen. Sie kam zu meiner
Überraschung, süßer, schöner als je, strahlend im Lichte. Ich schnappte
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240
XIV. Ledenig
nach Loft, ich habe die Hände ans Herz legen müssen, so hat mich
ihr Anblick aufgeregt,
Infolge Zwischenfrage berichte ich folgendes:
Den Revolver kaufte ich mir Montags oder Dienstags vor der
Tat um acht Gulden. Ich vereinbarte mit dem Händler, daß ich
ihn auf der Schießstätte probieren könne und ihn, falls er nicht tauge
ihm mit einer Preisdifferenz von 60 Kreuzern zurückverkaufen dürfe.
Ich sagte, daß ich die Waffe für eine Reise nach Paris brauche.
Gleichzeitig kaufte ich sechs Patronen.
Der Besitz dieser Waffe hat mich gewissermaßen getröstet; ich
dachte mir, wenn kein psychisches Mittel mehr hilft, so habe ich
noch ein Auskunftsmittel, in welcher Art, war mir jedoch nicht recht
klar. Ich hoffte noch, aus dieser Revolverstimmung herauszukommen
und mich mit Hermine zu verständigen. Dann hatte ich auch erfahren,
mit welchem Herrn sie hier verkehre, beabsichtigte, zu ihm zu gehen
und ihm das Vergnügen einer Eheschließung zu rauben. Für diesen
Fall sollte der Revolver zur Notwehr dienen. In der
Konzertballe sah ich sie, wie sie durch eine ziemlich leere Sessel¬
reihe hindurchging. Am Ende setzte sie sich nieder. Neben ihr,
rechts, war ein Sessel leer. langsam näherte ich mich, mit einem
Lächeln, das bittend gemeint war; flehentlich habe ich sie angeschaut.
Dann habe ich den Hut sehr tief gezogen, so daß andere nicht be¬
merken mußten, daß ich grüße. Ich setzte mich rechts von ihr
nieder und dachte mir, gönne mir nur ein paar Augenblicke, die
Luft neben dir einzuatmen. Aber laut sprach ich kein Wort —
Das war vielleicht ein Fehler, ich hatte es zarter machen sollen,
durch einen Dritten fragen lassen sollen, ob es gestattet sei, sich
neben sie zu setzen. Sie blieb sitzen. Dann wandte sie sich, nach¬
dem sie scheinbar mit einem Entschlüsse gekämpft hatte, ihrer links
sitzenden Mutter zu, so daß sie mir nur das Viertelprofil zukehrte.
Dann stand sie auf, wie um zu gehen; jetzt stand auch ich auf;
es wurde mir schwarz vor den Augen, ich zog den Revolver aus der
rechten Überziehertasche und ich schoß. Ich bin nicht in der Absicht
hingegangen, sie zu töten. Ich wollte mich mit ihr unterhalten.
Allerdings konnte ich nur wenig hoffen, daß sie sich freundschaftlich
zu mir stellen werde.
Ob ich die Absicht hatte sie zu töten? Auch diese Frage muß
ich sagen — ich glaube nein. Ich glaube nicht, daß ich die Absicht
hatte sie zu töten, denn das Gefühl eines Menschen der seinen Willen
durchgesetzt hat, hatte i?h nach der Tat nicht. Ich habe die Leute
gleich beschworen mir zu sagen, ob sie noch lebe, da ich es ja
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Zur Frage der Zeugenwahrnelimung.
241
wünschte, wie ich es jetzt nur wünsche — und doch wollte ich mich
auch rächen. Etwas Vergeltungswut habe ich mir aufgespart für
alles Leid.
Ich habe von unten herauf geschossen, die schlechteste Art, weil
infolge des Rückschlages der Revolver ganz aufwärts schlägt. Ich
habe nicht gesehen, wohin ich getroffen habe. Sie sah mich noch
an und rief: Ach Gott! Sie ist zur Seite gefallen und ich dachte
mir jetzt: Um Gotteswillen, sie fällt jetzt um, was ist geschehen?
Ich wollte sie nicht sehen. Ich wußte, jetzt bist du dem Gerichte
verfallen! Ich wollte aber nicht fliehen, sondern machte Schritte zum
Ausgange, um das Polizeiorgan zu treffen. Ich bin von der Menge
geschlagen worden. Hermines Mutter wollte mir die Augen aus¬
kratzen. Wann ich den Revolver fallen ließ, weiß ich nicht.
Dem Polizeiorgane sagte ich, dieses Weib war meine Frau und
sie hat mich unglücklich gemacht. Bitte lassen sie mich abführen.
Auf die Frage, ob ich nicht bedacht, daß ich jemand anderen
hätte treffen können, muß ich sagen: nein.“
Bei der Vernehmung am 11. Dezember gab Ferdinand M. ledig¬
lich an, er habe zwei Schüsse abgegeben. Er glaube, der erste
Schuß habe getroffen. Er sah Hermines blutüberströmtes Gesicht erst
als sie hinausgetragen wurde. Warum er den zweiten Schuß abgab,
wisse er nicht
Die nächste formelle Vernehmung erfolgte am 22. Dezember,
nachdem die meisten der Tatzeugen bereits abgehört worden waren. —
Über die Tat gab Ferdinand M. folgendes an: „. . . . Dann ging
ich in die Konzertballe. Erst ging ich drinnen herum, um zu
rekognoszieren; dann nahm ich in den Arkaden links Platz, um
Hermine sofort beim Eintreten zu sehen. Nachdem sie erschienen
war und mit ihrer Mutter Platz genommen batte, schritt ich hinunter.
Nun bemerkte ich jedoch, daß ich in zu großer Aufregung war
und sagte mir selbst, ich müsse zurück, sonst müsse ich das Mädchen
abstoßen. Ich ging zu meinem Tische zurück und machte einen
Schluck aus dem halbgeleerten Glase.
Meine Aufregung wuchs jedoch. Ich wollte noch nachdenken.
wie ich es machen sollte, um nicht zu zudringlich zu nahen. Endlich
konnte ich mich nicht mehr Zurückbalten. Ich ging hin durch die
Stuhlreihe von rechts nach links, grüßte und setzte mich.
Sie hatte damals, wie mir vorkam, eine lächelnde Miene; sie
blieb einige Augenblicke neben mir sitzen. Ich wußte nicht, ob nicht
nun das Eis gebrochen sei. Da stand sie auf. Wie mir vorkommt,
fuhr sie mit dem linken Arme in ihre Jacke oder machte doch
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242
XIV. Lepenig
Anstalten, die Jacke anzuzieben. Wenigstens glaubte icb dies zu
sehen.
Als ich hingekommen, war die ganze Sitzreihe neben Hermine
leer. Ich hatte den Eindruck, das Mädchen erwarte etwas. Ich zog
den Hut tief vor ihr; es sollte ein respektvoller Gruß sein. — Wie
erwähnt, glaubte ich, daß sie lächelte. Ich wiederhole, daß ich den
Eindruck hatte, es handle sich jetzt um „ja“ oder „nein“. Gleich
darauf stand Hermine auf und wandte sich halb ab. In diesem
Augenblicke empfand ich einen Ekel, eine ungeheure Bitterkeit. Wäre
es Zorn oder Wut gewesen, ich glaube, ich hätte diese Empfindungen
meistern können.
Ich zog den Revolver aus der rechten Seitentasche und schoß»
wie ich glaube, von unten nach oben. Ich erinnere mich noch, wie
mir der Pulverrauch in die Nase stieg und mir ein unangenehmes
Gefühl erzeugte. Deshalb ließ ich den Revolver fallen. In diesem
Augenblicke dachte ich nicht daran, mir das Leben zu nehmen. Die
Situation ist mir gar nicht wirklich vorgekommen.
Als sie fiel, geschah dies so graziös, als ob sie auf eine Ottomane
sänke. Erst als ich ihr blutüberströmtes Gesicht erblickte, ward mir
bewußt, was ich getan. Wenn mir damals auch nicht mehr bewußt
war, als ein großer Ekel, so möchte ich mir doch selbst Aufklärung
geben, was mir ihn erzeugte und folgendes anführen.
Ich hatte den Eindruck, Hermine sei ein Weib, das rein physisch
zu nehmen sei. — Dies schloß ich, da sie am Sonntag meinen Hände¬
druck duldete, aus dem Lächeln, das ich am Donnerstag zu sehen
glaubte. Und so fühlte ich, daß für sie der Mann nur als sexuelles
Wesen existiere. Den Eindruck hatte ich auch, daß vielleicht nur
äußere Glücksumstände, das Geld, ein englischer Schneider vielleicht,
mir fehle, um ihre Gunst zu erwerben. — Und nun war mir meine
Liebe zu ihr bewußt, die ihr nur das Feinste entgegengebracht. Es
war ein Empfinden, welches völlig künstlerischen Quellen entsprungen
war. Und nun war es der Gegensatz dieser verschiedenen Auf¬
fassung von Liebe, der mir Scham einflößte, darüber, daß ich das
Feine meines Empfindens so verschwendet habe . . .“
Soweit die Schilderung vom Täter selbst.
Von den Zeugen wurde zuerst Oskar E. Rechtspraktikant, am
10. Dezember 10 . . vernommen. Der Zeuge hatte sich selbst gemeldet
und gebeten, möglichst bald vernommeu zu werden, um seine Aus¬
sage machen zu können, so lange er den Vorfall noch in frischer
Erinnerung Labe. Er gab folgendes an:
„Am S. Dezember war ich im Konzerte. Es war auffallend leer.
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Zur Frage der Zeugenwahrnehniung.
243
Ich stand hinter der letzten Stuhlreihe, etwa hinter dem zweiten
Sessel rechts yom Mittelgang. Während ich mich mit einem Be¬
kannten unterhielt, erschien Fräulein Hermine K. mit ihrer Mutter
von der linken Türe herkommend, schritt gegen den Mittelgang,
dankte auf den Gruß des Herrn W., der die Familie von T. aus
kannte, worauf sich beide Damen, wie mir vorkommt in der vierten
Reihe vor mir, rechts vom Mittelgange niederließen. Ich habe da¬
mals kein Augenmerk auf sie gerichtet. Ich bemerkte jedoch, daß
das Fräulein das Jacket ablegte und über die Stuhllehne legte. Wie
mir vorkommt, hatte die Mutter den zweiten Platz neben dem Eck¬
sitze. Die Tochter saß rechts von ihr. Die weitere Reihe war voll¬
kommen leer. Es kommt mir vor, daß noch ein Herr links neben
der Mutter saß. — Es verstrich nun einige Zeit, während ich mit
einem Herrn konversierte. Wie lange dies dauerte, kann ich nicht
sagen. Der Beginn des Konzertes stand knapp bevor. Die Instrumente
wurden bereits gestimmt. Ich sah in der Richtung gegen das Orchester
und bemerkte das Fräulein vor mir stehen. Sie war etwa halb¬
links gewendet. Ob die Mutter saß, kann ich nicht sagen, da ich
mein Augenmerk nicht auf sie richtete. Nun bemerkte ich, rasch
den Kopf wendend, von rechts herkommend einen Herrn, mit auf¬
fallend dunkler Gesichtsfarbe, der einen harten Hut auf hatte, wie mir
vorkommt ohne Überzieher, mit energischen, auffallend raschen
Schritten durch die leere Stuhlreihe gegen das Fräulein zuschreiten.
Ich hatte den Eindruck, daß er ein bestimmtes Ziel verfolge. Auf¬
fallend erschien mir namentlich sein rasches Gehen deshalb, weil ich
es für unhöflich hielt, sich durch die Reihe heranzudrängen, wo be¬
reits andere Personen saßen.
Als er zum Fräulein Hermine K. gelangt war, trat er Leib an
Leib neben sie, wobei ich sein Gesicht, das etwas nach links gewendet
war, sab, so daß ich ihm gerade ins Auge blicken konnte. Der erste
Augenblick, in welchem ich ihn bemerkte, war damals, als er rechts
etwa bei dem vorletzten Sessel der vierten Stuhlreihe war. Er halte
sich nicht niedergesetzt. Mein erster Gedanke, als er an das
Fräulein herantrat, war, was der Mensch mit seinem unverschämten
Herandrängen eigentlich wolle. In diesem Augenblicke erscholl ein
Schuß. Ich erblickte gleichzeitig seine Faust in der Höhe des Ohres
des Fräuleins, wobei ich meinte, daß seine Hand so nahe dem Kopfe
des Fräuleins war, daß die Mündung der Waffe den Kopf geradezu
berühren mußte. Ich bemerke jedoch ausdrücklich, daß ich in seiner
Hand den Revolver niemals gesehen habe. Das Auf blitzen des
Feuers bemerkte ich jedoch schon beim ersten Schüsse. Mein erster
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244
XLV. Ledenig
Gedankengang war der, daß der Täter eigentlich ungeschickt sei,
gerade in das Ohr zu schießen, da der Schuß durch die Knochen
leicht abgelenkt werden könne. Es mochte kaum ein Zeitraum von
einer oder zwei Sekunden verstrichen sein, so hörte ich einen zweiten
Schuß, während der Arm des Attentäters etwas tiefer sank. Das
Fräulein sank nieder, doch kann ich nicht sagen, ob es vom ersten
oder zweiten Schüsse getroffen wurde. Ich glaubte, beide Schüsse
hätten getroffen und meinte, der eine müsse in den Kopf, der andere
in die Nähe des Schlüsselbeines eingedrungen sein.
Auch bemerkte ich, daß der erste Schuß einen dumpfen Klang
hatte, der zweite einen noch dumpferen. Ich erklärte es mir so, daß
der Schall durch das Ansetzen des Revolvers an den Körper selbst
gedämpft worden sei.
Ich hörte weder vom Fräulein noch vom Attentäter ein Wort.
Zwischen dem Herantreten und dem Schießen war kein
bemerkbares Intervall, eines folgte blitzartig dem anderen. Er hätte
nicht Zeit gehabt ein Wort, geschweige den einen Satz zum Fräulein
zu sprechen. Nach meinem Dafürhalten hat daß Fräulein das Heran¬
treten des Mannes nicht bemerkt, da er wie ange ührt, halblinks ab¬
gewendet stand. Das Gesicht hielt sie geradeaus zum Orchester.
Bei seinem Herantreten wandte sie sich ihm nicht zu; dazu hätte
ihr die Zeit gefehlt Ich sah den Mann un an gesetzt vom Augen¬
blicke an, als er auf das Fräulein zutrat und schoß. — Sein Auge
hatte den Ausdruck der Entschlossenheit; ich möchte dies in die Worte
kleiden, daß er aussah, als dächte er: „Jetzt habe ich dich“; Auch
die ganz stramme Haltung des Mannes war von Energie durchdrungen.
Ebenso ließ mich die feste Haltung der Waffe zu diesem Schlüsse
kommen.
Nach der Tat ging der Mann zurück bis zu den Stufen, die zum
Seitengang führen. Sein Benehmen schien apathisch, er eilte nicht.“
Friedrich W. ein Rechtshörer, der gleichfalls am 10. Dezember
19.. vernommen wurde, war neben Oskar E. gestanden und gab an:
„Die Damen setzten sich in der vierten oder fünften Sesselreihe,
wie mir vorkommt, in der Mitte der Reihe, nieder. Das Fräulein
zog die Überjacke aus und legte sie auf die Stuhllehne. Von diesem
Augenblicke an habe ich nicht mehr hingesehen bis ich einen dumpfen
Knall hörte. Ich blickte in der Richtung aus der der Schall kam
und sah eine Person, in der ich später Hermine K. erkannte, nach
hinten sinken. Unmittelbar danach, nach etwa zwei Sekunden, hörte
ich einen zweiten Schuß von gleicher Klangfarbe. Wohin der
Schuß gerichtet war und welche Wirkung er batte, nahm ich nicht
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Zur Frage der Zeugen Wahrnehmung.
245
wahr. Ich glaube, daß das Fräulein auf den ersten Schuß fiel.
Vom Täter selbst habe ich gar nichts wahrgenommen. Ich be¬
merkte ihn erst, als er im Seitengange rechts von den Sesselreihen
festgenommen wurde. Ich kümmerte mich nicht um ihn, sondern
sah nach dem Fräulein, ob ihr etwas geschehen sei.“
Hans K., ein Werksbeamter (vernommen am 21. Dezember 19 ..),
saß während des Vorfalles in der letzten Stuhlreihe, am Ecksitze
rechts vom Mittelgange. Hermine K. und ihre Mutter saßen drei
Reihen vor ihm. Ein Stuhl neben der Mutter links war leer, rechts
neben ihr saß das Mädchen. Die weitere Stuhlreihe war unbesetzt.
Dann erschien von der rechten Seite her ein Herr und setzte sich
neben das Fräulein Hermine K., wobei er sie nahezu anstreifte. Zeuge
sagt weiter: „Er mochte, wie ich glaube 2 bis 3 Minuten gesessen
sein, als er plötzlich aufstand, wie mir vorkommt, in die linke
innere Brusttasche griff, worauf er einen Schuß gegen das Fräulein
abgab. Er hielt die Faust etwa eine Spanne von der Schläfe des
Fräuleins; gleich darauf nahm ich Knall und Aufblitzen wahr. Den
Revolver selbst sah ich damals nicht. Sofort sah ich das Blut
von der Schläfe der Getroffenen herunter rinnen und sie gegen die
Mntter zu nach hinten sinken.
Etwa eine Sekunde nach dem ersten Schüsse fiel der zweite,
wobei ich wahrzunehmen glaubte, daß die Faust des Täters nach unten
fuhr. Ob er hierbei zielte, konnte ich von rückwärts nicht sehen.
Beim ersten Schüsse hatte er sich halblinks gewendet. Das
Fräulein war sitzen geblieben, ebenso auch die Mutter. Daß
der Täter, als er sich niedersetzte gegrüßt habe, bemerkte ich nicht
Nachdem hier der Versuch gemacht wurde, die Zeit von zwei bis
drei Minuten abzuschätzen, bin ich genötigt, schon nach zehn
Sekunden zu erklären, daß der Täter nur solange neben dem
Fräulein gesessen sein konnte. Nach dem zweiten Schüsse begab
sich der Täter nach rechts, wurde jedoch gleich darauf festgehalten.
Endlich bemerke ich noch, daß, als der Herr sich neben dem
Fräulein niedersetzte, ich wahrzunehmen glaubte, daß es sich von ihm
abwendete.“
Zeuge Dr. jur. Hermann gab bei seiner Vernehmung am
12. Dezember 19.. an: Ich befand mich im Mittelgange bei der
sechsten Stuhlreihe. Hermine K. saß m der vierten Sesselreihe, den
Platz kann ich genauer nicht angeben. Links von ihr saß ihre Mut¬
ter. Rechts war, wie ich glaube, die Reibe leer. Ich richtete meine
Aufmerksamkeit nicht auf sie, sah jedoch bin, als sich plötzlich im
Publikum eine gewisse Bewegung fühlbar machte. In diesem Augen-
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XIV. Ledexiu
/
blicke sah ich, daß das Frl. K. sich vor mir halb erhoben hatte und
bemerkte die Faust eines Mannes, der ihr einen Revolver knapp gegen
die Schläfe hielt. Ich glaube nicht, daß mehr als eine Handbreite
Spielraum zwischen der Waffe und der Schläfe war. Ich sah dann
das Feuer aus dem Revolver herausblitzen und gleich darauf begann
das Fräulein langsam zu sinken. Im nächsten Augenblicke senkte
sich die Faust des Mannes nach abwärts und es erfolgte ein zweiter
Schuß, nach meinem Empfinden, aufs geradewohl. Sicher war der
Schuß mehr nach abwärts gerichtet und in größerer Distanz vom
Körper abgegeben.
Den Mann selbst habe ich damals nicht gesehen, da sich meine
Aufmerksamkeit auf das Mädchen konzentrierte.
Ich hätte ihn niemals beschreiben können, wenn ich auch den
Eindruck hatte, daß ein Mann geschossen habe. Die Schüsse fielen
etwas in der Richtung nach rückwärts, so daß auch ich mich ge¬
fährdet fühlte. Ich sah dann nur, daß der Täter nach rechts ge¬
drängt wurde und daß ihm die Mutter des Mädchens nachstürzte.
Im Augenblicke des ersten Schusses vernahm ich vom Mädchen einen
unartikulierten Schrei.
Josef Cb., vernommen am gleichen Tage, wie der vorerwähnte
Zeuge, dessen Kollege, stand neben Hermann K. und gab an: In der
vierten Sesselreihe befand sich Frau K. mit ihrer Tochter Hermine,
sonst niemand. Als ich hinsah, bemerkte ich, daß sich das Mäd¬
chen halb erhoben hatte, wie um fortzugehen. Vor ihr, etwas seitlich
rechts, stand ein Herr, der einen Revolver knapp an ihre rechte
Schläfe ansetzte, worauf ich sogleich einen Schuß fallen hörte und
das Aufblitzen des Feuers sah. Im gleichen Augenblicke sank das
Fräulein mit einem unartikulierten Schrei zusammen. Gleich darauf
fiel ein zweiter Schuß. Die Hand des Täters sah ich damals nicht.
Ich hatte den unbestimmten Eindruck als ob sich der Täter vorher
zu dem Fräulein gesetzt hätte, genau habe ich dies nicht gesehen;
ich glaube, daß der Täter erst aufstand, und dann schoß.
Der Täter schritt dann langsam nach rechts, die Mutter der Ge¬
töteten stürzte sich ihm nach mit den Worten: „das ist der Mörder u
— Mehr weiß ich nicht, ich sah auch nicht, ob dem Täter die
Waffe entfiel. —
Wilhelm L., vernommen am 13. Dezember 19.., saß in der
vorletzten Sesselreihe auf einem der mittleren Sessel. Er sah, daß
sich Mutter und Tochter K. in der vierten Sesselreihe niederließen.
„Auf einmal kam ein Mann vom rechten Seitengange her in die
Scsselreihe, wo die Damen saßen. Er hatte einen stark" beschmutzten
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Zur Frage der Zeugcnwahrneiiniung.
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Überzieher an. Er griff flüchtig seinen Hut an, ohne ihn
jedoch ab zun eh inen und setzte sich neben Hermine K. wobei er
mit seinen linken Arme das Fräulein förmlich anstreifte, was mich
ärgerte. Der Mann blieb einige Zeit sitzen; die Zeitdauer kann ich
nicht angeben; vielleicht war es eine Minute lang, bestimmt kann ich
es nicht sagen.
Auf einmal sprang er auf, griff in die linke innere Brust¬
tasche, zog einen Revolver heraus, den er auf das sitzende
Mädchen aus einer Entfernung von etwa einer Spanne gegen das
Gesiebt abfeuerte. In ungefähr einer Sekunde ertönte ein zweiter
Schuß.“ Zeuge glaubte, daß der erste Schuß getroffen habe, da das
Mädchen gleich darnach zu Boden glitt. Er hörte noch einen Schrei,
glaubte jedoch es sei die Mutter gewesen. — Zeuge stürzte sich auf den
Täter, den er festhielt, so daß dieser nicht Zeit gehabt hätte, sich zu
töten, selbst wenn er es gewollt hätte.
X. gab dem Täter zwei Faustschläge ins Gesicht, was den
Zeugen empörte, da der Täter wehrlos war.
„Ich hatte den Eindruck, daß der Mann hochgradig erregt war.
Er sagte noch zu mir: lassen sie mir doch Zeit, daß ich mich
erschieße. Er stieß diese Worte zwischen den Zähnen hervor, mit
einem höhnischen Ausdruck.“
Hans S., ein Privatbeamter, vernommen am 14. Dezember 19 . .,
saß auf einem der mittleren Sessel in der sechsten Stuhlreihe, rechts.
Zeuge sah, wie ein Herr sich in der vierten Stuhlreihe neben eine
junge Dame niedersetzte. Diese war schon vor der Ankunft des Zeugen
mit einer älteren Dame (links) vorne gesessen. Der Herr, der sich
neben die Dame gesetzt hatte, grüßte diese. Sein Überzieher war an
der linken Seite schmutzig, vermutlich, da er an einer Wand ange¬
streift war. Es kam dem Zeugen vor, daß der Herr mit der Dame
einige Worte wechselte.
Der Zeuge hörte dann zwei Knalle rasch nacheinander; als er
aufblickte sah er das Fräulein nach hinten sinken und den Herrn
herausschreiten.
Melanie K., die Mutter der Getöteten, gab über die Tat bei der
Vernehmung am 16. Dezember 19 . . folgendes an: „ . . Um :,, i auf
4 Uhr langten wir in der Konzerthalle an. Ausnahmsweise nahmen
wir auf der rechten Seite Platz, gewöhnlich saßen wir links. Am
Eckplatze der Sesselreihe, in welcher wir uns setzten, saß bereits ein
Herr. Neben diesem war mein Sessel, rechts von mir befand sich
meine Tochter Hermine. Die weitere Stuhlreihe war leer. Wir
hatten kaum abgelegt — es mochten 5 Minuten auf 4 Uhr fehlen,
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248
XIV. Ledenig
als von rechts her Ferdinand M. in die Stuhlreihe hereinscbritt und
sich neben meine Tochter setzte.
Als er dies tat, sprang ich vor Schreck auf, und riß Hermine
an mich, gerade als auch sie im Begriffe war aufzustehen. In
diesem Augenblicke fiel schon ein Schuß. Ich habe nur eine
Detonation gehört. Ich rief, man solle ihn fassen; das war das Erste
was ich gedacht habe. Ich glaubte meine Tochter sei nur verwundet
und stürzte mich auf den Täter. Was ich tat, weiß ich nicht, ich
weiß nur, daß ich soviel Kraft in mir fühlte, daß ich ihn hätte
zerfleischen können.
Daß M. beim Niedersetzen grüßte, habe ich nicht bemerkt.
Heinrich R. v. B., ein Beamter, befand sich rechts vom
Eingänge in den Arkaden. Er gab bei der Vernehmung am 21. De¬
zember 19 . . an, daß sich die Damen K. seiner Meinung nach
in der dritten Reihe von rückwärts befanden. Die Gruppierung
sei folgende gewesen: Links saß Hermine K., rechts von ihr deren
Mutter, links von Hermine, etwas vor ihr befand sich Ferdinand M.,
dessen Eintreten der Zeuge nicht bemerkt hatte. Als der Zeuge auf
die Gruppe aufmerksam wurde, war Ferdinand M. im Begriffe auf¬
zustehen. Er stand links vom Mädchen. Der Zeuge glaubte, M. sei
dem Mädchen behilflich gewesen, die Jacke auszuziehen. „In diesem
Augenblicke krachte ein Schuß, dem gleich darauf ein zweiter folgte.
Das Intervall betrug höchstens drei Sekuuden. Wie mir vorkommt,
fiel das Fräulein auf den zweiten Schuß. Ich bemerke, daß ich
den Eindruck behalten habe, der Schuß sei von links nach rechts
gefallen, obwohl meine Anschauung in vielen Gesprächen
rektifiziert wurde. Unter diesem Eindrücke habe ich mich auch
hinter die Säule begeben, da ich mich für gefährdet hielt. — Ins¬
besondere glaube ich deshalb zu diesem Eindrücke gekommen zu
sein, da ich das Aufblitzen des Feuers sah und den Eindruck ge¬
wann, gegen die Mündung der Schußwaffe zu stehen . . . .“
Soweit die Aussagen, die uns hier interessieren.
IL
Die Sicherheitsbehörde G. leitete am 1. Dezember 1902 folgende
Anzeige an die Staatsanwaltschaft. Am 30. November 1902 um
*/2 11 Uhr mittags wurde im Hause Nr. 76 in der H .. . .gasse die
bei ihrem Gatten wohnhafte Werkmeistersfrau Marie P. von ihrem
Gatten in der Vorratskammer angeblich erhängt aufgefunden und so¬
gleich, und zwar schon tot, von dem Haken an welchem sie gehangen
haben soll, abgenommen. Der vorläufige Befund des Polizeiarztes
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249
Zur Frage der Zeugenwahrnehmung.
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bezeicbnete es als bedenklich^ daß die Strangulationsfurche am Halse
nahezu horizontal verlaufe und, daß der Gatte der Verstorbenen,
Johann P. im Gesichte frische Kratzwnnden auf weise.
Die Sicherheitsbehörde bezeichnete es auch als bedenklich, daß
das Bettzeug im Schlafzimmer der Ehegatten P. vollkommen durch¬
einander geworfen war.
Sofort nach dem Einlangen der Anzeige wurde der Augenschein
in der Wohnung der Ehegatten P. durch den Untersuchungsrichter
vorgenommen. Die Wohnung bestand aus dem Schlafzimmer, der
damit durch eine Türe verbundenen Küche, von welcher aus man in
eine kleine Speisekammer gelangte, in der nach Angabe des Gatten
Marie P. erhängt gefunden worden war.
In dieser Kammer wurde — zu rechter Hand vom Eintretenden —
ein starker Haken von etwa 10 cm Länge in der Höhe von 1,78 m
vom Boden entfernt in der Mauer steckend vorgefunden. Auffallend
war es, daß der Haken nicht horizontal steckte, sondern eine Abweichung
von etwa 25 0 von der Horizontalen gegen den Boden zu aufwies,
daß er ferner derart lose in der Mauer steckte, daß er ohne die ge¬
ringste Kraftanstrengung aus der Mauer gezogen werden konnte.
Das Türschloß der Speisekammer war zum Teil von der Türe ab¬
gerissen, Tür und Türstock wiesen zahlreiche Einkerbungen auf, die
miteinander korrespondierten und darzutun schienen, daß die Türe
von der Küche aus mit einem geeigneten Werkzeuge aufgebrochen
worden sei.
Johannes P. gab beim Augenscheine an, er habe, als er seine
Gattin vermißte, die von innen verschlossene Türe zuerst mit einem
Hammer zu öffnen versucht, und, als dies nicht zum Ziele führte,
zu diesem Zwecke eine Hacke verwendet.
Die Hacke wies weder Spuren von Holz noch vom Ölfarben¬
anstriche der Tür auf, sondern zeigte nur einen weißen Belag, der
anscheinend vom Kalke der weißgetünchten Speisekammer herrührte.
In der Küche wurde ein abgerissener Knopf, von dem Kleide der
Verstorbenen herrührend, in dem Schlafzimmer, welches noch unver¬
ändert gefunden wurde, am Fußende des Bettes der Marie P. eine
Haarnadel gefunden. Die Betten waren in unordentlichem Zustande,
das Bettzeug durcheinandergeworfen.
In der Speisekammer wurden Spielsachen gefunden, die Johann P.
seiner Angabe nach für die Kinder zu den kommenden Weihnachten
vorbereitet hatte.
Bei der vorläufigen Befragung gab Johann P. während des
Augenscheines an, seine Gattin habe sich aus Kränkung selbst getötet.
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250
XIV. Ledenig
Sie habe von ihren Angehörigen aus K. ein Schreiben erhalten, das
sie derart tief berührte, daß sie in größter Aufregung Selbstmord
begangen habe.
• Tatsächlich wurden zwei Schreiben vorgefunden, deren erstes
belanglose Familienangelegenheiten betraf; das zweite, datiert vom
29. November 1902, enthielt die dringende Einladung, Mutter und
Geschwister zu Weihnachten zu besuchen. — Das Reisegeld hierfür
sollte ihr zugeschickt werden.
Auch ein angefangenes Schreiben der Marie P. wurde vorge¬
funden, welches an die Mutter und die Geschwister gerichtet, nur die
Worte enthielt: „Eure zwei Briefe habe ich erhalten und ich . .
Johannes P. wies im Gesichte zahlreiche frische und zum Teil mit
verkrustetem Blute bedeckte Hautabschürfungen auf. Auch zeigten
sich am Rücken der rechten und linken Hand Ritzer. Am Hemde
des Johann P. waren keine Blutspuren zu sehen.
P. gab an, die Kratzwunden im Gesichte von seinem jüngsten,
3 Monate alten Kinde, welches er auf dem Arme getragen habe,
erhalten zu haben.
Auf Grund der vielen Verdachtsmomente, die gegen Johann P.
sprachen, wurde gegen ihn die Voruntersuchung eingeleitet und er
in Haft genommen. Anschließend an den Augenschein wurde die
Obduktion der Leiche der Marie P. vorgenommen.
Bei der äußeren Besichtigung zeigte sich das Kopfhaar aufgelöst
und zerrüttet, die Augenspalten geschlossen, die Sehlöcher beiderseits
mittelweit, Bindehaut auffallend blaß, ebenso die bläulichen Lippen,
die teilweise vertrocknet erschienen. Die Zunge war hinter den
Zähnen aufgelagert, unversehrt, wie die Lippen, die Ohrmuscheln
bläulich verfärbt.
Der Hals war lang, dünn, aber proportioniert. Über dem Kehl¬
kopfe verlief rings um den Hals eine gut 1 cm breite, blaßbräunlich¬
rote, mäßig eingedrückte Furche, welche über dem rechten Kopfnicker
etwas nach abwärts, quer über den Nacken nach aufwärts bis zur
Haargrenze und links bis zum Unterkieferast hinaufgezogen erschien.
Daselbst war in der Mitte des Unterkieferastes sowie gegen den
Winkel zu eine unregelmäßige und unterbrochene Verbreiterung der
hier lederartig vertrockneten Strangfurche zu bemerken.
Unter der linken Brustdrüse fand sich eine gut fünfkronenstück-
große Abschindung der Oberhaut, und lederartige Vertrocknung der
vorliegenden Lederhaut, unterhalb welcher sieh jedoch keinerlei Blut¬
austritt vorfand.
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Zur Frage der Zengenwahmelunung.
251
An der linken Hüfte, sowie in der rechten Ellbogenbeuge fanden
sich teils streifige, teils runde Oberhautabschindungen mit Vertrocknung
der freiliegenden Lederhaut. Einschnitte daselbst ließen nur an der
Hüfte eine kaum erbsengroße Blutaustretung ins Unterhautzellgewebe
erkennen.
Bei der inneren Besichtigung zeigten sich die weichen Schädel¬
decken ziemlich saftreicb, im Zellgewebe daselbst, namentlich dem
Stirnteile entsprechend, zahlreiche punktförmige Blutaustritte.
Die harte Hirnhaut war gut gespannt, blutreich, in ihren Blut¬
leitern dunkles, flüssiges Blut. Die Muskulatur war dunkel braunrot.
Herzbeutel fettlos, darin wenig klare Flüssigkeit, Herz zusammen¬
gezogen, Mundhöhle leer, Schleimhaut des Rachens und der leeren
Speiseröhre blaß, jene des Kehlkopfes und der Luftröhre hell gerötet,
in letzterer etwas schaumige, zähe Flüssigkeit, die Ränder der ovalen
Stimmbänder leicht rötlich verfärbt, das Epithel eingetrocknet, das
rechte Horn des Schildknorpels ist in der Mitte abgebrochen, ohne
daß hier oder an einer anderen Stelle unter der Strangfurche
eine Blutaustretung wahrgenommen wurde. Beide Lungen lufthaltig,
blutreich, etwas schaumige Flüssigkeit an der Schnittfläche entleerend.
Im Herzen nur dunkles und flüssiges Blut ohne Spur von Ge¬
rinnung vorhanden.
Es wurde auch festgestellt, daß sich die Verstorbene im Stadium
der Menstruation befunden habe.
Die Gerichtsärzte erklärten vorläufig mit Sicherheit nur sagen
zu können, daß Marie P. infolge gewaltsamen Verschlusses der Luft¬
wege gestorben sei, äußerten sich jedoch nicht darüber, wie dieser
Verschluß zu stände kam. Als belastend wurde bezeichnet der Ver¬
lauf der Strangulationsfurche, der Mangel eines Blutaustrittes am ge¬
brochenen Schildknorpel und unter der Strangulationsfurche. Dies
alles ließ den Verdacht einer Fiktion des Selbstmordes aufkommen.
Es lag die Möglichkeit vor, daß Marie P. nach längerem Kampfe
mit ihrem Gatten — worauf die beiderseitig vorhandenen Verletzungen
hinwiesen, allenfalls mit einem Bettpolster, erstickt wurde. Darauf
mochte Johann P. nach bereits erfolgtem Tode seiner Gattin das
Strangulationsmal erzeugt und sie in die Speisekammer geschafft
haben, ohne sie überhaupt an dem vorerwähnten Haken, der ja dem
Anscheine zufolge hierzu nicht stark genug befestigt war, aufzubängen.
Die entschieden unglaubwürdigen Angaben über die Entstehung der
Kratzeffekte im Gesichte und an den Händen des Johann P., der
Abgang eines erkennbar greifbaren Motivs für den Selbstmord schien
die Annahme einer gewaltsamen Tötung zu unterstützen.
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252
XIV. Lepenig
Am gleichen Tage noch wurde Johann P. als Beschuldigter ver¬
nommen. Er war 1876 geboren, Sohn eines Drechslermeisters, be¬
suchte die Volksschule, drei Klassen der Bürgerschule, 8 Jahre hin¬
durch die Fachschule für Drechsler in Wien, wo er sich derart aus¬
zeichnete, daß er zwei Preise bekam. In einer Tanzschule batte er
seine nachmalige Gattin Marie, eine Zigarettenarbeiterin, kennen gelernt.
Sie kam von ihm in die Hoffnung, worauf er sie am 1. Mai 1899
ehelichte. Um jene Zeit hatte er eine Stelle als Supplent an einer
Fachschule erhalten, in welcher er bis Ende 1899 verblieb.
Hierauf zog er nach G. woselbst er an der .... Schule eine
Stelle als Werkmeister bekam.
Während der Ehe war die Frau vergnügungssüchtig, besuchte
namentlich gerne das Theater. Johann P. fand auch, daß seine
Gattin mit einem gewissen Franz K., den sie in G. kennen gelernt
hatte, heimlich Briefwechsel unterhielt. Es kam, als Johann P. die
Sache entdeckte, zu einer Auseinandersetzung zwischen den Ehegatten,
doch versprach Marie P. den Verkehr mit K. aufzugeben. Anderseits
machte Marie P. ihrem Gatten Vorwürfe, weil er mit einer Frau ver¬
kehrte, die anscheinend ihren Lebenswandel beobachtete.
Trotz dieser Vorfälle bezeichnete Johann P. seine Ehe nicht
als eine unglückliche. Wenn auch seine Gattin eine aufgeregte Natur
war, wurde der eheliche Frieden doch dadurch erhalten, daß er bei ver¬
schiedenen Anlässen, die zu Reibungen führen konnten, seine Ruhe
nach Möglichkeit bewahrte.
Der Vater der Marie P. starb im Jahre 1902, angeblich an
Säuferwahnsinn, ihr Oheim endete durch Selbstmord, auch ihr Bruder
soll einen Selbstmord versucht haben. Eine Schwester seiner Gattin
wurde in ihrem zwölften Jahre von ihrem Vater nach Amerika mit¬
genommen, soll von ihm geschlechtlich mißbraucht worden sein und
sich später viel mit Männern herumgetrieben haben.
Den Vorfall am 30. November schilderte Johann P. folgender¬
maßen :
Am Vormittage (Sonntags) entfernte sich Marie P. gegen 10 Uhr,
um bei der Gemüsehändlerin Einkäufe für Mittag zu machen. Als
sie wiederkam, rechneten beide Gatten zusammen, was ihnen anläßlich
des kommenden Weihnachtsfestes für Auslagen erwachsen würden.
Johann P. hatte für das Fest zwei Kästchen in Arbeit, die er den
Kindern bescheren wollte. Die Frau richtete indessen eine Puppe
her. die das dreijährige Töchterchen bekommen sollte und nähte zwei
Häubchen, eines für die Puppe, eines für das jüngere 3 Monate
alte Kind.
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Znr Frage der Zeuge«Wahrnehmung.
253
Gegen V 2 II Ubr langte der beim Augenschein Vorgefundene
Brief vom 29. November 1902 ein, womit die Frau eingeladen wurde,
ihre Mutter zu besuchen. Marie P. war sofort bereit der Einladung
Folge zu leisten, während ihr Gatte sich wegen der damit verbundenen
Auslagen dagegen sträubte.
Die Frau meinte, es könne ein von einem Vereine in Aussicht
stehendes Darlehen dazu verwendet werden. Johann P. wollte sich
jedoch nicht dazu verstehen und meinte, die Kosten der Reise mit
den Kindern würden mit Berücksichtigung der Geschenke, die sie
geben müßten, sicher 80 K. übersteigen, was mit seinem Monatsgehalte
von 150 K. nicht vereinbar sei.
Obwohl Johann P. es seiner Gattin freistellte, allein zu fahren —
die Mutter hatte ihr ja die Reisekosten ersetzen wollen — machte
sie ihrem Gatten doch Vorwürfe, daß er ihr gar nichts vergönne; sie
müsse sich kränken, da sie die Mutter nie zu sehen bekomme. —
Johann P. suchte, als sie zu weinen begann, ihr gut zuzureden und
vertröstete sie auf bessere Zeiten. Sie erklärte jedoch durchaus nicht
allein fahren zu wollen, wurde immer heftiger und behauptete, ihr
Gatte wolle überhaupt nicht haben, daß sie zu ihrer Mutter fahre,
„er werde aber doch Weihnachten nicht mit ihr feiern“.
Sie packte nun die für Weihnachten vorbereiteten Kleinigkeiten,
warf sie in ein Wäschescbaff, nahm dann die für Weihnachten
bestimmte Puppe und gab sie dem größeren Mädchen. -
Dann ergriff sie eines der für die Kinder bestimmtem Kästchen,
welches Johann P. fertig gestellt hatte und wollte es zertrümmern.
Tatsächlich riß sie die daran befestigte Gallerie herunter, welche
Beschädigung anläßlich des Augenscheines auch von der Gerichts¬
kommission bemerkt worden war.
Als nun Johann P. ihr das Kästchen wegnahm, fuhr sie ihm
mit der Hand ins Gesicht, wobei seiner Meinung nach die Kratz¬
effekte hervorgerufen wurden. Er blieb bei der Behauptung, die
Kratzer an den Händen rühren von der Arbeit her. Auch behauptete
er, die Frau nur mit der Hand von sich weg gehalten zu haben.
Er begab sich hierauf mit dein kleineren Kinde in das Schlaf¬
zimmer, während seine Gattin mit dem größeren Mädchen weinend
in der Küche verblieb.
Nochmals versuchte er sie zu beruhigen, doch abermals ohne
Erfolg, ja sie fügte der Äußerung, sie habe mit ihm kein Glück
gemacht, noch Schimpfworte bei.
Johann P. verließ endlich die Küche, wobei er erklärte, daß er
Archiv für Kriminalanthropologie. 29. Bd. 17
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254
XIV. Ledenig
sich doch nicht in Schulden stürzen könne und begab sich wieder
in das Schlafzimmer.
In der Küche rührte sich nichts.
Als nach Verlauf einer Viertelstunde noch nichts zu hören war,
begab sich Johann P. hinaus und fragte, da er seine Gattin nicht
darin fand, das ältere Mädchen nach dem Verbleiben der Mutter.
Das Kind antwortete, sie sei in die Speisekammer gegangen
und ziehe sich die Kleider an. Johann P. fand die Speisekammer
von innen verschlossen, was ihm vollkommen ungewohnt vorkam.
Auf sein Rufen bekam er keine Antwort. Erst nach längeren Ver¬
suchen gelang es ihm, die Speisekammer mit der Hacke zu erbrechen.
Drinnen fand er seine Gattin erhängt in hockender Stellung; der
Kopf war nach rückwärts, und wie er sich zu erinnern glaubte, etwas
nach rechts geneigt.
Der Strick war vorn am Halse doppelt, ging hinter dem Kopfe
hinauf und war mit einer Schlinge an dem Haken rechts von der
Türe befestigt.
Die Frau war bei seinem Eintreten bereits tot. — Sofort nahm
P. den Strick vom Haken und legte den Leichnam auf den Boden.
Der Körper war noch warm, als er den Strick vom Halse löste.
Nun holte er sogleich die Hausmeisterin. Bald erschienen auch
andere Personen in der Wohnung.
Die Versuche Ps, künstliche Atmung einzuleiten, blieben erfolglos.
Durch die am 2. Dezember 1902 erfolgte Vernehmung der Haus¬
meisterin wurden die Angaben Ps. über die Vorgänge nach Auf¬
findung der Leiche, insbesondere seine Bemühung um die Wieder¬
belebung, vollkommen bestätigt.
Die zum Leichenbegängnisse ihrer Tochter herbeigeeilte Mutter
der Verstorbenen deponierte, daß Marie P. seit jeher eine aufgeregte
Person war, bestätigte, daß ein Onkel der Verstorbenen Selbstmord
geübt habe, gab jedoch an, daß ihr Gatte nicht am delirium p. sondern
an einem Lungenleiden gestorben sei, bestritt auch, daß er einen
Selbstmord versucht habe. Auch habe dies keiner ihrer Söhne getan.
Marie C. war nach Schilderung ihrer Mutter jähzornig, außer¬
ordentlich leicht erregbar, fuhr wegen der geringsten Kleinigkeit auf,
hatte einmal sogar aus Zorn ein Fenster zerschlagen. Die Zeugin
hatte den Eindruck, daß ihr Schwiegersohn seine Gattin liebte, was
Marie P. ihrer Mutter wiederholt bestätigte.
Die Schwester des Johann P. die am 1. Dezember 1902 zu einer
Zeit eingetroffen war, als ihr Bruder bereits in Haft war, gab die
Angaben des kleinen Kindes Christine P. wieder, wie ihr dieses den
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Zur Frage der Zeugenwahrnehmung.
255
Vorgang am Vortage erzählt hatte. Es hatte ihr mitgeteilt, Sonntags
am Vormittage habe die Mutter mit dem Vater gestritten, diesen auch
geschlagen, worauf er in das Zimmer gegangen sei, während die
Mutter in der Küche verblieb. Nun habe ihr die Mutter gesagt, sie
gehe in die Speisekammer, um andere Kleider anzuziehen. Dann sei
der Vater in die Küche gekommen, habe die versperrte Kammer mit
der Uacke aufgesprengt und die Mutter gefunden.
Das dreieinviertel Jahre alte Kind wurde auch vom Untersuchungs¬
richter vernommen, dem es im wesentlichen gleiche Angaben machte
und beifügte, „die Mama habe sie in der Küche geküßt, weil sie
(Christine P.) brav sei“. Dann habe sie ihr die Strümpfe angezogen, ihr
ein „Hauberl“ gegeben und aufgetragen, dem Vater zu sagen, sie sei
in die Speisekammer gegangen, um sich Kleider anzuziehen. Sie habe
gehört, daß sich die Mutter von innen eingesperrt habe. Der Vater habe
die Türe aufgebrochen, die Mutter herausgebracht, auf das Bett gelegt
und mit Wasser angeschüttet. Nun seien viele Leute gekommen 1
Das Kind, welches sogleich nach dem Vorfälle von Mietsnachbarn
zu sich genommen worden war, machte seine Angaben unerschrocken
und außerordentlich klar.
Die Aussage machte in keiner Weise den Eindruck des Ein¬
gelernten, wie man dies bei Kinderaussagen so häufig zu hören
Gelegenheit hat.
Die Gerichtsärzte gaben nach Bekanntgabe der Erhebungen das
Gutachten ab, daß sie die Annahme eines Selbstmordes für vollkommen
gerechtfertigt erklären müßten.
Dafür spreche vor allem der kranke Körperzustand der Ver¬
storbenen 1 ), deren hereditäre psychopathologische Veranlagung, der
jedenfalls dem impulsiv vollführten Selbstmorde vorausgegangene
schwere Gemütsaffekt infolge Streites, wobei die Ehegatten mitein¬
ander handgreiflich geworden waren.
Ausschlaggebend erschien den Gerichtsärzten der Umstand, daß
der Verdächtigte die Erhängte sogleich selbst herabgenommen batte,
dann erst Hilfe herbeirief und die überzeugend wirkende Aussage
des aufgeweckten Töcbterchens.
1) K. Wollenberg gibt in der Abhandlung: „Die forensisch-psychiatrische
Bedeutung des Menstruationsvorgangs“, Monatsschrift für Kriminalpsychologie
und Strafrechtsreform 1905 2. Jahrgang 1. Heft, an: „Heller, der Kieler patho¬
logische Anatom, der die Leichen von rund 300 durch Selbstmord zugrunde
gegangenen Individuen sezierte, fand unter 70 weiblichen 25, d. h. rund 40Proz.
die sich zur Zeit der Menstruation getötet hatten; die Zahl würde noch erheblich
größer sein, wenn auch die der Menstruation unmittelbar vorhergehende prae-
menstruale Zeit hätte in Rechnung gestellt werden können.“
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256
XIV. Lkdenig
Das Strafverfahren wurde in weniger als 24 Stunden beendigt,
so daß Johann P. noch an dem Leichenbegängnisse seiner Gattin
teilnehmen konnte.
Beide Fälle schienen mir nicht ohne Interesse und der Mitteilung
wert zu sein.
Im Falle I. lag ein zu Zweifeln nicht Anlaß gebender objek¬
tiver Befund vor, ein ausführlicher Bericht des Beschuldigten und
eine größere Zahl von Zeugenaussagen, die den Sachverhalt aufzu¬
klären und die Angaben des Beschuldigten zu prüfen berufen ge¬
wesen wären.
Im Falle II. gab der objektive Befund zu einer Reihe von
Zweifeln Anlaß, die bereits im Laufe der Darstellung hervorgehoben
wurden, dazu waren die Angaben des Verdächtigten ursprünglich
entschieden falsch und es lag schließlich nur die Aussage eines drei¬
einvierteljährigen Rindes als „Tatzeuge“ vor.
Der Fall I. erinnert in vieler Beziehung an das Experiment,
welches im Kriminalistischen Seminare von Liszt (Sem. 01—02) ge¬
macht wurde. Der Umstand jedoch, daß die Zeugenvernehmungen
vor Gericht unter dem Drucke der mit der Aussage verbundenen
Verantwortung gemacht wurden, dürfte in vieler Beziehung die
Wertung des Resultates zu beeinflussen imstande sein. Im einzelnen
möchte ich nur folgende Punkte hervorheben.
Schon im Betreffe der Situation wurden von den Zeugen voll¬
kommen verschiedene Angaben gemacht Hans K. und Josef Ph.
hatten ausdrücklich erklärt, der Stuhl neben der Mutter der Getöteten
sei unbesetzt gewesen. Melanie K., die das gewiß am besten wissen
mußte, erklärte bestimmt, es sei neben ihr ein Herr gesessen, was
auch Oskar E. bestätigte.
Dagegen schildert gerade Oskar E., der kurz nach der Tat ver¬
nommen wurde, das Auftreten des Täters vollkommen falsch. Obwohl
eine Reihe von Zeugen bemerkt hatte, daß sich Ferdinand M. auf
dem Stuhle neben Hermine K. niederließ, dann erst aufstand und
schoß, war dies Oskar E. vollkommen entgangen. Seiner Darstellung
zufolge war Ferdinand M. offenbar mit der Absicht in die Stuhlreihe
getreten, um Hermine K. dort aufzusuchen und zu töten. Der Zeuge
knüpfte die Schußszene unmittelbar an das Durchschreiten der Stuhl¬
reihe an, wodurch der Vorgang in einem ganz anderem Lichte er¬
scheint als in der Darstellung des Täters und der anderen Zeugen.
Wir haben es hier offenbar mit einem Falle retrograder Amnesie
zu tun, wobei jene Vorgänge, die sich in dem Zeiträume abspielten,
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Zur Frage der Zeugenwahrnehmung.
257
während Ferdinand M. sich setzte, dem Gedächtnisse vollkommen
entschwanden. Es muß angenommen werden, daß die Aufmerksam¬
keit des Oskar E. während dieser Zeit in eine andere Richtung ge¬
lenkt wurde und daß der überaus starke Eindruck der folgenden
Szene diese nebensächlichen Umstände aus dem Bewußtsein verdrängte.
Trotzdem der Zeuge seine Aufgabe vollkommen ernst auffaßte
und gewiß den besten Willen hatte, eine möglichst richtige Darstel¬
lung zu geben (er hatte aus diesem Grunde ersucht, bald nach der
Tat vernommen zu werden), war seine Aussage in wesentlichen
Stücken falsch. —
Unrichtige Aussagen wurden auch darüber gemacht, in welcher
Stellung sich Hermine K. befand, als sie erschossen wurde; so be¬
hauptete Hans K. das Mädchen sei sitzen geblieben, die Mutter der
Erschossenen will sie an sich gerissen haben, was von keinem der
übrigen Zeugen bestätigt wurde.
Oskar E. wußte, obwohl er den Vorgang beim ersten Schüsse
genau beobachtet hatte, nicht, ob das Mädchen nach dem ersten oder
nach dem zweiten Schüsse fiel, was andere Zeugen deutlich unter¬
scheiden konnten. Hans K. z. B. sah deutlich, daß das Blut nach
dem ersten Schüsse herunterrann. Daß Ferdinand M. grüßte, wurde
nur von einigen Zeugen bemerkt. Überhaupt ist es interessant, wie
viel nicht wahrgenommen wurde.
Friedrich W. hörte zwar die Schüsse, sah jedoch den Täter
nicht. Dr. Hermann R. sah nur die Faust des Täters, hätte diesen
jedoch nicht beschreiben können, obwohl er nur wenige Schritte von
ihm entfernt stand. Hans S., der sich gleichfalls in unmittelbarer
Nähe befand, hörte überhaupt nur den Knall der Schüsse und hatte
von der Tat nichts gesehen; die Mutter der Getöteten hörte nur eine
Detonation, Oskar E. und Hans K. hatten die Waffe nicht gesehen.
Es ist vielleicht nicht überflüssig dies hervorzuheben, wenn man
bedenkt, wie oft einem Zeugen bewußtes Verschweigen von Tatsachen
zum Vorwurfe gemacht wird, wenn er über Umstände keine Aus¬
kunft zu geben vermag, die sich in seiner unmittelbaren Nähe ab¬
spielten.
Anderseits werden in den Aussagen der Zeugen, die sämtliche
den gebildeten Gesellschaftsklassen angehörten, die Schlußfolgerungen
von den wirklichen Wahrnehmungen geschieden, (Oskar E.), während
man bei Aussagen von Zeugen, die über einen geringeren Bildungs¬
grad verfügen, häufig einer Darstellung begegnet, in welcher Schlüsse
als wirkliche Wahrnehmungen wiedergegeben werden. (Zeugen von
letzterer Qualität hätten vermutlich ohne viel Besinnen erklärt. Fer-
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258
XIV. Ledknig
dinand M. habe aus einem Revolver geschossen, obwohl sie die
Waffe nicht sahen.)
Immerhin treten jedoch auch vollkommen falsche weitere Be¬
hauptungen zu Tage, so, wenn Oskar E. angibt, der Täter habe
keinen Überzieher getragen, während andere Zeugen sich noch des
Fleckes erinnern, der dieses Kleidungsstück beschmutzte.
Auch der Inhalt der Wahrnehmung wird zum Teil falsch ge¬
wertet. So ist die Zeitschätzung des Hans K. eine falsche, wenn er
ursprünglich angibt, Ferdinand M. sei 2—3 Minuten neben Hermine
K. gesessen und er sieht sich genötigt, den Zeitraum nach genauerer
Prüfung auf Sekunden zu reduzieren.
Die Klangfarbe der beiden Schüsse wurde verschieden empfun¬
den. Oskar E. bezeichnet den zweiten Schuß als dumpf, andere
Zeugen merkten keinen Unterschied.
Bemerkenswert erscheinen auch die Nebenvorstellungen, die der
lall bei einzelnen der in Betracht kommenden Personeu auslöste.
Oskar E. hat sich ganz in den Gedankengang des Täters versetzt
und die Tat im Sinne des vom Täter voraussichtlich gewünschten
Ausganges kritisiert, wenn er meinte, der Täter handle ungeschickt,
indem er die Waffe an das Ohr des Mädchens ansetzte.
Der Täter selbst fühlt sich durch den aufsteigenden Pulverdampf
irritiert. Dieser fade Geruch war es offenbar, der in ihm jenen
Ekel erzeugte, den er später in seiner Darstellung vor die Tat pro¬
jiziert und psychologisch analysiert.
In der Mutter ruft die Tat den unmittelbaren Wunsch nach Ver¬
geltung hervor. „Man soll ihn fassen“ — ist das erste, was sie
denkt; der Täter selbst glaubte, sie wolle ihm die Augen auskratzen.
Dr. Hermann R., der den Täter selbst gar nicht gesehen hatte,
hatte die Empfindung der Angst, er hielt sich für gefährdet.
Am stärksten kam dieses Gefühl zum Ausdruck bei Heinrich
R. v. B., der sich flüchtete und dessen Darstellung unter dem Ein¬
drücke dieses Affektes eine von jener der übrigen Personen voll¬
kommen abweichende wurde, indem er die Tat gleichsam wie im
Spiegel sah, rechts und links, vorne und rückwärts vertauschte.
Hatten wir es bisher mit den Aussagen erwachsener, den gebil¬
deten Kreisen angehöriger Personen zu tun, so treten wir im Falle II
der Aussage eines dreieinvierteljährigen Kindes gegenüber, welches in
keiner Weise beeinflußt, die wesentlichen Vorgänge vollkommen klar
und bestimmt wiedergibt. Die Aussage wurde sowohl einer Schwester
des Verdächtigten gegenüber, welche sich mit diesem nicht verabredet
haben konnte, wie auch vor Gericht in gleicher Weise abgelegt. Ins-
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Zur Frage der Zeugenwahmehmung.
259
besondere hatte das Kind kleine Begleitumstände mitgeteilt, die über¬
aus überzeugend wirkten, so insbesondere den letzten Kuß, den ihm
die Mutter gab, bevor sie sich von ihm trennte, um zu sterben, die
Hergabe des Häubchens, welches es zu Weihnachten für seine Puppe
hätte bekommen sollen. —
Wenn auch die Unverläßlichkeit von Kinderaussagen im allge¬
meinen nicht in Abrede gestellt werden kann, so darf doch sicher
der Versuch, dadurch zur Aufklärung zu gelangen niemals aufgege-
ben werden; ist doch, wie der Fall I lehrt, auch die Aussage Er¬
wachsener vielfach nur mit Vorsicht zu verwerten. Gerade durch
die Angabe von Nebensächlichkeiten, wie dies im Falle II geschah,
wird bei einer Kinderaussage der Sache mehr Beleuchtung gegeben,
als durch die Aussage eines Erwachsenen, dem für kleine Details die
Ruhe der Beobachtung abgeht, der mehr auf den Effekt, das Resul¬
tat, als auf die Begleitumstände zu sehen geneigt ist. Solche Neben¬
umstände werden aber auch, wenn die Fragen geschickt gestellt
werden, in vielen Fällen den Prüfstein abgeben, ob einer Kinderaus¬
sage Glauben zu schenken ist oder nicht. —
Aber auch die Aussagen der Beschuldigten verdienen in beiden
Fällen Beachtung. Wir finden, daß im Falle I keine der Zeugen¬
aussagen auch nur annähernd den Vorfall in so detaillierter und
richtiger Weise wiederzugeben vermochte, wie dies durch den Täter
geschah, der sich doch nach all’ den Umständen in hochgradiger
Erregung befunden haben muß.
Nur die Zusammenstellung und kritische Beurteilung sämtlicher
Zeugenaussagen ist imstande, einen annähernd gleichen Tatbestand
zu konstruieren, wie er aus der Aussage des Täters hervorgeht Und
doch wäre ihm, wenn ihm die Aussage nur eines Zeugen, z. B. die des
Oskar E. gegenüber gestanden wäre, vermutlich weniger Glauben
geschenkt worden, als dem Zeugen. Die Aussage des Beschuldigten
erscheint eben strafprozessual als Beweismittel nur, wenn sie an sich
betrachtet einen strafrechtlich relevanten Nachteil des Aussagenden
herbeizuführen geeignet ist, somit als Geständnis. (Loh sing.) Leugnet
der Verdächtigte, so hat dessen Aussage prozessual nur die Bedeutung,
daß in eine rigorosere Prüfung der übrigen Beweismittel eingegangen
werden muß. —
Eine besondere Bedeutung hatte in den älteren Strafprozeßord¬
nungen die falsche Verantwortung des Beschuldigten, insofern diese
offiziell als Indiz für die Schuld des Verdächtigten verwertet wurde.
Aber auch derzeit vermag man über diese Wertung nur schwer hin¬
wegzukommen. Dies führt uns zu dem Falle II. Wir begegnen hier
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260
XIV. Ledenig
einem unschuldig Verdächtigten, der sich leugnend verhält, dabei je¬
doch anfangs Umstände vorbringt, die absolut unglaubwürdig sind.
(Angaben über die Provenienz der Kratzeffekte.) Johann P. fühlte,
daß gegen ihn eine Reihe von Verdachtsmomenten vorlag. Das Er¬
scheinen der Gerichtskommission hatte ihn verwirrt und er empfand,
daß seine Angaben über die Umstände, unter welchen seine Frau tot
gefunden wurde, nicht vollkommen glaubwürdig befunden wurden, er
empfand, daß das Motiv für den Selbstmord nicht sofort einleuchtend
erschien, verstand es aber auch nicht, den Sachverhalt sofort in
klarer Weise darzustellen; so griff er zu dem Mittel, welches dem
Mindergebildeten als das wirksamste erschien, zur Erdichtung falscher
Umstände, um den Verdacht von sich abzulenken, obwohl er bei
ruhiger Überlegung sich hätte sagen müssen, daß die Unglaubwürdig¬
keit seiner Angaben klar zu Tage liege und daß eine offene Dar¬
stellung des Sachverhaltes ihm weitaus förderlicher hätte sein müssen.
Wir dürfen daher der falschen Verantwortung als Indiz für die
Schuld nicht jene Bedeutung beimessen, die ihr in der Praxis immer
noch zuerkannt wird. Man wird finden, daß es vielfach Über¬
raschung, Furcht, vielleicht auch Einschüchterung ist, die den Ver¬
dächtigten veranlaßt, sich in seiner Verteidigung im Mittel zu ver¬
greifen und seine Zuflucht zur Lüge zu nehmen. —
Schließlich möchte ich noch auf ein Moment hinweisen, welches
mir den Fall II als beachtenswert erscheinen läßt. Trotz einer Reihe
von Verdachtsmomenten, welche den Selbstmord auszuschließen
schienen, hatten die Gerichtsärzte es abgelehnt, aus dem Obduktions¬
befunde allein bestimmte Schlüsse zu ziehen und sich auf die Er¬
klärung beschränkt, daß nur der Tod durch Erstickung zweifellos
sichergestellt sei.
Es wäre gewiß möglich gewesen, im Gutachten auch die Un¬
möglichkeit eines Selbstmordes durch Gründe zu stützen und es
lagen sicherlich Momente vor, die dazu verlockten. Umsomehr muß
daher hervorgehoben werden, daß gerade die Zurückhaltung, das
Abwarten, in diesem Falle geeignet schien, einer gedeihlichen Er¬
schließung der Wahrheit entgegenzukommen, daß sich gerade in der
Zurückhaltung des Urteils die Erfahrung und das Wissen der Sach-
verständigen dokum entierte.
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XV.
Die österreichische Regierungsvorlage
betreffend strafrechtliche Behandlung und strafrechtlichen
Schutz Jugendlicher.
Von
Ernst Lohsing.
Schon seit langer Zeit haben die ansteigende Kriminalität Jugend¬
licher und die zunehmende Verwahrlosung Minderjähriger die Auf¬
merksamkeit weiterer Kreise erregt und den Ruf nach Einschreiten
der Legislative bewirkt. Später als in anderen Staaten, aber dafür
desto eindringlicher erscholl in Österreich der Appell an die Regierung,
den tristen Zuständen Abhilfe zu schaffen. Die Tätigkeit des Kinder¬
schutzkongresses ist noch in aller Erinnerung, nicht minder die Be¬
grüßung, welche dieser Kongreß durch Justizminister Klein gefunden
hat, der in beredten Worten den Ernst der Lage anerkannte, seinem
Interesse für den Verlauf des Kongresses Ausdruck gab und erklärte,
dessen Beratungen abzuwarten, um sodann mit positiven Vorschlägen
an den Reichsrat heranzutreten. Diese Zusage w urde eingehalten. Noch
knapp vor Ablauf des Jahres 1907 hat die Regierung dem Herren¬
haus den Entwurf eines Gesetzes betreffend die strafrechtliche Be¬
handlung und den strafrechtlichen Schutz Jugendlicher vorgelegt. ')
Der Besprechung dieses Entwurfes gelten die folgenden Aus¬
führungen. Es läßt sich nicht in Abrede stellen, daß es Gefühle
gemischter Natur sind, w'eiche dieser Entwurf hervorzurufen geeignet
ist. Denn daß es eine große Enttäuschung ist, wenn nach ungefähr
vierzigjährigem Warten auf das neue Strafgesetz die Regierung an
die Reform nur eines Teiles unseres fast allgemein als rückständig
1) 2S der Beilagen zu den stenogr. Protokollen der Herrenhauses, XVIII.
Session 1907. — Diesem Entwurf ist vorgearbeitet worden durch Lenz, Das
Jugendstrafrecht (Wien 1907).
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262
XV. Lohsing
empfundenen materiellen Strafrechts heranzutreten erklärt, leuchtet
wohl ebenso ein wie die Erwägung, daß das künftige Strafgesetzbuch
wohl noch geraume Zeit auf sich wird warten lassen, wenn lediglich
im Wege einer Novelle, die naturgemäß an das geltende Strafrecht
anzuknüpfen hat und sozusagen in dessen Rahmen eingefügt zu werden
bestimmt ist, eine Neuregelung des Strafrechts und des Strafschutzes
Jugendlicher in Angriff genommen wird. Damit sei dem Entwurf
seine Berechtigung durchaus nicht abgesprochen; jedoch etwas, wo¬
rüber in den ihm beigegebenen „Erläuternden Bemerkungen“ eine
befriedigende Aufklärung leider vermißt wird, kann an dieser Stelle
nicht verschwiegen werden, daß nämlich viele der von der Regierung
beabsichtigten Neuerungen pro futuro keineswegs nur Jugendlichen,
vielmehr mutatis mutandis auch anderen gegenüber platzgreifen sollen,
daß mit andern Worten die Regierung sich zu der Ansicht bekenne,
die im Schlußsätze der (im Anhang II zu diesem Entwurf abgedruckten)
Beschlüsse des 27. deutschen Juristentages (Innsbruck 1904) ihren
Ausdruck findet: „Damit soll nicht ausgeschlossen sein, daß ähnliche
Maßregeln nicht (?!) auch für Erwachsene ergriffen werden.“ Nur
mit diesem Vorbehalt soll an die Kritik des Entwurfs herangetreten
werden, der unter allen Umständen mit Freuden zu begrüßen ist.
Denn es ist der Geist moderner Kriminalpolitik, der aus ihm spricht,
und es ist nur zu wünschen, daß der Entwurf recht bald Gesetz
werde, allerdings ein Gesetz, dem als solchem kein allzulanges selb¬
ständiges Dasein beschieden sein, das vielmehr als eine Summe wahr¬
haft moderner Institutionen später — hoffentlich nicht allzu spät! — in
das künftige österreichische Strafgesetzbuch einverleibt werden möge.
Der Entwurf, der in IX Artikel zerfällt, beabsichtigt eine Änderung
sowohl des materiellen als auch des formellen Strafrechts.
Artikel I behandelt in mehreren Paragraphen, die der Numerierung
nach Anschluß an das geltende StG. suchen, eine Reihe von Ab¬
änderungen des StG., während in den Artt. V bis VII einige straf¬
rechtliche Nebengesetze entsprechende Modifikationen erfahren; Art II
enthält die strafrechtlichen Normen zum Schutze der Jugend; Art.III
faßt jene Punkte zusammen, in welchen die StPO, abgeändert
werden soll, wobei deren Legalordnung eingehalten wird; Art IV trifft
eine Reihe von Verfügungen betreffs der Fürsorge und Schutzaufsicht
jugendlicher Verbrecher; die Artt. VIII und IX enthalten Übergangs¬
bestimmungen und die Vollzugsklausel.')
1) Die nachstehenden Ausführungen befassen sich nur mit den Artt. I bis VII
des Entwurfs.
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Die österreichische Regierungsvorlage betr. strafrechtliche Behandlung usw. 263
A. Materielles Strafrecht.
I. Die strafrechtliche Behandlung Jugendlicher.
1. Absolute Strafunmündigkeit und Alter der problema¬
tischen Reife.
Der Entwurf bricht mit der sogen. Übertretung der Unmündigen
(§§ 269 bis 273 StG.) In Art. I Punkt 1 schafft er die lit. d des
§ 2 StG. ab und in Punkt 5 werden die §§ 237 und 269 bis 273 StG.
expressis verbis aufgehoben. Die erläuternden Bemerkungen geben
von der Ansicht aus, die Erziehung könne im 10. Lebensjahre un¬
möglich schon einen derartigen Abschluß erreicht haben, daß man
ein körperlich und geistig normal entwickeltes Kind in diesem Alter
auch nur beschränkt strafrechtlich verantwortlich machen kann, viel¬
mehr habe die Erwägung, daß der Staat selbst die unvollkommene Ent¬
wicklung und Erziehungsbedürftigkeit durch Normierung der bis zum
14. Lebensjahr dauernden Schulpflicht, sowie durch einen den Kindern
unter dieser Altersstufe gegen bestimmte Verbrechen gewährten er¬
weiterten Schutz anerkennt, auch für die Frage der Strafmündigkeit
zu gelten; da man von einem Kinde unter 14 Jahren nicht behaupten
kann, daß Intelligenz und sittliche Kraft jenen Grad erreicht haben,
der einen Überblick und eine freie Entscheidung über die Bedeutung
und die Folgen einer Handlung zuläßt, so werde pro futuro derjenige,
der zur Zeit der Tat das vierzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet
hat, für straflos erklärt. Diese Neuerung ist nur recht und billig.
Die Hinaufrückung der Strafmündigkeitsgrenze ist ein so allgemein
gestelltes Postulat, daß gegen dessen beabsichtigte Erfüllung sicher
keine ernstliche Einwendung erhoben werden kann. Fraglich könnte
es höchstens sein, ob das 14. Lebensjahr die richtig gewählte Grenze
sei. Diese Frage kann jedoch aus den angeführten Gründen wohl
bejaht werden, zumal nicht jeder, der nach zurückgelegtem 14. Lebens¬
jahr sich gegen das Strafgesetz verstößt, stets der strafenden Gerech¬
tigkeit verfällt.
Denn zufolge jener Bestimmung des Entwurfs, die als § 4a in
das bestehende Strafgesetz eingefügt werden soll, wird außer einem
Täter unter 14 Jahren auch derjenige für straflos erklärt, der sich
zur Zeit der Tat im Alter vom vollendeten 14. bis zum vollendeten
18. Lebensjahre befunden hat, jedoch infolge zurückgebliebener Ent¬
wicklung unfähig war, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder seinen
Willen dieser Einsicht gemäß zu bestimmen. Hierdurch wird in das öster¬
reichische Recht derZeitraum der relativen Strafunmündigkeit eingeführt.
Allein es handelt sich hier nicht um eine einfache Rezeption der sogen.
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XV. Lohsing
„Einsichtsklausel“ des französischen und des deutschen Strafrechts;
denn durch die Fassung des § 4a finden nicht nur die Fälle Berück¬
sichtigung, in welchen der Jugendliche bei Begehung des Delikts die zur
Kenntnis seiner Strafbarkeit erforderliche Einsicht nicht besaß; sondern
es wird in richtiger psychologischer Erwägung, daß, wie die erläuternden
Bemerkungen sagen, die bloße Kenntnis des Unterschiedes zwischen
Recht und Unrecht keinen genügenden Maßstab für die strafrechtliche
Verantwortlichkeit abgebe, sondern die Gesamtentwicklung der Person,
nicht bloß des Verstandes, sondern auch des Willens zu entscheiden
habe, auch mit jenen Fällen gerechnet, in welchen der Wille noch
nicht zum vollen Durchbruch gelangt ist und die Kraft, Gut und Böse
auseinanderzuhalten, noch nicht jenen Willen findet, der sich mit ihr
zu vereinigen hat Die ratio legis geht dahin, mündige Minderjährige,
die ihrer Entwicklung nach den Unmündigen gleichstehen, sowie diese
vor staatlicher Strafe zu bewahren. Gleich Unmündigen sind sie
zufolge § 4a Abs. 2 der häuslichen Zucht zu überlassen, sofern nicht
die Voraussetzungen für die Überweisung zur Fürsorgeerziehung vor¬
handen sind.>) Wird die Frage nach der strafrechtlichen Verant¬
wortlichkeit bejaht und der mündige Minderjährige zu einer Strafe
verurteilt, so treten zufolge Art. V „die sonst mit einem strafgerichtlichen
Erkenntnisse nach dem Strafgesetze (§ 26 StG.) oder kraft anderer
gesetzlicher Vorschriften verbundenen nachteiligen Folgen nicht ein' 1 ;
auch darf laut Art. VI gegen eine Person, die zur Zeit der Tat noch
nicht achtzehn Jahre alt war, „auf Zulässigkeit der Stellung unter
Polizeiaufsicht nicht erkannt werden“ (eine Bestimmung, die der Ent¬
wurf dem § 4 Ges. v. 10. Mai 1S73, RGBl. Nr. 108 als zweiten
Absatz beigefügt wissen will), und zwar ohne Unterschied, ob der
Täter bereits vorbestraft ist oder nicht. Gewiß bedeuten auch diese
Bestimmungen einen nicht zu unterschätzenden Fortschritt gegenüber
der lex lata; allein sie erfüllen nicht die Erwartungen, die man ange¬
sichts der Erfahrungen der ausländischen Strafrechtspflege und der
Forderungen der Kriminalpolitik hegen durfte. Einerseits wäre wohl
die Kerkerstrafe für Personen, die zur Zeit der Tat noch nicht 18 Jahre
alt waren, durch die Arreststrafe zu ersetzen, andererseits möge erwogen
werden, ob die Höchstdauer der gegen solche Personen zulässigen
Strafen nicht eine Herabsetzung von 20 Jahren auf 15 Jahre verträgt;
denn daß es zulässig sein soll, einen Menschen, der zur Zeit der Tat
das Alter der problematischen Reife noch nicht zurückgelegt hat, zu
li I>er Kntwmf eines IVusorgeerzielmngsgesetzes wird laut Mitteilung der
erläuternden Bemerkungen vorbereitet; Anerkennung verdient die Vermeidung
des ominösen Ausdrucks „Z wa n gs erzieh mig*.
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Die österreichische Regierungsvorlage betr. strafrechtliche Behandlung usw. 265
mehr Jahren Freiheitsstrafe zu verurteilen als Lebensjahre hinter ihm
liegen, scheint immerhin de lege ferenda recht bedenklich. Daran kann
auch durch die Erwägung, daß der Entwurf nicht nur die Ehrenfolgen
der Strafen beseitigt, sondern auch dem Strafvollzug gegenüber die
weitestgehenden Ausnahmen begünstigender Natur zuläßt, nichts
geändert werden.
2. Rehabilitation.
Rehabilitation ist nach den Worten des eifrigsten Vorkämpfers
des Rehabilitationsgedankens, Delaquis 1 ) „Aufhebung der Ehren¬
minderungen oder der Verurteilung selbst durch gerichtliche Entscheidung
nach entstandener Strafe unter der Bedingung positiver Feststellung
des seit der Entlassung“ (oder, wie mit Rücksicht auf die Bestimmungen
des Entwurfs hier beigefügt sei: des der Entlassung gleichgestellten
Zeitpunktes) „durchgeführten Wohlverhaltens“. Der Entwurf will zu¬
folge Bestimmung des Art I Punkt 2 seine Normen Über die Reha¬
bilitation als §§ 28 und 29 in das geltende Strafgesetz eingefügt und
zufolge des § 27 StG. (in der Fassung des Entwurfs) auch bei Ver¬
gehen und Übertretungen angewendet wissen. Mit der Einführung
dieses Instituts in das materielle Strafrecht würde eine berechtigte
Forderung wenigstens zum Teil erfüllt. Ob es richtig ist, die Reha¬
bilitation, sowie den bedingten Straferlaß und die bedingte Entlassung
nur Jugendlichen gegenüber platzgreifen zu lassen 2 ), sei in diesem
Zusammenhang aus dem Grunde nicht weiter untersucht, weil der
vorliegende Entwurf seiner Anlage nach eben es nur mit der straf¬
rechtlichen Behandlung Jugendlicher zu tun haben will. Schließlich
findet die Ansicht, daß die Rehabilitation nur Jugendlichen gegenüber
ihre Berechtigung habe, Anschluß an ein in weiteren Volkskreisen
herrschendes Empfinden, dem niemand schöneren Ausdruck gegeben
hat als Grillparzer („Medea“ III):
Des reifen Mannes Fehltritt ist Verbrechen,
Des Jünglings Fehltritt ein verfehlter Tritt,
Den man zurückzieht und ihn besser macht.
In diesem Sinne sprechen sich auch die erläuternden Bemerkungen
aus: „Ausschlaggebend war die Erwägung, daß ein in der
Jugend verübtes Vergehen einen Menschen nicht für sein ganzes
Leben brandmarken soll, wenn er sich in der Folge rechtschaffen
beträgt. Das Gesetz folgt der Stimme des Volkes, wenn es der Tat
1) Delaquis, Die Rehabilitation im Strafrecht (Berlin 1007), S. 13.
2) Delaquis, a. a. 0., S. 220, X. 4.
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XV. Lohsing
eines Jugendlichen eine geringere Bedeutung als der Tat eines
erwachsenen und reifen Mannes beilegt und wenn es Jugendver-
irrungen auch rechtlich in Vergessenheit geraten läßt“.
Unter den verschiedenen Arten der Rehabilitation wählt die
Regierungsvorlage die Form der Rehabilitation durch gerichtliches
Erkenntnis. Diese Wahl kann nur als eine glückliche bezeichnet
werden; denn einerseits hat sie vor der gnadenweisen Rehabilitation
den Vorzug, daß durch sie dem einstigen Delinquenten in Form Rechtens
das gegeben wird, worauf er durch sein späteres einwandfreies Ver¬
halten einen Anspruch erworben hat, um dessen Erfüllung er nicht
zu bitten und zu betteln braucht; anderseits verdient die vom Entwurf
gewählte Form aber auch der sogen, r^habilitation de droit im all¬
gemeinen vorgezogen zu werden, da bei dieser die Macht der Zeit in
den Vordergrund, die Macht der Besserung zurücktritt. ’)
Die Rehabilitation kommt nach dem Entwurf solchen Personen
zu statten, die zurZeit der Tat noch nicht 18 Jahre alt waren, vor¬
dem unbescholten gewesen und während einer Bewährungsfrist nicht
neuerlich verurteilt worden sind, wenn die Verurteilung nicht wegen
einer mit mindestens 10jähriger Kerkerstrafe bedrohten Handlung
erfolgte (§ 28 Abs. 1). Anerkennung verdient die Bestimmung, der
zufolge nicht der Zeitpunkt der Verurteilung oder gar ihrer Rechtskraft,
sondern der der Begehung der Tat maßgebend ist; auch ist es voll¬
kommen zu billigen, daß, wenn gewisse schwere Delikte ihrer Natur
nach — mit Recht — eine Rehabilitation nicht zulassen sollen, diesen
Delikten gegenüber der gesetzliche Strafrahmen und nicht die richter¬
liche Strafzumessung als Kriterium herangezogen wird.
Allein in zweifacher Hinsicht wäre eine Einschränkung der
Rehabilitationsbedingungen sehr zu befürworten. Eine Vorstrafe sowie
eine spätere Verurteilung durch eine andere Behörde als ein Straf¬
gericht möge kein Hindernis für die Rehabilitation bilden; gedacht
wird hierbei an die unterschiedlichen Polizeiübertretungen und die —
allerdings bei Jugendlichen weniger in Betracht kommenden — Gefälls-
delikte. Gerade die Polizeiübertretungen sind meistens so geringfügiger
Natur, daß ihre Ausschaltung in Rehabilitationsangelegenheiten nur ein
Gebot von Recht und Billigkeit ist. Möglich, daß dieser Vorschlag offene
Türen einrennt, möglich, daß die Absicht besteht, bei der Frage der
Rehabilitation Polizeistrafen ebenso unberücksichtigt zu lassen wie gegen¬
wärtig bei der Frage nach dem bisherigen Verhalten. Allein dies darf
uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Wortlaut des § 28 Abs. 1 die
li D(Maquis, a. a. 0., 8. 100.
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Die österreichische Regierungsvorlage betr. strafrechtliche Behandlung usw. 267
Heranziehung von Polizeistrafen grundsätzlich nicht ausschließt und
die Bestimmung des im Entwurf vorgesehenen § 55 a, der (nur) den
bedingten Straferlaß u. a. davon abhängig macht, daß „1. der Ver¬
urteilte bisher noch keine Freiheitsstrafe nach dem Strafgesetze
verbüßt hat“, leicht zu einem argumentum e contrario ausgenützt
werden könnte. *)
Aber auch die Einschränkung auf gerichtlich ausgesprochene
Strafen wäre noch zu weit; es empfieht sich, die Verurteilungen wegen
eines Privatanklagedelikts vollkommen beiseite zu lassen. Hierfür
spricht einerseits der der Verordnung des Ministeriums des Innern
und des Justizministeriums vom 15. Juni 1888 RGBl. Nr. 91 (daß die
über Ehrenbeleidigungsklagen ergehenden Urteile die Bezirksgerichte
den politischen Behörden nicht mitzuteilen haben) zugrunde liegende
Gedanke, andererseits die Erwägung, von welcher sich die Regierungs¬
vorlage 2 ) beim bedingten Straferlaß leiten läßt und der sie sich kon¬
sequenterweise auch der Rehabilitation gegenüber nicht verschließen
sollte, daß nämlich dem Privatkläger, in dessen Belieben die Erhebung
oder Zurückziehung einer Anklage steht, kein unmittelbarer Einfluß
auf den Widerruf einer bewilligten Strafaussetzung und — wie den
erläuternden Bemerkungen ergänzend beizufügen wäre — auf die
Entscheidung über ein Rehabilitationsgesuch eingeräumt werde; und
zwar wäre zweifellos bei der Rehabilitation (jedoch auch wohl beim
bedingten Straferlaß) kein Unterschied zu machen, ob die von einem
PrivatankJäger erwirkte Verurteilung ältem oder jüngern Datums ist.
Es soll dies ja nicht so aufgefaßt werden, als ob wir auf Privat¬
anklagedelikte das alte „minima non curat praetor“, das gewiß keine
Berechtigung hätte, angewendet wissen wollen, aber der offiziöse
Charakter des Rehabilitationsverfahrens wäre mit einer derartigen Macht
eines Privatanklägers wohl unvereinbar.
Die Bewährungsfrist, innerhalb welcher kein Rückfall erfolgt
sein darf, setzt § 28 Abs. 2 auf
1. 10 Jahre bei Verurteilung zu einer einjährigen oder längeren
Freiheitsstrafe,
2. 8 Jahre bei Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer
von 6 Monaten bis zu 1 Jahre,
3. 6 Jahre bei Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer
von 1 Monate bis zu 6 Monaten oder bei einer kürzeren
1) Delaquis, a. a. 0., 8. 14S.
21 Erläuternde Bemerkungen, S. 32.
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XV. Lohsing
Freiheitsstrafe, wenn die Verurteilung wegen Diebstahles, Ver¬
untreuung, der Teilnehmung an diesen strafbaren Handlungen
oder wegen Betruges erfolgte,
4. 4 Jahre in allen übrigen Fällen
fest. Ob die längste Frist nicht zu lang, die kürzeste nicht zu kurz
ist, sei hier nicht weiter erörtert, da angesichts der Fülle moderner
Probleme, die der in Rede stehende Entwurf bringt, dies nur von
sekundärer Bedeutung wäre. Hingegen vermag die Bestimmung,
kraft welcher bei einer kürzern als sechsmonatigen Freiheitstrafe die
Bewährungsfrist 6 Jahre dauern soll, wenn die Verurteilung wegen
Diebstahls, Veruntreuung, der Teilnehmung an diesen strafbaren Hand¬
oder wegen Betruges erfolgte, keine Zustimmung zu finden. Der Anklang
an die Strafgesetznovelle vom 15. November 1867 — trotz der Absicht,
sie Jugendlichen gegenüber außer Kraft zu setzen — ist (obwohl in
dieser Zusammenstellung die Vereitlung der Zwangsvollstreckung nicht
vorkommt) unverkennbar; allein sind wir denn wirklich heute nicht
weiter als im Jahre 1867? Hat denn die bedeutsame These, die ein
Österreicher aufgestellt hat, daß der Verbrecher und nicht das Ver¬
brechen zu strafen sei, noch nicht den Weg nach Österreich gefunden?
Ist denn aus der Tatsache, daß im ausländischen (z. B. deutschen) Recht
diese Delikte wahlweise mit entehrender Zuchthaus- oder minder ent¬
ehrender Gefängnisstrafe bedroht sind, gar keine Schlußfolgerung
für das österreichische Recht abgeleitet worden? Wird denn nur in der
Absicht, sich ein arbeitsloses Einkommen zu verschaffen, und niemals
aus dem Motiv der bittersten Not gestohlen? Die richtige Antwort
gibt wohl Delaquis 1 ) mit den Worten: „Kein Fall ist denkbar, in
dem nicht ein der Regel nach auf ehrloser Gesinnung beruhendes
Delikt aus ehrenhaften Gründen begangen werden könnte. Auch
kann im Einzelfalle dem leichteren Delikt ehrlose Gesinnung zugrunde
liegen. So ist von Spezialisierung abzusehen.“
„Die Bewährungsfrist beginnt“, so sagt § 28 Abs. 3, „mit Ablauf
des Tages, an dem die Freiheitsstrafe abgebüßt, die Geldstrafe erlegt
ist oder der Verurteilte verständigt wird, daß die Strafe durch Gnade
erlassen wurde. Sofern gemäß den Bestimmungen dieses Gesetzes
von der Verhängung oder dem Vollzüge einer Strafe abgesehen wird,
beginnt die Bewährungsfrist mit dem Tage nach Eintritt der Rechts¬
kraft des Urteiles“. Eine derartige gesetzliche Fixierung des terminus
a quo der Bewährungsfrist ist nicht von der Hand zu weisen. Doch
wäre in Übereinstimmung mit Schiller und Delaquis der Gedanke
U Delaquis, a. a. 0., S. 110.
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Die österreichische Regierungsvorlage betr. strafrechtliche Behandlung usw. 269
zu erwägen, ob nicht bei Verurteilung zu Geldstrafe aus Rücksicht
auf Billigkeit und Humanität eine Ausnahme vom allgemeinen Grund¬
satz gemacht werden sollte, in dem Sinne, daß zwar wohl in allen
Fällen vor Gewährung der Rehabilitation der Beweis über vollständige
Tilgung der auferlegten Geldstrafe erbracht werden müßte, die Frist
dagegen nicht erst von diesem Momente, sondern grundsätzlich von
demjenigen der“ — wie hinzuzusetzen erlaubt sei: rechtskräftigen —
„Verurteilung an bemessen würde“.') Es sei dieser Vorschlag auch
deshalb der Überprüfung an kompetenter Stelle empfohlen, einerseits
weil bei Entrichtung der Geldstrafe per Post leicht Zweifel über das
Datum des Erlags, im Falle der zwangsweisen Eintreibung jedoch
darüber Zweifel entstehen könnten, welcher Exekutionsgrad dem
Zahlungstag gleichzuhalten wäre, andererseits aus einem Grunde,
welcher späterer Erörterung Vorbehalten bleibt.
Gegen die Bestimmung des § 28 Abs. 4, daß die Zeit der
Anhaltung in einer Besserungsanstalt in die Bewährungsfrist nicht
einzurechnen sei, kann schlechterdings nicht opponiert werden; jedoch
sei dem Wunsche Ausdruck gegeben, es mögen die Ergebnisse der
Jugendfürsorge derartige sein, daß die Abgabe in eine Besserungs¬
anstalt, die schon de lege lata sogar recht konservative Kriminal¬
politiker nur als ultima ratio angewendet wissen wollen, de lege ferenda
zu den größten Ausnahmen zähle.
„Die Rehabiliation bewirkt“, wie § 29 Abs. 1 bestimmt, „Tilgung
der Verurteilung und befreit von der Verpflichtung, die Verurteilung
auf gerichtliches oder behördliches Befragen anzugeben. Auf die
Verurteilung sich gründende Rechte dritter Personen bleiben unberührt“.
„Der Rehabilitierte“ (richtiger: Rehabilitationswerber) „kann“
zufolge § 29 Abs. 2 „bei dem Gerichte, das in der Strafsache in
erster Instanz entschieden hat, begehren, daß die Rehabilitation im
Strafakte, in der beim Strafregisteramte erliegenden Strafkarte und in
den Vormerken der Verwaltungsbehörden angemerkt werde. Wenn
diese Anmerkung erfolgt ist, darf die durch die Rehabilitation getilgte
Verurteilung in Straf karten-Ausfertigungen und Leumundsnoten nicht
aufgenommen werden.“
Leider vermissen wir im Entwurf eine Regelung der formellen
Seite dieses Instituts, des sog. Rebabilitationsverfahrens. Wohl weist
der durch Art. III Punkt 18 beabsichtigte § 401a St.P.O. in seinem
ersten Absatz den Beschluß, durch welchen der Eintritt der Wirkung
1) Schiller, Die Rehabilitation Verurteilter im Schweizerischen Recht
(Zürich 1905) S. 5S, und Delaquis, a. a. ()., S. 164.
Archiv für Kriminalanthropologie. 29. Bd. IS
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XV. Lohsing
eines günstigen Verlaufes der Bewährungsfrist ausgesprochen wird,
in die Kompentenzsphäre der Ratskammer; allein hiebei ist, wie die
Zitierung des § 55c St.G. beweist, nur an die Bewährungsfrist bei
bedingtem Straferlaß gedacht. Soll diese Bestimmung per analogiam
auch im Rehabilitationsverfahren anwendbar sein? Die Analogie zur
Lösung dieser Frage heranzuziehen ist entschieden nicht einwandfrei.
Denn mit gleichem, wenn nicht gar mit mehr Recht könnte dann auf
§11 der Strafgesetznovelle vom 15. November 1867 als analog an¬
wendbar hingewiesen werden, der dem Verurteilten den Anspruch auf
ein Amtszeugnis über das Erlöschen der Ehrenfolgen gewährt und
für dessen Geltendmachung drei Instanzen kennt. Dieser Hinweis
genügt wohl, um zu zeigen, wie notwendig es ist, Bestimmungen über
den Gang des Rehabilitationsverfahrens und sein Rechtsmittel zu
treffen.
Mit der Wirkung der Rehabilitation, als welche die Tilgung der
Verurteilung bezeichnet wird, steht jedoch nicht im Einklang § 29
Abs. 3: „Die Strafgerichte und Staatsanwaltschaften sind berechtigt, in
einem straf gerichtlichen Verfahren die Bekanntgabe einer durch Re¬
habilitation getilgten Verurteilung zu begehren, wenn die Kenntnis der
Verurteilung für die Entscheidung der Schuldfrage von Bedeutung
ist. Das Gericht kann unter dieser Voraussetzung auch beschließen,
daß die Verurteilung in der Verhandlung bekanntgegeben werde.“
Da entsteht zunächst das Begehren um Auflärung darüber,
welches denn die Fälle sind, in denen die Kenntnis der Verurteilung
für die Entscheidung der Schuldfrage von Bedeutung ist? Daß die
Kenntnis einer früheren Verurteilung für die Entscheidung der Straf¬
frage von Bedeutung sein könnte, ist ja nicht zu bestreiten; ob dies
allerdings auch von einer durch Rehabilitation getilgten Verurteilung
gilt, ist zumindest sehr zweifelhaft. Wann aber ist die Tatsache einer
früheren Bestrafung für die Scbuldfrage von Bedeutung? Etwa
beim Gewohnheitsdiebstahl (§ 1761 StG.)? Kann man noch von Ge¬
wohnheitsdiebstahl sprechen, wenn zwischen zwei Diebstählen mehr
als sechs Jahre liegen? Oder wird hier an das Verbrechen des Dieb¬
stahls im zweiten Rückfall (§ 176 II lit. a StG.) gedacht? Nun, dann
sei doch darauf hingewiesen, daß der Rückfall innerhalb der Be¬
währungsfrist den Anspruch auf Rehabilitation aus der Welt schafft
und daher die Bestimmungen über Rehabilitation für solch einen
Fall ganz irrelevant sind. Sollte es sich jedoch um zwei Rückfälle
nach erwirkter Rehabilitation handeln, dann ist wahrlich die Be¬
stimmung über die Tilgung der Verurteilung nicht recht verständlich,
wenn nach so- und soviel Jahren eine durch Rehabilitation getilgte
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Die österreichische Regierungsvorlage betr. strafrechtliche Behandlung usw. 271
Verurteilung wieder aufleben und so gewissermaßen das, was mit
der einen Hand gegeben wurde, mit der andern genommen werden
sollte. Wie dem auch immer sei: direkt verfehlt ist die Bestimmung,
derzufolge das Gericht unter dieser Voraussetzung beschließen kann,
daß die Verurteilung in der Verhandlung bekannt gegeben werde.
Wenn wirklich eine Vorstrafe von Bedeutung für die Schuldfrage
ist, dann muß sie in der Verhandlung bekannt gegeben werden;
denn jeder Angeklagte hat ein unverletzliches Recht darauf, zu er¬
fahren, was gegen ihn vorliegt Es geht nicht an, daß Umstände,
die ihn belasten, einfach nur im Beratungszimmer zur Sprache
kommen. Und wie, wenn der Angeklagte selbst von seiner Vor¬
strafe nichts weiß? Der Fall ist durchaus nicht undenkbar und es
kommt vielleicht öfter, als man meinen möchte, vor, daß A, der dem
B sein Arbeitsbuch gestohlen hat, sich dann auf dessen Namen ver¬
urteilen läßt und B dann, ohne einen hlauen Dunst davon zu haben
als „abgestrafter Verbrecher“ durch die Welt zieht. Wie käme nun
B dazu, daß solch eine „Vorstrafe“ ihm zur Last fiele? Fast scheint
es uns, daß unser geltendes Strafprozeßrecht hier versagt; denn eine
Richtigstellung des gegen den den Namen des B sich beilegenden
A ergangenen Urteils scheitert an der Bestimmung des § 270 al. ult.
StPO, und ob B zum Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens
legitimiert ist, scheint in Ermangelung seiner Identität mit dem
Pseudo-B zumindest recht zweifelhaft zu sein. Eine Bestimmung
jedoch, die diese in der Gesetzgebung ohnedies ungelöste Frage noch
komplizierter gestalten würde, kann de lege ferenda wohl nicht emp¬
fohlen werden.
Was schließlich die Bestimmung des letzten Absatzes des § 19
anlangt, demzufolge eine durch Rehabilitation getilgte Verurteilung
Behörden, die zur Verleihung von Stellen im öffentlichen Dienste
oder zur Übertragung einer diesem Dienste gleichzuachtenden öffent¬
lichen Funktion berufen sind, unter Verpflichtung zur Geheimhaltung
solcher Auskünfte mitgeteilt werden kann, so ist dem dieser Be¬
stimmung zugrundeliegenden Gedanken allerdings zuzustimmen; zu
erwägen bliebe jedoch immerhin, ob nicht eine Einschränkung in
dem Sinne berechtigt wäre, daß nur solche Delikte hier in Betracht
zu kommen haben, die mit der Führung des betreffenden Amtes un¬
vereinbar sind. Man vergesse nicht, daß es noch nicht so lange her
ist, daß ein Parlamentarier in den Rat der Krone berufen wurde,
der, als er zum erstenmal als Minister zu seinen Wählern sprach,
Betrachtungen über einst und jetzt anstellte und jener Jahre ge¬
dachte, die er als Sträfling hinter Kerkermauern verlebt hat; daß er
IS *
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XV. Lohsing
Minister blieb, trotzdem sich eine Stimme gegen das Problem der
Rehabilitation erhob, sei nnr nebenbei erwähnt.
Alles in allem genommen, können wir die Art, in welcher die
Einführung der Rehabilitation in Oesterreich gedacht ist, nicht ganz
billigen; abgesehen von ihrer Einschränkung auf Jugendliche scheint
es uns nicht im Interesse der (Straf- wie Zivil-) Rechtspflege zu
liegen, daß auch gegenüber einer Verurteilung nach §§ 197, 199 lit.
a StG. *) die Rehabilitation zulässig sein soll; auch daß dem Rück¬
fall gegenüber, u. zw. lege non distinguente selbst dort, wo es sich
nur um kulpose Delikte handelt, die Rehabilitation ausgeschlossen
sein soll und auf diese Weise, wie Delaquis richtig bemerkt," eine
Gleichstellung von Rückfall und Unverbesserlichkeit geschaffen wird,
ist gewiß nicht billigenswert. Und doch möge an der Regierungs¬
vorlage nicht allzuviel geändert werden. Daß das Bessere stets der
Feind des Guten war, hat gerade die Geschichte der österreichischen
Strafgesetzentwürfe gezeigt. Darum kann die Tatsache, daß mit der
Einführung der Rehabilitation ein kriminalpolitisches Werk ersten
Ranges geschaffen wird, nicht genug gewürdigt werden und kann,
wie gesagt, dem Entwurf auch nicht in allem zugestimmt werden,
so sei doch vor solch radikalen Abänderungsvorschlägen gewarnt,
die den ganzen in kriminalpolitischer Hinsicht bedeutsamen Entwurf
in Frage stellen könnten.
3. Bedingter Straferlaß.
Im Anschluß an die Bestimmungen des StG. über die Straf¬
zumessungsgründe will der Entwurf die Institute des bedingten Straf¬
erlasses und der bedingten Entlassung eingefügt wissen, was auch in
einer Abänderung der Überschrift des fünften Titels des ersten Teiles
des Strafgesetzes zum Ausdruck kommen soll. (Art. I Punkt 3).
Gemäß dem nach § 55 StG. einzuschaltenden § 55a (das Gleiche
hat auch bei Vergehen und Übertretungen zu gelten) kann das Ge¬
richt, das eine zur Zeit der Tat noch nicht 18 Jahre alte Person zu
einer Geldstrafe oder zu einer drei Monate nicht übersteigenden Frei¬
heitsstrafe verurteilt, den Vollzug dieser Strafe und einer als Neben¬
strafe ausgesprochenen Abschaffung unter gleichzeitiger Anordnung
einer (arbiträr zu bestimmenden) ein- bis dreijährigen Bewährungsfrist
aussprechen, sofern
1. der Verurteilte bisher noch keine Freiheitsstrafe nach dem
Strafgesetze verbüßt hat und es
l j Betrug, begangen durch beeidete oder unbeeidctc falsche Aussage vor
Bericht.
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Die österreichische Regierungsvorlage betr. strafrechtliche Behandlung usw. 273
2. nach seiner bisherigen Aufführung in Haus und Schule, in
der Lehre oder Arbeit, nach den Beweggründen und den
Umständen der Tat, sowie im Hinblick auf sein Verhalten
nach deren Verübung mit Grund anzunehmen ist, daß es der
Vollstreckung der Strafe nicht bedarf, um ihn von weiteren
strafbaren Handlungen abzuhalten.
Unzulässig ist eine derartige Strafaussetzung bei Personen, denen
diese Begünstigung oder die der richterlichen Ermahnung an Stelle
einer Strafverhängung (siehe sub 5 dieser Ausführungen) schon ein¬
mal gewährt worden ist, sowie bei Personen, deren Wohnsitz nicht
festgestellt ist. Die Bewährungsfrist beginnt mit Rechtskraft des
Urteiles zu laufen.
Daß nur bei geringfügigen Delikten bedingter Straferlaß zulässig
sein soll, ist gewiß ebenso zu billigen, wie die Bestimmung, daß nicht
der abstrakte Strafrahmen des Gesetzes, sondern die in concreto er¬
folgende richterliche Strafbemessung ausschlaggebend sein soll.
Mochte dies auch angesichts des v. Ko er berschen Begnadigungs¬
erlasses ein großer Fehler sein, so fallen die Bedenken, die jenem
Erlaß gegenüber berechtigt waren, hier vollkommen weg. Denn
wenn es das erkennende Gericht selbst ist, das über die Frage der
Strafaussetzung zu entscheiden haben wird, so entfällt eben jegliche
Befürchtung, daß aus Scheu vor bürokratischem Formelkram lediglich
zur Vermeidung eines umständlichen Begnadigungsverfahrens dort
eine strengere Strafe verhängt wird, wo faktisch eine mildere am
Platz wäre.
Unglücklich im Ausdruck, wenn auch nicht in der Tendenz ist
jedoch die Voraussetzung, daß „der Verurteilte bisher noch keine
Freiheitsstrafe nach dem Strafgesetze verbüßt hat.“ Dieser
Wortlaut läßt eine Vorstrafe nach einem der sog. strafrechtlichen
Nebengesetze allerdings nicht als Hindernis des Strafaussetzungsbe¬
schlusses erscheinen. Sicherlich ist das nicht die ratio legis; vielmehr
will hier nur gesagt sein, daß eine sog. Polizeistrafe dem bedingten
Straferlaß nicht hinderlich im Wege stehen soll. Dieser Absicht des
Gesetzgebers wäre aber deutlicher entsprochen, wenn die Worte
„Freiheitsstrafe nach dem Strafgesetze“ durch die Passung „gericht¬
lich zuerkannte Freiheitsstrafe“ ersetzt würden; auch wäre eine Be¬
stimmung des Inhaltes wünschenswert, daß eine an Stelle einer un¬
einbringlichen Geldstrafe vollzogene Freiheitsstrafe nur als Geldstrafe
zu betrachten sein soll.
Hierzu eine Randbemerkung. Trotzdem gerichtliches und ad¬
ministratives Strafrecht sich in einigen Punkten berühren, verhalten
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274
XV. Lohsing
sie sich doch in der Praxis im großen ganzen wie die Strafrechte
zweier verschiedener Staatsgebiete zu einander. Dieser Zustand ist
auf die Dauer unhaltbar und es muß endlich einmal angefangen
werden, ihm ein Ende zu bereiten. Gerade § 55a bietet hiezu Anlaß.
Der bedingte Straferlaß sollte nicht nur bei richterlicher, sondern
auch bei verwaltungsbehördlicher Verurteilung zulässig sein. Denn
der Gedanke, daß bei Diebstahl und Veruntreuung bedingter Straf¬
erlaß zulässig, bei polizeilicher Bestrafung wegen gewisser Forstfrevel
usw. jedoch unbarmherzig ausgeschlossen sein soll, verletzt gar zu
sehr das Rechtsempfinden, zumal wenn erwogen wird, daß der
Polizeigewahrsam, bei welchem dem Strafvollzug weit weniger als
der gerichtlichen Haft das Prinzip der Individualisierung zugrunde¬
liegt, mit weit mehr moralischen Gefahren für den Jugendlichen
verbunden ist als der Aufenthalt im Gerichtsgefängnis. Zum Entwurf
zurückkehrend können wir nicht verkennen, daß dessen Postulate,
bedingten Straferlaß nur Personen, deren Wohnsitz festgestellt ist,
zuzubilligen, triftige Erwägungen zugrunde liegen, möchten aber
doch die Frage aufwerfen, ob in dieser Bestimmung nicht eine Härte
gegen jene zahlreichen Jugendlichen liegt, welche ein nichts weniger
als günstiges Schicksal zu harter Arbeit gegen Taglohn bei wechselnder
Arbeitsstätte bestimmt hat.
Nach § 55b kann mit der Aussetzung des Vollzugs einer die
Dauer eines Monats übersteigenden Freiheitsstrafe die Anordnung
einer Schutzaufsicht verbunden werden, wenn das Gericht dies zur
Unterstützung der sittlichen Festigung und Besserung des Verurteilten
für geraten hält und am Aufenthaltsorte des Verurteilten eine erfolg¬
reiche Überwachung durch Vertrauenspersonen eingeleitet werden kann.
Bei Anordnung der Schutzaufsicht oder später können dem Ver¬
urteilten bestimmte Weisungen für sein Verhalten und seine Auf¬
führung erteilt, der Aufenthalt an bestimmten Orten untersagt oder
ihm die Bekanntgabe seines Aufenthaltes auferlegt werden. Weitere
Freiheitsbeschränkungen sind unzulässig.
Die Gründe, aus welchen eine Unterbrechung der Bewährungs¬
frist und der Vollzug der ausgesetzten Strafe einzutreten hat, sind
nach § 55c a) obligatorischer und b) fakultativer Art: Ad a) Der
Vollzug der ausgesetzten Strafe ist durch Beschluß des Gerichtes an¬
zuordnen, wenn:
1. der Verurteilte wegen einer während der Bewährungsfrist be¬
gangenen und von Amts wegen zu verfolgenden vorsätzlichen
strafbaren Handlung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wird
oder wenn
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Die österreichische Regierungsvorlage betr. strafrechtliche Behandlung usw. 275
2. der Verurteilte einer Weisung des Gerichtes in betreff seines
Verhaltens oder seiner Aufführung ungeachtet förmlicher
Mahnung zuwiderhandelt oder wenn er sich fortgesetzt dem
Trünke, Spiele, Müßiggang oder einem unsittlichen Lebens¬
wandel ergibt.
Ad b) Der Vollzug der ausgesetzten Strafe kann angeordnet
werden, wenn der Jugendliche wegen einer fahrlässig begangenen
strafbaren Handlung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wird.
Auch hier wäre — dies gilt ad a) und b) — anstatt „strafbaren
Handlung“ Zusagen, „gerichtlich strafbaren Handlung“ zu setzen,
um in der Praxis keinen Zweifel an der wahren Absicht des Gesetzes
aufkommen zu lassen.
Wird der Verurteilte wegen einer vor Beginn der Frist be¬
gangenen strafbaren Handlung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, so
hat das erkennende Gericht unter Würdigung der Umstände des
Falles zu entscheiden, ob der Strafvollzug für beide Fälle auszusetzen
oder ob nunmehr beide Strafen zu vollstrecken seien.
Diese Bestimmung wäre in analoger Nachbildung des § 265
StPO, dahin urazugestalten, daß die Worte „Beginn der Frist“ durch
„Fällung des den Strafvollzug aufschiebenden Urteils“ zu ersetzen
wären, wodurch für solche Fälle allerdings der Anfang der Frist ge¬
ändert und diese selbst um den bis zum Eintritt der Rechtskraft not¬
wendigen Zeitraum verlängert werden müßte.
Bewährt sich der unter Zubilligung des bedingten Straferlasses
Verurteilte nicht, so wird die ausgesetzte Strafe vollzogen, bezw. hat
er beide Strafen — die ausgesetzte und die neuverhängte — in unmittel¬
barem Anschluß zu verbüßen, vorausgesetzt natürlich, daß als Unter¬
brechungsgrund nur eine neuerliche Verurteilung in Betracht kommt.
Im Falle der Bewährung ist durch Beschluß die Strafe als ver¬
büßt und eine als Nebenstrafe ausgesprochene Abschaffung als hin¬
fällig zu erklären und es darf im Falle späterer Begehung einer gleichen
(natürlich auch immer andersartigen) strafbaren Handlung die nicht
vollstreckte Strafe bei der Strafbemessung nicht herangezogen werden.
Der Beschluß, daß die ausgesetzte Strafe zu vollstrecken sei,
hat nur rechtliche Wirkung, wenn er vor Ablauf von sechs Wochen
nach dem Ende der Bewährungsfrist, falls aber bei Ablauf der Be¬
währungsfrist ein Strafverfahren gegen den Jugendlichen anhängig
ist, innerhalb sechs Wochen nach rechtskräftiger Beendigung dieses
Verfahrens gefaßt wird (vgl. das ad 4 Gesagte).
Die Aussetzung des Vollzuges, der Widerruf und der Erlaß der
Strafe sind in das Strafregister einzutragen.
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276
XV. Lohslng
4. Bedingte Entlassung.
Die bedingte Entlassung hat in der Strafgesetzgebung fast aller
Kulturstaaten bereits seit so langer Zeit Aufnahme gefunden, daß
mit den §§ 55 d—55 f, die auch für den II. Teil des StG. gelten
(§ 271 Entwurf), nur eine alte längst fällige Schuld getilgt oder
vielmehr, wie mit Rücksicht auf die Beschränkung Jugendlichen
gegenüber betont sei, nur teilweise berichtigt wird* Über das Wesen
und den Inhalt dieser Einrichtung gibt § 55d folgende Aufklärung:
„Sträflinge, die zu einer mindestens dreimonatigen Freiheits¬
strafe verurteilt sind, können, falls sie zur Zeit der Tat das 18.
Lebensjahr nicht vollendet hatten und wegen Verbrechens nicht vor¬
bestraft waren, nach Abbüßung von zwei Drittel der ihnen auferlegten
Freiheitsstrafe mit ihrer Zustimmung bedingt entlassen werden, wenn
sie sich während ihrer Anhaltung gut aufgeführt haben und ihr
Vorleben sowie ihr Verhalten während des Strafvollzuges schließen
läßt, daß sie sich in der Freiheit bewähren werden. Bei der Ent¬
lassung ist eine Bewährungsfrist festzusetzen, die bis zura Ablaufe
der Strafzeit, mindestens aber sechs Monate dauern muß. Zugleich
kann eine Schutzaufsicht angeordnet werden (§ 55b, Absatz I).
Die Strafvollzugsbehörde (Strafgericht, Leitung der Strafanstalt)
hat, falls dies nicht schon in anderer Weise gesichert erscheint, im
Einvernehmen mit der Vormundschaftsbehörde oder auch mit Organen
der Fürsorge für die Unterbringung des Entlassenen in einem redlichen
Erwerbe zu sorgen. Sie kann ihm ferner entweder bei der Entlassung
oder später bestimmte Weisungen in betreff seines Verhaltens und
seiner Aufführung erteilen, den Aufenthalt an bestimmten Orten
untersagen oder die Bekanntgabe seines Aufenthaltes auferlegen.
Weitere Freiheitsbeschränkungen sind unzulässig.“
Die Gründe, aus welchen gemäß § 55e die Entlassung wider¬
rufen werden muß, bez. kann, sind ganz analog jenen gestaltet, aus
denen eine bedingt erlassene Strafe vollzogen wird. Auch hier ist
der Widerruf nur bis zum Ablauf von sechs Wochen nach beendeter
Bewährungsfrist zulässig.
Gemäß § 55e sind die beiden Freiheitsstrafen am Vollzugsort
der schwereren zu verbüßen, mag diese die frühere oder spätere sein.
Unterbleibt der Widerruf binnen sechs Wochen nach Ablauf der Be¬
währungsfrist, so gilt die Strafe als verbüßt, es wäre denn, daß bei
Ablauf der Bewährungsfrist ein Strafverfahren gegen den Entlassenen
schweben würde, in welchem Fall der Widerruf „noch innerhalb
sechs Wochen nach rechtskräftiger Beendigung dieses Verfahrens er¬
folgen“ kann. Auch wenn dieses Verfahren mit Einstellung oder
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Die österreichische Regierungsvorlage betr. strafrechtliche Behandlung usw. 277
Freispruch beendet wird? Diese Frage kann nur bejaht werden, da
der Wortlaut dieser Bestimmung („Beendigung des Verfahrens“) eine
andere Interpretation des § 55f nicht zuiäßt. Es ist jedoch, trotzdem
die erläuternden Bemerkungen in dieser Hinsicht keinen Aufschluß
geben, kaum anzunehmen, daß hier der Wortlaut mit der Absicht
des Gesetzes übereinstimmt, weshalb eine Abänderung in diesem
Sinne als wünschenswert bezeichnet werden muß.
Sowohl der Sträfling als auch die Strafvollzugsbehörde können
um die bedingte Entlassung ansuchen. Die Entscheidung über solch
ein Ansuchen sowie über den von der Strafvollzugsbehörde bean¬
tragten Widerruf steht dem Oberlandesgericht zu. Gegen dessen
Entscheidungen sowie über die Verfügungen betreffs einer Schutz¬
aufsicht oder Verhaltungsmaßregeln während der Bewährungsfrist
ist kein Rechtsmittel zulässig.
5. Richterliche Ermahnung anstatt Strafverhängung.
Von der richtigen Erkenntnis geleitet, daß in kleineren Delikts¬
fällen der mit der gerichtlichen Strafe verbundene Zweck auch ohne
Strafverhängung erreicht werden kann, will der Entwurf in einer
in die durch Abschaffung der §§ 269 bis 273 StG. entstehende Lücke
einzufügenden Bestimmung (§ 270 Entwurf; das Gericht in besonders
leichten Fällen von Vergehen und Übertretungen, die nur mit Geld¬
strafe oder einer drei Monate nicht übersteigenden Freiheitsstrafe
bedroht sind und einen Jugendlichen unter 18 Jahren zum Täter
haben, wenn die Voraussetzungen, an die sonst der bedingte Straf¬
erlaß geknüpft ist, vorliegen, ermächtigen, nach Feststellung des Tat¬
bestandes und des Verschuldens im Urteil auszusprechen, daß von
der Verhängung, einer Strafe abgesehen und an deren Stelle eine
Ermahnung erteilt werde; ausgeschlossen wird die Verurteilung ohne
Verhängung einer Strafe solchen Personen gegenüber, denen diese Be¬
günstigung oder bedingter Straferlaß schon einmal gewährt worden ist.
Zur Vermeidung von Mißverständnissen könnte allerdings bei¬
gefügt werden, daß die Bestimmungen der lex lata, die eine (aus
Gründen der Rücksicht auf eine ausländische, militärgerichtliche oder
unter Anwendung des § 265 StPO, erfolgende) Verurteilung ohne
Strafverhängung zulassen, durch die Bestimmung des Entwurfs un¬
berührt bleiben.
Die erste Voraussetzung der richterlichen Ermahnung an Stelle
der Strafe ist also die, daß die Übeltat „nur mit einer Geldstrafe oder
mit einer drei Monate nicht übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht
ist.“ Diese Worte lassen keine andere Auslegung zu als die, daß
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278
XV. Lojising
nur der gesetzliche Strafrahmen in Betracht zu kommen habe.
Soll „nur der Strafsatz, dem die strafbare Handlung zufolge ihrer
konkreten Gestaltung unterliegt, maßgebend“ sein, wie dies die
erläuternden Bemerkungen als „wohl selbstverständlich“ annehmen,
so muß der § 270 anders stilisiert werden. Wenn die erläuternden
Bemerkungen hervorheben, die Form des Urteils sei deswegen ge¬
wählt worden, da eine andere Form weder für die Tragung der
Kosten noch für den Zuspruch allfälliger privatrechtlicher Ansprüche
eine Lösung finden läßt“, so ist gewiß dagegen nichts einzuwenden.
Allein es muß — und damit greifen wir der Erörterung der straf¬
prozessualen Bestimmungen des Entwurfs vor — entschieden bekämpft
werden, wenn Art III Punkt 13, bezw. 25 den §§ 2S0 und 464
StPO, die Bestimmung beigefügt wissen will: „Gegen Urteile, in
denen im Verfahren gegen Jugendliebe von dem Ausspruche einer
Strafe abgesehen und nur eine Ermahnung erteilt wurde, kann weder
Nichtigkeitsbeschwerde noch Berufung ergriffen werden“, bezw. „ist
die Berufung unzulässig“. Durch diese Bestimmung werden privat-
rechtliche Interessen Jugendlicher gefährdet, da nach § 268 ZPO.
der rechtskräftige Schuldspruch den Zivilrichter bindet. Und es wäre
wahrlich der Jugendliche, der der Begünstigung richterlicher Er¬
mahnung an Stelle von Strafverhänguug für würdig befunden wurde,
viel schlimmer daran als derjenige, bei dem die Voraussetzungen
dieser Begünstigung nicht zutreffen, wenn letzterem hier ein (wie die
Erfahrung lehrt, gerade bei kulposen Delikten nicht immer aussichts¬
loses) Rechtsmittel zustünde, während für jene die richterliche Er¬
mahnung ein Danaergeschenk eines von vornherein verlorenen Zivil¬
prozesses bedeuten würde. Auf diese Weise würde das Bagatellver-
fahren in den Strafprozeß eingeführt werden, was mit Rücksicht
darauf, daß der gegen den eines Vergehens oder einer Übertretung
Angeklagten erhobene Schadenersatzanspruch mitunter 100 K turm¬
hoch übersteigt, nicht gebilligt werden kann. Diese Erwägung scheint
uns so gewichtiger Natur zu sein, daß andere Gründe, die gegen
den geplanten Ausschluß eines Rechtsmittels sprechen, nicht erst an¬
geführt zu werden brauchen. >)
n. Der strafrechtliche Schutz Jugendlicher.
Die strafrechtlichen Normen zum Schutze der Jugendlieben
erfahren durch Art. II des Entwurfs durch Einführung mehrerer
1) Die richterliche Ermahnung schließt ja auch bedingten Straferlaß für
später aus, ist also folgenschwerer als mitunter Geldstrafe; auch aus diesem Grund
ist die Unanfechtbarkeit nicht am Platz!
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Die österreichische Regierungsvorlage betr. strafrechtliche Behandlung usw. 279
Übertretungstatbestände (§ 6 Entw.) eine Ergänzung. Der § 1 dieses
Artikels wendet sich gegen
a) Mißbrauch jugendlicher Arbeitskraft.
Verboten wird die Verwendung einer noch nicht sechszehnjährigen
Person zu einer Produktion, Schaustellung oder ähnlichen Vorführung,
die für sich allein oder vermöge der besonderen Verhältnisse, denen
sie den Unmündigen oder Jugendlichen aussetzt, geeignet ist, dessen
Körper, Gesundheit oder Sittlichkeit zu gefährden.
Das Verbot richtet sich nicht nur 1. gegen die Veranstalter solcher
Vorführungen, sondern auch 2. gegen jene Personen, denen die Obhut
Unmündige^ oder Jugendlicher nach dem Gesetze oder nach über¬
nommener Pflicht obliegt und die die Verwendung zu einem der ge¬
nannten Zwecke zulassen. Diese Übertretung wird in richtiger kriminal-
politischer Würdigung des Umstandes, daß die einen wie die anderen
nur das Motiv der Habsucht leitet, kumulativ mit Arrest von drei
Tagen bis zu drei Monaten und mit Geldstrafe von hundert bis zu
tausend Kronen bestraft.
b) Gefährdung durch den Genuß von Alkohol
wird in den §§ 2 und 3 unter Strafe gestellt. Diese Bestimmungen
bezwecken den Schutz lediglich Unmündiger, nicht auch anderer
Jugendlicher.
„Wer beim Ausschanke oder Kleinverschleiße von geistigen
Getränken oder beim Handel mit diesen Getränken einem Unmündigen,
der sich nicht in Begleitung einer erwachsenen Person befindet, geistige
Getränke zum eigenen Genüsse verabfolgt oder deren Verabfolgung zu¬
läßt, wird wegen Übertretung mit Arrest von einem Tagebis zu sechs
Wochen oder an Geld von zehn bis zu fünfhundert Kronen bestraft.“
Diese Bestimmung soll zufolge Art. VII die Vorschriften des
Gesetzes vom 19. Juli 1877 RGB. Nr. 67 ’) unberührt lassen und in
dessen Geltungsgebiet keine Anwendung finden.
Eine schwerere, im § 3 mit Arrest von drei Tagen bis zu drei
Monaten oder mit Geldstrafe von zehn bis zu tausend Kronen bedrohte
Übertretung begeht derjenige, der einen Unmündigen geistige Getränke
von solcher Art oder in solcher Menge oder Häufigkeit zum eigenen
Genuß verabreicht oder verabreichen oder einen seiner Aufsicht oder
Obhut unterstehenden Unmündigen derartige Getränke genießen läßt,
daß ihr Genuß die Gesundheit oder körperliche Entwicklung des
Unmündigen zu gefährden vermag.
1) Sog. Trunkenheitsgesetz für Galizien und die Bukowina.
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280
XV. Lohsing
c) Vernachlässigung einer Erziehungs- oder Unter¬
haltspflicht.
„Wer seine Pflicht zur Erziehung oder zum Unterhalte einer
Person im Alter unter achtzehn Jahren, obschon er seine Pflicht zu
erfüllen imstande ist, in solcher Weise vernachlässigt, daß diese Person
dadurch der Gefahr der Verwahrlosung ausgesetzt wird oder sie der
öffentlichen Fürsorgeerziehung zu überweisen ist, wird wegen Über¬
tretung mit strengem Arrest von einem bis zu sechs Monaten bestraft.“
Dieser den § 4 bildenden Bestimmung, die nicht in letzter Linie
eine Besserung der tristen Lage vieler unehelicher Kinder herbeizuführen
imstande ist, muß zugestimmt werden. Doch was die zivilrechtliche
Vorfrage anlangt, würde es sich empfehlen, die §§ 5 uijd 371 StPO,
dahin zu formulieren, daß pro futuro nicht nur hinsichtlich der Giltig¬
keit einer Ehe, sondern auch der Feststellung der Vaterschaft die
alleinige Kompetenz des Zivilrichters gewahrt und der Strafrichter
an dessen Entscheidung gebunden werde.
d) Entehrung einer geschlechtlich unbescholtenen
jugendlichen Frauensperson.
Der unter diesem etwas pleonastisch klingenden Titel stehende
§ 5 lautet:
„Wer ein geschlechtlich unbescholtenes Mädchen, welches das
sechzehnte Lebensjahr nicht vollendet hat, zum Beischlafe verführt,
wird wegen Übertretung mit strengem Arrest von einem bis zu sechs
Monaten bestraft.“
Warum wird dieser Schutz nur dem geschlechtlich unbescholtenen
Mädchen gewährt? Soll denn wirklich die Tatsache, daß jemand
die Geschlechtsehre eines Mädchens verletzt hat, implicite ein Erlaubnis¬
schein für andere sein? Soll das Delikt des A für den B einen
Strafausschließungsgrund bilden? Die Worte „geschlechtlich unbe¬
scholtenes“ streiche man!')
B. Formelles Strafrecht.
Nicht nur in materiell-strafrechtlicher, sondern auch in straf¬
prozessualer Hinsicht sucht der Entwurf den modernen Forderungen
im Interesse der Jugendlichen gerecht zu werden, und zwar einer¬
seits durch eine in Art. III zusammengefaßte Reihe vod Zusätzen zur
Strafprozeßordnung, andererseits durch die in Art. IV normierten Be¬
stimmungen betreffend die Fürsorge für jugendliche Verbrecher. Zu¬
nächst kommen in Betracht
1) Wie kommt die Genotzüehtigtc dazu, strafrechtlich minder geschützt zu sein ?
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Die österreichische Regierungsvorlage betr. strafrechtliche Behandlung usw. 281
a) die durch die Neuerungen des materiellen Strafrechts
bedingten Zusätze zur StPO.
Sie sind im Art. III Z. 10—18, 20, 25—27, sowie im Art IV
§§ 1 und 2 zusamraengestellt und sollen — mit Ausnahme der bereits
erwähnten strafprozessualen Behandlung der richterlicher Ermahnung
(Art. III Z. 13 und Z. 25 Abs. 2 und 3) — im folgenden in Kürze
dargestellt werden.
Gemäß Art. IV § 1 Abs. 1 ist in jedem Falle? in dem anzunehmen
ist, daß ein Beschuldigter zur Zeit der Tat das zwanzigste Lebens¬
jahr nicht vollendet hatte, sein Alter amtlich festzustellen. Der Abs. 2
des § 1 sagt: „Ergibt sich, daß ein Beschuldigter zur Zeit der Tat
das vierzehnte Lebensjahr nicht vollendet hatte, so ist das Strafver¬
fahren gegen ihn einzustellen“, eine Bestimmung, die einerseits über¬
flüssig, andererseits mißverständlich ist. Überflüssig: denn angesichts
der strafrechtlichen Bestimmungen des Entwurfes ist es ja selbst¬
verständlich, daß in solch einem Falle das Vorverfahren einzustellen
ist; mißverständlich insofern, als arg. „Beschuldigter“ hier auch an
die bezirksgerichtliche Hauptverhandlung gedacht werden kann und
es doch sicher nicht die Absicht des Entwurfs ist, anstelle der in
solchen Fällen erforderlichen Freisprechung den in der Verhandlung
zu verkündenden; an die verhaßte absolutio ab instantia vergangener
Zeiten erinnernden Einstellungsbeschluß treten zu lassen.
In treffender Würdigung jener Lehre, die im Verbrechen eine
soziale Erscheinung erblickt und nur den Verbrecher, nicht das Ver¬
brechen bestraft wissen will, bestimmt der § 2 des Art IV:
„Die Umstände, die zur Beurteilung der geistigen und sittlichen
Reife einer Person, die das achtzehnte Lebensjahr nicht vollendet hat,
dienen, die Verhältnisse unter denen sie aufgewacbsen ist, namentlich
solche Tatsachen, die über eine Verwahrlosung Aufschluß geben können,
sowie ihre bisherige Aufführung sind zu erheben.“
Diesen Bestimmungen entspricht die des Art. III Z. 20, die zu
dem § 450 StPO, einen Zusatz des Inhalts schafft, daß, wenn der
Beschuldigte (sc. zur Zeit der Tat) noch nicht achtzehn Jahre alt ist,
die sofortige Urteilsschöpfung nur dann zulässig sein soll, wenn die
erwähnten Umstände in der Verhandlung erhoben werden können.
Der § 260 StPO, wird dabin abgeändert, daß die eventuell
erfolgende richterliche Ermahnung anstatt Strafverhängung, sowie ein
bedingter Straferlaß im Urteil Ausdruck finden (Art. III Z. 10) und
— dies ein Zusatz zu § 270 Z. 7 StPO. — begründet werden müssen
(Art III Z. 12). Mit der gemäß § 26S (Schlußsatz) StPO, zu erteilenden
Rechtsmittelbelehrung ist im Falle bedingter Aussetzung des Straf-
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282
XV. Lohsing
Vollzugs eine Belehrnng über die Folgen der Nichtbewährung zu ver¬
binden (Art. III Z. 11).
Die §§ 283, 345 und 464 Z. 2 StPO, werden durch Art. III
Z. 14, 17 und 25 dahin modifiziert, daß unter anderem auch wegen
irriger oder unbegründeter Aussetzung des Strafvollzugs oder wegen
Unterlassung der Aussetzung des Strafvollzugs die Berufung
ergriffen werden kann, welcher im letztem Falle die durch Art. III
Z. 16 und 27 entsprechend zu ergänzenden §§ 294 und 469 StPO,
aufschiebende Wirkung beilegen. Der zufolge Art III Z. 18 nach
§ 401 StPO, einzuschaltende § 401a bestimmt schließlich:
„Die Beschlüsse, durch die Vollzug einer ausgesetzten Strafe
angeordnet oder der Eintritt der Wirkung eines günstigen Verlaufes
der Bewährungsfrist ausgesprochen wird (§ 55 c St. G.), sind von der
Ratskammer des Gerichtshofes, bei dem das Verfahren in erster Instanz
anhängig war, nach Anhörung des öffentlichen Anklägers zu fassen.
Diese Beschlüsse können vom öffentlichen Ankläger und vom
Verurteilten oder von dessen gesetzlichem Vertreter mittels Beschwerde,
die binnen drei Tagen anzubringen ist, angefochten werden.
Gegen die im § 55 b St. G. bezeichneten Beschlüsse findet keine
Beschwerde statt“
b) Jugendgerichte und Vertrauenspersonen.
Art. III Z. 1 will durch einen nach § 9 StPO, einzufügenden
§ 9a Verordnungen des Inhaltes zulassen, „daß die Besorgung der
Vormundschafts- und kuratelsbebördlichen Geschäfte, sofern sie
städtischen Bezirksgerichten zustehen, nach Abschluß der Verlassen¬
schaftsabhandlung bei einem oder einigen der in derselben Stadt be¬
stehenden Bezirksgerichte vereinigt und eben diesen Gerichten auch
die Ausübung der Strafgerichtsbarkeit in folgenden Übertretungssachen
übertragen werde:
1. in Übertretungssachen, an denen Personen im Alter bis zum
achtzehnten Lebensjahre, sei es allein oder in Verbindung mit
Erwachsenen als Angeklagte beteiligt sind;
2. in Übertretungssachen nach den §§ 335 St G. begangen durch
Überschreitung eines Züchtigungsrechtes, 360, 376 bis 378, 414 bis
418, 420, 421, 607, 512 St. G., nach § 2, Z. 2, des Gesetzes vom
24. Mai 1SS5, RGBl. Nr. 89')? sowie nach Artikel II, §§ 1, 3 bis 5,
des Gesetzes vom .RGBl. Nr. . ., betreffend die
strafrechtliche Behandlung und den strafrechtlichen Schutz Jugendlicher,
1) Durchwegs Strafandrohungen gegen Gefährdung und Verletzung körper¬
licher und sittlicher Integrität.
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Die österreichische Regierungsvorlage betr. strafrechtliche Behandlung usw. 283
sofern durch diese strafbaren Handlungen Unmündige oder Jugend¬
liche gefährdet oder verletzt wurden.“
Die Idee der Jugendgerichte ist nordamerikanischen Ursprungs,
ihre Beherzigung im Entwurf ein Verdienst von Baernreither.
Zweierlei wird durch diese Institution erreicht: die völlige Absonderung
der Jugendlichen von den gar oft wiederholt rückfälligen Erwachsenen,
sodann die Möglichkeit der Zuweisung der Jugendstrafsachen an
einige wenige Richter, „die sich hiedurch“, wie die erläuternden
Bemerkungen hervorheben, „eine größere Vertrautheit mit den Eigen¬
schaften Jugendlicher und eine besondere Eignung für die Besorgung
dieses Zweiges der richterlichen Tätigkeit erwerben. Die Vereinigung
von straf- und vormundschaftsbehördlicher Gewalt ist in jenen zahl¬
reichen Fällen von Wichtigkeit, in denen die strafbare Handlung auf
Vernachlässigung der Erziehungspflichten oder auf andere Umstände
zurückzuführen ist, die ein Einschreiten im Wirkungskreise der Vor¬
mundschaftsbehörde geboten erscheinen lassen.“
Die Regierungsvorlage hat sich aber auch der Erkenntnis nicht
verschlossen, daß der angestrebte Zweck nur dann erreichbar ist, wenn
dem Strafgerichte Vertrauenspersonen (Art. IV §§ 3—5) zur Seite
stehen, die bereit sind, die Verhältnisse des Jugendlichen, sowie seine
bisherige Aufführung zu erheben und die Schutzaufsicht bei bedingtem
Straferlaß und bei bedingter Entlassung zu übernehmen. Die Be¬
stellung dieser Personen, die mittels Gelöbnisses zur Erfüllung der
übernommenen Obliegenheiten und zur Verschwiegenheit gegenüber
Dritten zu verpflichten sind, hat durch die Gerichtsvorsteher, bezw.
Strafanstaltsleiter zu erfolgen. Ihr Amt ist ein unbesoldetes Ehrenamt
und es würde sich empfehlen, diese Personen bei der Ausübung ihrer
Funktionen des privilegierten Strafschutzes des § 68 StG.') expressis
verbis teilhaftig werden zu lassen. Es ist ihnen unter Beobachtung
der Vorschriften über die Zeugeneinvernahme die Gelegenheit zu geben,
ihre Wahrnehmungen dem Gerichte, insbesondere in der Haupt-,
erforderlichenfalls in der Berufungsverhandlung mitzuteilen.
c) Verbot von Säumnisverfahren und Strafverfügungen.
Der Tendenz der Entwurfs, daß im Verfahren gegen Jugendliche
stets ihre körperliche und geistige Entwicklung, sowie die Verhältnisse
ihrer Umgebung zu berücksichtigen seien, daß m. a. W. der Richter
auf den unmittelbaren Verkehr mit dem Täter Bedacht zu nehmen
habe, entsprechen vollkommen die durch Art. III Z. 19 und 22 ge¬
planten Ergänzungen zu den §§ 427 bezw. 459 StPO., daß gegen
1) Besonderer Strafschutz öffentlicher Beamter in Dicnstesausiibung.
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XV. Lohsing
einen zur Zeit der Tat nocht nicht achtzehnjährigen Angeklagten im
Falle seiner Abwesenheit bei sonstiger Nichtigkeit weder verhandelt
noch das Urteil gefällt werden darf, ferner die durch Art. III Z. 26
erfolgende Aufnahme der Zitierung des § 459 StPO, in § 468 Z. 2
StPO., sowie die gemäß Art. III Z. 23 in Form eines Zusatzes zu
§ 460 StPO, ausgesprochene Unzulässigkeit von Strafverfügungen
gegen Personen, die zur Zeit der Tat das achtzehnte Lebensjahr nicht
vollendet haben.
d) Notwendige Verteidigung.
Der § 41 StPO, soll durch Art. III Z. 2 dahin ergänzt werden,
daß Angeklagten, die das achtzehnte Lebensjahr nicht vollendet haben,
auch vor dem Gerichtshöfe erster Instanz ein — ev. vom Amts wegen
beizugebender — Verteidiger zur Seite stehen muß und daß dem für
einen Jugendlichen von Amtswegen bestellten Verteidiger dieselben
Befugnisse wie dem Vater, bezw. dem Vormund zukomraen; diese
Bestimmung wäre dahin zu erweitern, daß der Verteidigerzwang für
alle Angeklagten, die zur Zeit der Tat noch nicht achtzehn Jahre
alt waren, eingeführt werde.
Uber diese geplante Erweiterung der notwendigen Verteidigung,
die schon lange gefordert wird, ist wohl kein Wort zu verlieren.
Eigentlich wäre nur zu wünschen, daß dieses Prinzip absoluten
Anwaltszwangs auch im Übertretungsverfahren zum Durchbruch käme.
Für dieses will Art. III Z. 21 dem § 455 StPO, als 4., 5. und 6. Absatz
folgende (gemäß der durch Art. III Z. 28 beabsichtigten Ergänzung
des § 371 StPO, konsequenterweise auch für das Berufungsverfahren
geltende) Bestimmungen beigefügt wissen:
^Einern Angeklagten, der das achtzehnte Lebensjahr nicht vollendet
hat, ist durch das Gericht ein Verteidiger für die Hauptverhandlung
von Amts wegen beizugeben, wenn der gesetzliche Vertreter an der
Straftat beteiligt ist oder wenn die geringere geistige Entwicklung des
Jugendlichen eine solche Maßnahme notwendig oder zweckmäßig
erscheinen läßt und nicht anderweitig für dessen Verteidigung gesorgt
ist. Falls die Bestellung einer in die Verteidigerliste eingetragenen
Person (§§ 39, 42) nicht tunlich ist, können zum Richteramte befähigte
Beamte oder andere geeignete Personen, die zur Übernahme
der Verteidigung bereit sind, als Verteidiger bestellt werden.
Dem von Amts wegen bestellten Verteidiger kommen hinsichtlich
der Rechtsmittel dieselben Befugnisse wie dem Vater oder Vormunde zu.
Im übrigen findet die Beigebung eines Verteidigers von Amts
wegen oder eines Armenvertreters nicht statt.“
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Die österreichische Regierungsvorlage betr. strafrechtliche Behandlung usw. 285
Gegen diesen relativen Anwaltszwang läßt sich gar viel einwenden
und es scheint hauptsächlich die Furcht vor einer allzu großen In¬
anspruchnahme unentgeltlicher Tätigkeit des Anwaltstandes zu dieser
Formulierung geführt zu haben. Nur von dieser Erwägung aus kann
diese Regelung des relativen Anwaltszwanges Billigung finden; doch
werde dem Gesetz eine derartige Form gegeben, daß die „anderen
geeigneten Personen“ niemals Laien sein dürfen; dies ist sowohl im
Interesse der Jugendlichen als auch zur Hintanhaltung der Winkel¬
schreiberei zu verlangen.
e) Prozessuale Stellung der gesetzlichen Vertreter und
Verständigung des Vormundschaftsgerichts.
Eine bedeutsame Änderung erfährt die Strafprozeßordnung dadurch,
daß den gesetzlichen Vertretern minderjähriger Personen Rechte ein¬
geräumt werden, welche sie in die Lage setzen, auch auf straf¬
prozessualem Gebiet die Interessen der ihnen anvertrauten Personen
voll und ganz zu wahren. Das dem Entwurf in dieser Hinsicht
zugrundeliegende Prinzip findet seinen Ausdruck in Art. III Z. 5,
der den § 83 StPO, in nachstehender Weise ergänzt:
„Von der Einleitung einer Voruntersuchung, der Verhängung
einer Verwahrungs- oder Untersuchungshaft, von der Erhebung einer
Anklage und von der Anordnung einer Hauptverhandlung oder Be¬
rufungsverhandlung gegen Minderjährige ist, sofern dies ohne
Verzögerung des Verfahrens geschehen kann, deren gesetz¬
licher Vertreter derart rechtzeitig zu benachrichtigen, daß ihm Gelegen¬
heit gegeben ist, von seinen ihm zustehenden Rechten Gebrauch zu
machen. Von der Verurteilung sind der gesetzliche Vertreter und
das Vormundschaftsgericht zu benachrichtigen.
Ist der gesetzliche Vertreter der Beteiligung an der strafbaren
Handlung des Minderjährigen verdächtig, so haben die vorgescbriebenen
Benachrichtigungen an ihn zu unterbleiben und es ist zum Zwecke
der nötigen Vorkehrungen im Sinne der §§ 169, 176 bis 178, 218
und 254 a. b. G. B. das Vormundschaftsgericht zu benachrichtigen.
Die Benachrichtigung des Vormundschaftsgerichtes hat ferner zu
erfolgen, wenn der gesetzliche Vertreter wegen einer an seinem Pflege¬
befohlenen verübten strafbareu Handlung verurteilt wird, oder wenn
sich ergibt, daß der gesetzliche Vertreter seine Erziehungs- oder Unter¬
haltungspflichten vernachlässigt oder daß ein Jugendlicher zum Bettel
oder zu einem unsittlichen Lebenswandel verleitet oder verwendet
wurde, sowie überhaupt in allen Fällen, in denen eine Vorkehrung
Archiv für Kriminaianthropologie. 29. Bd. 10
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286
XV. Lohsinc.
oder Vorsorge des Vormundschaftsgerichtes notwendig oder nützlich
erscheint“
Auch hier Isollte nicht das Alter des Beschuldigten zur Zeit des
Prozesses, sondern zur Zeit der Prozeßeinleitung maßgebend sein;
denn sonst könnte es sich gar leicht ereignen, daß dem gesetzlichen
Vertreter die ihm durch den Entwurf zugedachten Rechte nur bis zu
einem gewissen Prozeßstadium zustehen und er mitten im Prozeß
gewissermaßen automatisch abtreten muß, was gewiß ganz zwecklos
wäre. Auch sollte mit Rücksicht auf die Natur des Strafrechts als
jus publicum der Ausdruck „Minderjährige“ durch „Personen, die das
vierundzwanzigste Lebensjahr nicht vollendet haben,“ ersetzt werden.
Daß aber unter allen Umständen in den zitierten Bestimmungen des
Entwurfs ein ganz bedeutender Fortschritt liegt und ein durch und
durch moderner Gedanke sich verkörpert, ist unbestreitbar.
Die einzelnen Rechte des gesetzlichen Vertreters sind folgende:
Er kann während des Vorverfahrens Beweisanträge stellen und während
des Vorverfahrens oder später die Aufhebung der Verwahrungs- oder
Untersuchungshaft des Beschuldigten beantragen (Art. III Z. 3: § 45a
StPO.); in der Hauptverhandlung, der ih dieser Hinsicht die Berufungs¬
verhandlung in Übertretungsfällen gleichsteht (Art. III Z.29: Ergänzung
zu §473 StPO.), kann der gesetzliche Vertreter ebenfalls Beweisanträge
stellen und tatsächliche Umstände anführen, die für die Beurteilung der
Sache von Wert sein können (Art. III Z. 9: Ergänzung zu § 246 StPO.).
Dem gesetzlichen Vertreter stehen gegen die Zurückweisungseiner An¬
träge dieselben Rechtsmittel wie dem Beschuldigten und zwar selbst
gegen dessen Willen zu (Art. III Z. 3), insbesondere das Recht des
Einspruchs gegen die Anklageschrift (Art. III Z. 7: Ergänzung zu
§ 209 StPO.), sowie gegen die Slrafverfügnng (Art. III Z. 24: Ergänzung
zu § 264 StPO.); warum nicht auch gegen Versäumnisurteile, ist aller¬
dings nicht einzusehen. Hier liegt vermutlich ein Redaktionsversehen
vor, das mit Leichtigkeit behoben werden kann.
f) Verwahrungs- und Untersuchungshaft.
Volle Zustimmung verdient auch der durch Art. III Z. 6 geplante
Zusatz zu § 1S4 StPO.:
„Jugendliche Untersuchungsgefangene im Alter bis zum vol¬
lendeten achtzehnten Lebensjahre sind jeder für sich allein zu ver¬
wahren. Eine Ausnahme darf nur aus Rücksicht auf die Gesundheit
des Gefangenen auf Grund ärztlicher Anordnung vom Richter zuge¬
lassen werden. Auch im sonstigen Verkehr des Gefangenhauses ist
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Die österreichische Regierungsvorlage betr. strafrechtliche Behandlung usw. 287
die Trennung der Jugendlieben von andern Gefangenen derart durch¬
zuführen, daß jede Berührung zwischen ihnen ausgeschlossen ist.“
Der Unterschied von der lex lata, die die Untersuchungshaft
,,soviel als möglich“ im Einzelhaft vollstreckt wissen will, liegt in
der obligatorischen Natur dieser Bestimmung.
g) Ausschluß der Öffentlichkeit.
Durch Art. III Z. 8 sollen in die StPO, nach § 231 folgende
Bestimmungen als § 231a eingeschaltet werden:
„Gegen einen Angeklagten, der das achtzehnte Lebensjahr nicht
vollendet hat, findet die Hauptverhandlung stets unter Ausschluß
der Öffentlichkeit statt; dies gilt auch dann, wenn Erwachsene
mitangeklagt sind, vorausgesetzt, daß nicht die Verhandlung gegen
sie abgesondert geführt werden kann (§ 57). Außer den Personen,
die in § 230 dieses Gesetzes und in Artikel IV, §§ 3 bis 5 des Ge¬
setzes vom.. RGBl. Nr. . ., betreffend die strafrecht¬
liche Behandluug and den strafrechtlichen Schutz Jugendlicher, be¬
zeichnet sind, können die Eltern und Pflegeeltern, der Vormund und
der Arbeitgeber des Angeklagten bei der Verhandlung anwesend sein.
Die Verkündung des Urteils findet gleichfalls unter Ausschluß
der Öffentlichkeit statt, wenn durch die Öffentlichkeit die Besserung
oder das Fortkommen des Angeklagten gefährdet würde oder wenn
das Urteil bloß eine Ermahnung erteilt oder der Vollzug der Strafe
bedingt ausgesetzt wird.
Das Erkenntnis auf Ausschluß der Öffentlichkeit der Verhandlung
oder der Urteilsverkündung bedarf nicht der schriftlichen Ausfertigung.
Die öffentliche Verlautbarung des Inhalts einer nicht öffentlichen
Verhandlung oder eines nicht öffentlich verkündeten Urteiles ist
untersagt.“
Durch diese Bestimmung wird nicht nur in einen der leitenden
Grundsätze des modernen Strafverfahrens, sondern auch in die Ver¬
fassung (Art. 10 des Staatsgrundgesetzes vom 21. Dezember 1867,
RGB. Nr. 144 über die richterliche Gewalt) eine mächtige Bresche
geschlagen, und dies vielleicht mehr, als erforderlich oder wenigstens
angezeigt ist. An sich betrachtet ist die Durchbrechung des Prinzips
der Öffentlichkeit Jugendlichen gegenüber zn rechtfertigen. „Denn
einerseits ist es“, wie schon 1895 Otto Friedmann in seiner Schrift
„Geheime Verhandlung und Wahrung von Geheimnissen im gericht¬
lichen Verfahren“ treffend ausgeführt hat, „in der Tat richtig, daß
in dem Gedanken, vor der ganzen Welt im Gerichtssaale eine Helden¬
rolle zu spielen, mitunter ein Ansporn für die — leider in steter
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XV 7 . Lohsing
Zunahme begriffenen — Verbrechen Jugendlicher gelegen ist, und
andererseits wird durch die Öffentlichkeit des Verfahrens nur allzu¬
leicht die ganze künftige Lebensstellung infolge Eines unüberlegten
Streiches auf das Spiel gestellt. Der Ausschluß der Öffentlichkeit
ist aber hier ziemlich unbedenklich, weil im Gegensatz zu ähnlichen
rücksichtswerten Fällen hier durch die Fixierung einer ziffernmäßigen
Altersgrenze . . . die Abgrenzung der Ausnahmen sich präzise
vollziehen läßt und weil bei den von Jugendlichen verübten Ver¬
brechen nach deren überwiegenden Charakter nicht in gleichem Maße
ein allgemeines Interresse an öffentlicher Erörterung besteht, wie bei
den Verbrechen Erwachsener.“ Gegen den Grundsatz des Entwurfs»
die Strafrechtspflege über Jugendliche unter Ausschluß der Öffentlich¬
keit auszuüben, ist gewiß nicht nur nichts einzuwenden, sondern sogar
eine Änderung des Entwurfs in der Richtung zu wünschen, daß nicht
das Alter des Angeklagten zur’Zeit der Verhandlung, sondern das zur
Zeit der Tat maßgebend sei Keineswegs wird durch den Ausschluß
der Öffentlichkeit die Rechtspflege leiden; denn einerseits wird der
Kreis der Personen, die gemäß § 230 StPO, zu geheimer Verhand¬
lung Zutritt haben, bedeutend erweitert, andererseits für die Verteidigung
Jugendlicher in ausgiebigerem Maße als bis jetzt Vorsorge getroffen.
Allein es kann nicht gebilligt werden, daß auch gegen Erwachsene
einzig und allein aus dem Grunde der Konnexität mit Jugendlichen
geheim verhandelt werde. „Sind solche gemeinsam mit Jugendlichen
angeklagt, so wird,“ wie Fried mann sagt, „allerdings die Rücksicht
auf Letztere eine geheime Prozedur für die Ereteren nicht zu recht-
fertigen vermögen — wohl aber wird diese Rücksicht genügen, um
eine Absonderung der Verhandlung im Sinne der §§ 57 und 58 behufs
geheimer Durchführung der gegen Jugendliche anzuberaumenden zu
verfügen.“ Der Entwurf allerdings knüpft den Ausschluß der Öffent¬
lichkeit gegen mitangeklagte Erwachsene an die Voraussetzung, „daß
nicht die Verhandlung gegen sie abgesondert geführt werden kann
(§ 57)“; aber gerade diese Fassung ist recht bedenklich, da sie von
der durch keine Bestimmung des geltenden Strafprozeßrechts zu
rechtfertigenden Annahme ausgeht, daß es Fälle gibt, in denen gegen
mehrere Täter nur in gemeinsamem Verfahren verhandelt werden
darf. Darum würde es sich empfehlen, bei Konnexität von Straf¬
sachen Jugendlicher und Erwachsener im Gesetz anzuordnen, die
üauptverhandlung gegen diese von der gegen jene abgesondert durch¬
zuführen.
Daß unter Umständen auch die Urteilsverkündung unter Aus¬
schluß der Öffentlichkeit stattfinden kann, ist nur die Folge der
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Die österreichische Regierungsvorlage betr. strafrechtliche Behandlung usw. 289
Tendenz, die Öffentlichkeit aus Schonung für den Angeklagten aus¬
zuschließen.
Nur den letzten Absatz des § 23t a möchten wir etwas modifiziert
sehen, da das generelle Verbot, ein nicht öffentlich verkündetes Urteil
zu verlautbaren, nicht zu empfehlen ist. Ganz abgesehen davon, daß
es Fälle gegeben hat und auch in Zukunft geben kann, in denen in
der Flucht in die Öffentlichkeit die ultima ratio der Verteidigung liegt
darf man doch zumindest der wissenschaftlichen Kritik nicht in dieser
Weise den Mund verbinden; freilich kann eine wissenschaftliche
Erörterung darauf verzichten, die Angeklagten mit Namen zu nennen.
Darum würde es wohl genügen, wenn lediglich die öffentliche Ver¬
lautbarung unter Namensnennung verboten, dieses Verbot aber auch
auf meistens recht überflüssige Abkonterfeiung jugendlicher Übeltäter
ausgedehnt würde.
h) Die Stellung des Privatanklägers.
Teils nur in einem losen, teils in gar keinem Zusammenhänge
mit dem übrigen Inhalt des Entwurfs sind jene Bestimmungen, die
Art. III Z. 4 dem § 50 StPO, als 3. und 4. Absatz beifügen will;
in einem losen Zusammenhang insofern, als hier die den Jugendlichen
als Privatanklägern zugedachte Stellung geregelt wird, in gar keinem
Zusammenhang insoweit, als diese Bestimmungen in gleicher Weise
auch für Geisteskranke zu gellen haben.
Für Jugendliche unter achtzehn Jahren, sowie für Personen, die
wegen Geisteskrankheit unter Kuratel stehen, soll das Recht zur
Privatanklage, sofern das Strafgesetz nichts anderes bestimmt, durch
deren gesetzliche Vertreter ausgeübt werden. Bei lnteressenkollision
ist — unter Hinweis auf das Zivilrecht — ein Kollisionskurator zu
bestellen. Diese Bestimmungen über die Privatanklage haben auch
für die Privatbeteiligung zu gelten.
Minderjährige über achtzehn Jahre können ihre Rechte als Privat¬
ankläger und als Privatbeteiligte selbständig wahrnehmen, bezw.
durch einen Verteidiger in ihren Namen wahrnehmen lassen. „Letztere
Befugnis steht auch Minderjährigen zu, die das erwähnte Alter noch
nicht erreicht haben, wenn sie nach dem Strafgesetze zur selbständigen
Ausübung des Klagerechtes berechtigt sind“, wodurch jedoch die
zivilrechtlichen Bestimmungen über die Voraussetzungen und den
Umfang der Verpflichtungen aus dem Bevollmächtigungsvertrage
nicht berührt werden.
Ob es notwendig ist, für die strafprozessuale Stellung Geistes¬
kranker als Privatankläger, bezw. Privatbeteiligte besondere Normen
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290
XV. Loh sing
zu schaffen, sei dahingestellt In dieser Hinsicht sowie bezüglich
Minderjähriger als Privatbeteiligter dürften wohl schon de lege lata
die Bestimmungen des bürgerlichen Hechts anwendbar sein und wenn
die Praxis, wie gerne zugegeben sei, vielfach anderer Ansicht ist, so
sei demgegenüber daraufhingewiesen, daß hier Abhilfe zu schaffen
zunächst eine Sache der Judikatur wäre, die im Wege der Nichtig¬
keitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gar leicht zu einer
autoritativen Äußerung veranlaßt werden könnte. Meint trotzdem die
Regierung, daß mit den bestehenden Normen nicht auszukommen
sei, so liegt ja gewiß nichts daran, wenn diese Streitfragen der Praxis
durch die Legislative gelöst werden.
Allein an der gegenwärtigen Stellung des Minderjährigen als
Privatanklägers sei nicht gerüttelt. Daß diese Frage strittig war,
sagen allerdings die erläuternden Bemerkungen; daß sie es noch
ist, kann jedoch nicht behauptet werden, da bereits seit langer Zeit
die Praxis die selbständige Ausübung des Privatanklagerechts lediglich
von der vollendeten Mündigkeit abhängig macht Und dafür, daß
es auch pro futuro so bleibe, sprechen folgende Erwägungen. Ohne
die weitgehenden grundsätzlichen Unterschiede zwischen Zivil- und
Strafprozeß irgendwie verkennen zu wollen, soll doch auch für
letzteren daran festgehalten werden, daß, wer passivprozeßfähig ist,
auch die aktive Prozeßfähigkeit haben soll. Gewiß soll für (mündige)
Minderjährige der gesetzliche Vertreter einschreiten dürfen; aber
obligatorisch soll diese Bestimmung nicht sein. Gegen eine derartige
konkurrierende Möglichkeit der Ausübung des Privatanklage-
recbts ist gewiß nichts einzuwenden; aber soll die Selbständigkeit
hiezu dem Jugendlichen genommen werden? Man denke nur an
unsere jugendlichen Hilfsarbeiter, deren Zivilprozeßfähigkeit in ihren
meisten Angelegenheiten angesichts des § 2 ZPO. nicht bestritten
werden kann. In solchen Zivilsachen, denen eine eminente wirt¬
schaftliche Bedeutung innewohnt, kommt den Minderjährigen das
jus standi in judicio zu; wenn aber solch ein Jugendlicher beschimpft
wird, dann soll es nicht von ihm allein abhängen, ob er die richter¬
liche Entscheidung anrufen darf? Im Kampf ums tägliche Brot die
Leute selbständig angestrengt arbeiten lassen, bei Angriffen auf ihre
Ehre, die oft ihr Alles, mitunter gar die condicio sine qua non ihres
Berufs ist, ihnen die Selbständigkeit nehmen, diese Leute, die ziel¬
bewußt und strebsam arbeiten, oft sogar ihre Angehörigen unter¬
stützen, dann, wenn ihre Ehre verletzt ist, auf einmal nicht nur
coram publico bevormunden, sondern direkt von der Laune und Be¬
quemlichkeit ihres gesetzlichen Vertreters derart abhängig machen,
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Die österreichische Regierungsvorlage betr. strafrechtliche Behandlung usw. 291
daß, wenn dieser den Termin verschläft, sein Sohn oder ".Mündel noch
Prozeßkosten zu zahlen hat, das ist ein allerdings kolossaler Wider¬
spruch, ganz unvereinbar mit dem in unsern Tagen so gepriesenen
Grundsatz der „Erziehung zur Mannhaftigkeit.“ Und darum wäre
es wohl besser, wenn Art. III Z. 4, dessen Bestimmungen ohnedies,
wie auch die erläuternden Bemerkungen zugeben, „nur in einem
losen Zusammenhänge mit dem übrigen Inhalte des Entwurfes stehen“
und dessen besondere Hervorhebung jener Fälle, in denen ungeachtet
der vorgeschlagenen Neuerung auch Minderjährige unter 18 Jahren
„nach dem Strafgesetze zur selbständigen Ausübung des Klagerechtes
berechtigt sind“, recht unverständlich ist, einfach gestrichen würde.
* *
♦
Haben die letzten Bemerkungen zu der Ansicht geführt, daß der
Entwurf den Umfang der Materie zu weit faßt, so können wir uns
der Erwägung nicht verschließen, daß er manches Problem ungeregelt
und somit manche Streitfrage aufkommen läßt.
Hierbei sei an die Bedeutung einer Verurteilung im Ausland ge¬
dacht Welchen Einfluß wird diese für die Rehabilitation, sowie für
die Fragen, ob richterliche Ermahnung anstatt Strafe, ob bedingter
Straferlaß und bedingte Entlassung nach inländischem Recht zulässig
sein sollen, haben? Diese Fragen können keineswegs durch den
Hinweis darauf aus der Welt geschafft werden, daß das österreichische
Strafgesetz auf den Inländer ohne Rücksicht auf die Natur und den
Begehungsort des Delikts Anwendung zu finden habe. Man denke
nur an folgende Möglichkeiten: Dem jugendlichen Inländer wurde
im Ausland bedingter Straferlaß zuteil, obwohl nach österreichischem
Recht keine Voraussetzungen hiezu Vorlagen. Oder der ausländische
Jugendliche wurde im Ausland verurteilt und ist in der Folge In¬
länder geworden. Oder ein ausländisches Gericht hat einen jugend¬
lichen Inländer verurteilt, dem hierzulande ein Strafausschließungs¬
grund zustatten gekommen wäre. Gilt in all diesen Fällen jemand
im Inland als vorbestraft? Hat er jeden Anspruch auf die den
Jugendlichen begünstigenden Maßnahmen verwirkt? Im Rahmen
dieser lediglich der Kritik des Entwurfs geltenden Ausführungen
scheint es von ziemlich nebensächlicher Bedeutung zu sein, wie man
diese Fragen löst, gegenüber der Forderung, daß der Entwurf diese
Fragen nicht ungeregelt lasse.
Bedauerlich ist es auch, daß die vielfach aufgestellte Forderung
nach Zulässigkeit ratenweiser Abstattung von Geldstrafen') nicht be-
1) Dies wäre ebenfalls ein Grund dafür, die Rebabilitationsfrist nicht erst
mit dem dem völligen Erlag der Geldstrafe folgenden Tag beginnen zu lassen.
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292
XV. Lohsixg
rücksicbtigt wurde. Wenn wirklich die redliche Absicht besteht,
Jugendliche, die geringfügigere Delikte begangen haben, vor dem
verderblichen Einfluß jener Gesellschaft, die gerade die bezirks¬
gerichtlichen Gefängnisse, in welchen die Durchführung des Prinzips
der Individualisierung bekanntlich die meisten Schwierigkeiten zu
überwinden hat, bevölkert, zu bewahren, dann darf im Entwurf eine
Bestimmung nicht fehlen, durch welche pro futuro die nicht zu
billigende Erscheinung beseitigt werde, daß die gerichtlich zuerkannte
Geldstrafe durch die zwingende Macht der Armut in Haft ver¬
wandelt werde.
*
Kann man dem vorliegenden Entwurf auch nicht in allen Einzel¬
heiten zustimmen (dieses Los teilt er mit jedem Entwurf), so vermag
dies doch an der Tatsache nichts zu ändern, daß wir es mit einer
Vorlage zu tun haben, die eine Fülle wahrhaft moderner Reform¬
wünsche zu verwirklichen ehrlich bestrebt ist und daher Zustimmung
verdient. Unter günstigen Auspizien ist der Entwurf entstanden;
aus den einmütigen Bestrebungen eines Kinderschutzkongresses, bei
dessen eifriger Arbeit jeder politische Gegensatz verstummte, ist dieser
Entwurf hervorgegangen. So sehr ein Pessimismus angesichts so
manches resultatlos abgetanen Strafgesetzentwurfs gewiß berechtigt
sein mag, möge er doch angesichts dieser Vorlage nicht platzgreifen.
Wenn es gelingt, diesen Entwurf zum Gesetz zu machen, dann ist
nicht nur frisches Grün um das alte Gemäuer des österreichischen
Strafgesetzes geschlungen, sondern dann ist auch der künftigen Straf¬
gesetzreform im besten Sinne des Wortes vorgearbeitet und zwar in
einer Weise, welche die gegenwärtig schwer zu widerlegende Be¬
hauptung, daß die österreichische Strafgesetzgebung rückständig sei,
in das Reich der Fabel verweist.
bv Google
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Kleinere Mitteilungen.
Von Medizinalrat Dr. P. Nficke.
1 .
Sexuelle Perversitäten bei Tieren. Auf dieses Thema, das
icli schon wiederholt behandelte, zurückzukommen veranlaßt mich das kürz¬
lich erschienene, vortreffliche Buch von R. Müller: Sexualbiologie etc.
(Berlin, Marcus 1907), worin ziemlich eingehend darüber berichtet wird.
Mit Beeilt mahnt Verf. überall zur größten Vorsicht bei Deutung der Tier¬
psychologie, da nur zu leicht hier Anthropomorphismus mit unterläuft. Leider
ist er selbst dieser Gefahr nicht ganz entgangen! So spricht er z. B. (S. 49)
von ..Notzuchtsakten“ z. B. beim Truthahn. Hier liegt bloß wieder
Analogie, nicht Identität vor. Das Tier hat keine Ahnung davon, was Not¬
zucht ist. Es ist hier nur Exzeß des Geschlechtstriebs oder Unmöglichkeit
solchen zu befriedigen. Darauf beruhen wahrscheinlich auch die Begattungs¬
akte zwischen Stieren und Stuten, also zwischen verschiedenen Tierarten.
Müller meint, daß die Domestikation daran schuld sei, weil sie die Nerven-
reizbarkeit erhöhe. Dem ist wahrscheinlich so. Verf. spricht weiter von
sadistischen Akten. „Normal scheint der Sadismus bei manchen niederen
Tieren“ (S. 50), wo bei der Begattung die Weibchen sich am Männchen
vergreifen, so bei der Spinne, dem Krebse. Auch das Beißen der höheren
Tiere während der Begattung ist bekannt und Verf. scheint sie für sadistische
Akte zu halten. Das sind sie aber nicht, da sie nur den Ausdruck höchster
Wollust darstellen. Echter Sadismus wie Masochismus scheint
bei Tieren nicht vorzukommen. Jener ersetzt entweder den Koitus
ganz oder bildet erst einen Reiz zum folgenden Akte, gewiß nur selten den
Abschluß desselben, was dann aber nur Ausfluß der exzessiven Erregung
darstellt. Das Beißen etc. bei Tieren (auch bei Menschen), findet aber bloß
während des Aktes statt, nie vorher, ist also kein echter Sadismus. Auch
echte Homosexualität ist bis jetzt bei Tieren nicht sicher
nachzuweisen. Wohl kommt es z. B. vor (S. 52), daß bei Mangel oder
Fehlen des anderen Geschlechts gewisse Kühe „eine geschlechtlich aktive
Rolle bei ihren Genossinnen“ übernehmen, oder hei Gänsen, Enten, Fasanen
ähnliches beobachtet wird (die sogen. Hahnenfedrigkeit). Letztere Fälle
erklärt Verf. als einen Akt der Notwehr, was offenbar ganz falsch ist. Es
ist nur ein Exzeß der libido, unterstüzt durch einen maskulinen Typus,
aUo Durchbruch des anderen Geschlechtskomponenten. Solche Akte erwähnt
Verf. (S. 181 ff.) bei niederen und höheren Tieren unter bestimmten Um¬
ständen (Fehlen von Weibchen z. B.) und hält echte Homosex. für immer¬
hin möglich. Ich kenne keinen solchen Fall von echter Päderastie, d. h.
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294
Kleinere Mitteilungen.
coitus in anum, auch nicht bei Insekten, wie Sektionen bewiesen. Yerf.
glaubt mit Recht, es könne sich (er spricht allerdings von einem bestimmten
Falle) auch um blinde geschlechtliche Gier handeln. Das sehen wir, meine
ich, namentlich in den Fällen, wo brünstige Hunde, wenn keine Hündinnen
zur Stelle sind, koitusartige oder onanistische Bewegungen an Menschen
(Männern oder Frauen) und sogar an Bäumen vollziehen. Man müßte
also beweisen, daß bei Tieren eine wirkliche gleichgeschlecht¬
liche Empfindung sie zu solchen Akten triebe und nicht bloße
Gier. Dieser Beweis ist wohl überhaupt nicht zu erbringen, da
man nicht weiter in die Tierpsyche eindringen kann. Schon der Umstand
spricht dagegen, daß wohl alle Tiere, bei denen angeblich homosexuelle
Akte beobachtet wurden, zugleich bei passender Gelegenheit normal ge¬
schlechtlich sich verhielten. Es wäre hier höchstens bisexuelles Empfinden
einzuwenden. Man sieht jedenfalls, daß, mit Ausnahme der Onanie,
bisher keine einzige sexuelle Perversion und Perversität bei
Tieren einwandsfrei aufgezeigt worden ist, wir also vorläufig
nicht berechtigt sind zu sagen, die Wurzel dieser Aberrationen
reichten bis zum Tiere herab. Es handelte sich bisher immer
nur um Analogie, nicht Identität.
2 .
Meuterei in einer Zentralanstalt für geisteskranke Ver¬
brecher. Unter den verschiedenen diesem Unterbringungssysteme anhaftenden
Nachteilen steht nicht an letzter Stelle die Meuterei. So lesen wir z. B.
kürzlich (vom 25. Aug. 1907) in den „Dresdner Nachrichten* folgendes:
.,1m Hospital für geisteskranke Verbrecher des Staates Newyork in
Dannemora kam es zn einer gefährlichen Meuterei. Die Kranken verbarri¬
kadierten sich in den Schlafsälen und versuchten die Mauer zu durchlöchern,
um die Flucht zu ergreifen. Es entspann sich ein zweistündiger Kampf
zwischen den tobenden Meuterern und den Aufsehern. Diesen gelang es,
unterstützt durch eine große Anzahl Bewohner des Ortes, die Wahnsinnigen
zu überwältigen. Ein Irrsinniger wurde getötet, dreißig wurden verwundet.*
Man sieht, die Sache war ernsthaft genug und ist gewiß dort nicht
zum ersten Male beobachtet worden, ebenso wie in Matteawan, der zweiten
neuen Anstalt für geisteskranke Verbrecher und verbrecherische Irre. Die
Einrichtungen sind gut, aber doch für solche Insassen nicht genügend.
Jedenfalls kennt man dort nicht die ausgedehnte Bettbehandlung und kleinere
Räume, wie sie gerade für solche Kranke nötig sind. Auch Broadmoor
läßt hierin viel zu wünschen übrig und daher waren, früher wenigstens,
Komplotte Äc. an der Tagesordnung. Auch heute wird es kaum andere
geworden sein, zumal diese und die amerikanischen Anstalten chronisch
überfüllt sind. Von den schlecht eingerichteten italienischen sind allerlei
Nachteile von vornherein verständlich. Auch betonen fast alle Zentral¬
anstalten, daß es für Aerzte und Pflegepersonal durchaus keine Annehm¬
lichkeit ist, mit solchen Elementen zu verkehren, liier gilt es vor allem:
divide et impera, d. h. nur möglichst kleine Abteilungen zu schaffen, viel
Einzelzimmer, einige feste Isolierzellen und besonders ausgedehnte Bett-
behandlung für solche, die nicht beschäftigt werden können. Nicht zuletzt
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Kleinere Mitteilungen.
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auch viel gutes und gut bezahltes Personal! Dann wird es gehen, aber
sicher nie so glatt wie in einer gewöhnlichen Irrenanstalt und Komplotte etc.
werden sich nie ganz vermeiden, freilich dann leichter unterdrücken lassen.
3 .
Muttermal und Diebstahl, von Bülow berichtet in seinem schönen
Aufsatze zum Geschlechtsleben der Samoaner (Anthropophyteia IV, 1907,
p. 90), daß wenn eine Schwangere etwas stiehlt, dies „irgendwo in schwarzer
Farbe sich auf dem Körper des demnächst geborenen Kindes abzeichnen
und so die Untugend der Mutter offenkundig machen“ würde. Verf. sah selbst
auf der ganzen linken unteren Seite des Rumpfes einer Frau ein schwarzes
Muttermal, von dem die Eingeborenen sagten, es sei die Zeichnung des Leber¬
lappens eines Schweines, das die Mutter entwendet und gegessen habe. Mutter¬
male erregten von jeher die Phantasie, doch spielt dabei meist dämonischer
Einfluß mit, Behexung. Bei den Samoanern dagegen ist es Strafe. Ob
Aehnliches sonst noch vorkommt, weiß ich nicht.
4.
Gibt es Rassenunterschiede in den Tätow-ierungen? Im
Zentralbl. für Anthrop. 1907, S. 331, untersuchte Verbaeck ca. 5000 Personen
in der prison des Minimes zu Brüssel, keine eigentlichen Verbrecher. Er
konstatierte Unterschiede der Tätowierungen je nach den Nationalitäten. In
dem Referate daselbst (von Buschan) heißt es: „Die französische Tatuierung
ist üppig, lebhaft, wenig sorgfältig ausgeführt, abwechselnd amüsant,
sarkastisch, rachgierig oder lasterhaft, charakterisiert durch Phantasie und
Übertriebenheit sowohl in der Zeichnung, als auch in der Form, hingegen
die deutsche Tatuierung korrekt, kalt, steif von vorzüglicher Ausführung,
dezent in der Form wie in der Bedeutung, mechanisch. Verf. erblickt in
diesen Verschiedenheiten einen Ausdruck der Psychologie beider Völker.
Die belgische Tatuierung endlich ist bescheidener, häßlicher, weniger
geistreich, dafür aber naiver und aufrichtiger, mehr von religiösem Gefühl
zeugend. Daher finden wir hier militärische Embleme und Inschriften,
Initialen von Eltern und Freunden, Erinnerungen an die Liebe, ferner Ab¬
zeichen des Sports, der Hahnenkämpfe, der Taubenliebhaberei u. a. m.“
Leider sind zu wenig Fremde im Verhältnis zu Einheimischen untersucht
worden, um so wichtige Schlüsse zu gestatten. Man sollte dies an eigent¬
lichen Verbrechern und zwar nach den einzelnen Kategorien und Bildungs¬
graden, an möglichst großem und der Zahl nach gleichem Material unter¬
suchen. Die Ansicht des Verfassers hat allerdings viel Bestechendes. Wer
z. B. die z. T. schönen Tätowierungen in dem Werke Perrier's: les
criminels (Paris, Lyon 1900) mit den einfachen, phantasielosen bei Baer
(der Verbrecher) vergleicht, wird wohl zu obigem Resultate gelangen müssen.
Übrigens sind die französischen Tätowierungen, die ich kenne, durchaus
nicht w'enig sorgfältig ausgeführt. Bei den Romanen überhaupt scheinen
rachsüchtige und pornographische Darstellungen häufiger als bei den
Germanen zu sein. Wenn die Belgier nach Verf. eine Mittelstellung ein¬
nehmen, so ist es wohl durch die Zusammensetzung des romanischen und
germanischen Elements. Beide müssen getrennt werden, um für die Psycho¬
logie der Romanen und Germanen Verwendung zu finden. Verf. spricht
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296
Kleinere Mitteilungen.
endlich von „erblicher“ Tätowierung' Das ist ein ganz falscher Ausdruck.
Selbst wenn Vater und Sohn tätowiert sind, so ist von Erblichkeit
keine Hede, nur von Nachahmung im gleichen Milieu, allenfalls bei ähn¬
licher psychopathischer Konstitution.
5.
Erotische Tätowierungen. In dem von Dr. Krauß in Wien
herausgegebenen ganz ausgezeichneten Werke: Anthropophyteia, Bd. IV,
1907 (Leipzig, Deutsche Verlagsaktiengesellschaft), S. 75 ff. hat Lüdecke
sehr interessante Beobachtungen über den obigen Gegenstand gemacht, aller¬
dings nicht ohne hier und da in den Schlüssen zu weit zu gehen. Er behauptet
vor allem: „die Tätowierung als sekundärer künstlicher Geschlechtscharakter
tritt auf teils bei lediglich vorhandener Libido, teils bei starker Potenz und
Libido* '). Er führt hierfür Beispiele auf, besonders Athleten und Artisten.
Das ist ■viel zu weit gegangen! Gerade diese Klasse hält sich meist von
Bacchus und Venus möglichst fern, weil sie für die Ausübung ihres Berufs
Nachteile befürchten, und das sicher oft mit Recht. Da es schwer hält,
die richtige Mitte zu finden, ziehen sie es vor lieber ganz abstinent zu sein.
L.’s Beispiele sind also Ausnahmen! Noch viel öfter treten obige Charaktere
ohne Tätowierung auf, wie wir alle Tage sehen können. Ob die Täto¬
wierung, wie weiter L. sagt, vor allem (beim Manne) ein „Symbol der
Stärke und Grausamkeit“ ist, erscheint mir sehr zweifelhaft. Oft sind ganz
schwächliche Männer tätowiert und starke nicht! Ob die Stärke durch
erotische Bilder noch erhöht w-ird, ist mir ebenso fraglich, wie daß Pelz¬
werk, Juwelen, Haarfrisur usw. des Weibes direkt auf sexuelle Anomalien
des Mannes hinweisen sollen. Daß die Japaner meist tätowiert sind, spricht
auch noch lange nicht für ihre starke Geschlechtslust. Diese scheint viel¬
mehr geringer zu sein als bei den Chinesen und ihre sexuelle Moral ist
sogar, wie Krauß in seinem ausgezeichneten Buche über das Geschlechts¬
leben in Japan jüngst zeigte, durchaus keine niedrige. Lüdecke behauptet
auch, daß bei Matrosen und Arbeitern der Hintere „sehr häufig“ tätowiert
sei. Ich behaupte das Gegenteil. Ich habe solches speziell bei Arbeitern
noch nie gesehen. Das Fazit ist also: die libido mag bei den erotischen
Emblemen mitspielen, mehr aber wirken hierbei andere Faktoren, wie Nach¬
ahmung, Langeweile, Renommage usw.
6 .
Das Zu-Tode-Kitzeln. Herr A. Abels schrieb mir aus München
den 2. Nov. 1907 folgendes: „II. Ellis Gattenw'ald p. 18 spricht über das
„Kitzeln zu Tode“. Halten Sie das für möglich? .... Diese (sc. die
berüchtigte Giftmischerin Tofana) soll (der Sage nach) c. nach Halle: Gift¬
historie 1707, Menschen an Füßen aufgehängt, diese, Hände und Seiten
gekitzelt haben. Endlich bedeckt ein Tau von brennendem Angstschweiß
die fliegende Brust, die tödliche Beklemmung, der fehlende Atem wird er¬
stickend, und es erfolgen gewaltsame Zuckungen usw. Dem langsam
Sterbenden steigt ein wilder Schaum der Wut aus dem Munde herauf
und diesen sammelt die .... Furie in ein Gefäß. Also einerseits den
1) Dieser Satz ist im Texte fast ganz gesperrt gedruckt.
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Kleinere Mitteilangen.
297
Speichel, anderseits den abgekratzten Angstschweiß. Beide „Gifte“ lassen
keine Spuren zurück. Das ist natürlich Phantasie, aber soweit es den
Speichel anbetrifft, ein Ideechen Realität Was sagen Sie dazu?“ Nun
ist sicher das zu Tode kitzeln keine bloße Chimäre gewesen. Im 30jährigen
Kriege geschah es oft und zwar so, daß man dem Bauer usw. die Fu߬
sohlen mit Salzlake bestrich und sie von Ziegen ablecken ließ. Ähnliches
(aber nicht durch Ziegen) geschah in den Albigenserkriegen. Noch heut¬
zutage wird im Oriente davor gewarnt, als Einzelner in die Nähe
von unbewachten Ziegenherden zu kommen, da diese den einsamen Wan¬
derer überfallen und in ihrem Salzhunger förmlich zu Tode lecken (die
Haut ist immer etwas salzig schmeckend!). Die Summation der peripheren
Reize, die an gewissen Stellen, wie gerade an den Fußsohlen, das Kitzel¬
gefühl auslösen, ist so groß, daß sehr wohl reflektorisch Herzshok und
damit Tod eintreten kann. Daran ist nicht mehr zu zweifeln!
Ob die berüchtigte Giftmischerin Tofana wirklich Menschen in der
besagten Weise zu Tode gekitzelt hat, weiß ich nicht In jener barbarischen
Zeit wäre es allerdings nicht ganz unmöglich gewesen. Interessant
ist für uns die Notiz, daß sie den Schweiß und den Speichel der
Sterbenden zu Vergiftungszwecken gesammelt habe. Es fragt sich nun:
sind diese Exkrete wirklich giftig? Normaler Schweiß und Speichel ist
es für den Menschen bei Einnehmen durch den Mund nicht. Nun ist es
allerdings wahrscheinlich, daß durch anhaltende und furchtbare reflektorische
Reizung durch das Kitzeln der Stoffwechsel insofern ungünstig beeinflußt
würde, als Giftstoffe sich bilden könnten. Ob sie aber derart wären, daß
wirklich eine wenn auch nur allmähliche Vergiftung der Menschen eintreten
könnte — und die Spezialität der Tofana war es gerade, ganz langsam
zu vergiften! — das ist doch mehr als fraglich. Hier könnten Tier¬
experimente wohl Licht verbreiten, doch wären sie grausam und überflüssig,
da die ganze Frage eigentlich nur historisches Interesse hat. Übiigens
nehmen viele an, daß die verrufene Aqua Tofana (besonders viel s. Zt.
in Italien und Frankreich verwandt) Arsenik enthalten habe. Sicheres
weiß man aber wohl darüber nicht. Schweiß und Speichel spielen zwar
auch noch jetzt eine gewisse Rolle als Ingredienzen zu abergläubischen
Praktiken (besonders Schweiß), doch tritt der Vergiftungsgedanke ganz
zurück. Sie sind vielmehr Bannungsmittel, Philtra, und werden auch
wohl nur unter normalen Verhältnissen den Menschen entnommen, nicht
erst im Sterben usw.
7.
Exhibitionismus und Aberglauben. Krauß sagt in seinem
schönen Werke: „Das Geschlechtsleben in Glauben, Sitte und Brauch
der Japaner“ (Leipzig 1907, Deutsche Verlagsaktiengesellschaft) S. 27
hierüber folgendes: „Wo man die Zumptgötter zur Abwehr böser Geister
nicht zur Hand hat, hilft man sich im japanischen Volke durch Entblößung
der Geschlechtsteile oder des Gesäßes, oder auch man malt die betreffenden
Zeichen ans Haus oder an den zu behütenden Gegenstand. In beiden
Fällen ist es ein Exhibitionismus, im ersteren ein vorübergehender, persön¬
licher, im letzteren ein dauernder sachlicher . . . Hierbei müssen wir uns
erinnern, daß das Entblößen der Geschlechtsteile bei vielen Völkern als ein
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Kleinere Mitteilungen.
unfehlbares Mittel angesehen wird, um die Dämonen zu verscheuchen.“
Freilich bei den Kulturvölkern findet der Brauch nicht mehr statt, aber
nach Krauß entblößen z. B. noch jetzt die Siidslavinnen ihren Hintern zur
Abwehr böser Geister. Bei uns geschieht zwar Ähnliches auch, aber nur
als Zeichen tiefster Verachtung 1 ), und mir ward einmal erzählt, daß aus
gleichem Grunde früher gewisse feudale Grundherren in Mecklenburg coram
publico, wenn dies aus Arbeitern etc. bestand, urinierten. Etwas Ähnliches
mochte wohl ein Fürst denken, als er sans gene im Manöver vor dem
Publikum sein Wasser abschlug, wie mir glaubwürdigerweise mitgeteilt
ward. Schon früher berichtete ich einmal, wie auch bei den Römern
Amulette, einen Penis darstellend, gern getragen wurden, und das „fare la
fica“, wie es noch jetzt in Italien zum Abwehren des bösen Blickes usw.
gemacht wird, ist nichts als eine Darstellung des Genitale.
8 .
Der „Tropenkoller“. Schon früher habe ich denselben einma
berührt und finde nun in dem ausgezeichneten Aufsatze von v. B ü 1 o w über
das Geschlechtsleben der Samoaner 2 ) folgende interessante Auslassung:
„Das häufige Auftreten des „Tropenkollers“ bei Mitgliedern der Kultur¬
völker ist aber wohl nicht eine Folge der erhöhten Temperatur allein, son¬
dern auch der langandauernden geschlechtlichen Abstinenz während der
Seereise und der durch den sonst ungewohnten, fortgesetzten Anblick un¬
bekleideter menschlicher Körper in den Tropenländern bewirkten geschlecht¬
lichen Erregung und hat daher, statt seines euphemistischen Namens
„Tropenkoller“, im Volksmund den zwar etwas vulgären, dafür aber zu¬
treffenderen Namen „Samenkoller“ erhalten. Dieser Zustand hat sich in
allen Tropenländern gezeigt und ist nicht bei einzelnen Ständen allein,
sondern bei allen Ständen aufgetreten .... Er äußerte sich durch erhöhte
Reizbarkeit des Nervensystems, in übertriebener Erregbarkeit des Geschlechts¬
triebes .... In anderen Fällen zeigte sich übermäßiges Selbstgefühl,
welches sich bei hohen Beamten in dem Erlaß unmotivierter Verordnungen
(„Grußordnungen“ usw.) äußerte; bei anderen trat Verfolgungswahn und
Denunzianten-Unwesen, unmotivierte Grausamkeit, übertriebenes Ehrgefühl,
Weichheit gegen die Eingeborenen, Schärfe gegen die eigenen Landsleute,
getrübtes Rechtsbewußtsein und dergleichen in Erscheinung . . .“ Die
Symptome hat v. B ü 1 o w im allgemeinen gut getroffen, die Ätiologie aber
nicht erschöpft. Zwei wichtige Ursachen, die wichtigsten vielleicht, hat er
nämlich vergessen: 1. daß wahrscheinlich die meisten Leute,
welche „Tropenkoller“ zeigten, psychopathische Personen
sind und 2. der Alkohol, dem sie auch in den Tropen huldigten, mit¬
half. Auch die oft unbeschränkte Macht, das Fehlen von andern Weibern,
die Kontrastwirkung mit ihrem Kitzel usw. sind nicht zu unterschätzende
Faktoren.
1) Als letzte Ausläufer dieser offenbar früher allgemein verbreiteten An¬
schauung sind jedenfalls gewisse Redensarten anzuschen, die noch im Volke gang
und gäbe sind, z. B. „leck’ mich doch am A . . . e“.
2i In Anthropophyteia etc. Bd. IV, Leipzig, Deutsche Verlagsaktiengesell-
schaft. 1007, p. S4 ff., speziell p. SG.
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Kleinere Mitteilungen.
299
9.
Sexuelle Belehrung der Jugend. Dr. Sternthal hat, wie ich
einer Notiz in der „Politisch-Anthropologischen Revue 1906, S. 484, ent¬
nehme, einen Vortrag vor den Abiturienten aller höheren Lehranstalten
Braunschweigs gehalten, der sie vor Eintritt ins freie Leben über
Geschlechtskrankheiten und Alkoholismus belehren sollte. Der Berichter¬
statter wünscht, daß derselbe als Sonderdruck allen Abiturienten überreicht
werden sollte. Gewiß ist ihm Recht zu geben und manches Unglück
könnte dadurch wohl verhütet werden. Besser freilich wäre es, wenn min¬
destens schon den Primanern in einer besonderen Stunde über diese Dinge
Vortrag gehalten würde, eventuell mit Illustrationen. Ja, angesichts der
Tatsache, daß leider in den großen Städten bereits in den mittleren Klassen
nicht selten schon Schüler tripperkrank etc. werden, müßten vielleicht
schon in diesen Klassen passende Winke gegeben werden, in den untersten
Klassen dagegen bez. der Onanie und ihrer eventuellen Gefahren, wobei
es wenig ausmacht, wenn man hier etwas stark aufträgt. In Mädchen¬
schulen sollte — am besten seitens einer dazu passenden Lehrerin — nach
dem Pubertätsalter gleichfalls eine gewisse Belehrung bez. der sexualia und
ihrer Gefahren stattfinden und das ließe sich hier am besten an den hygienischen
Unterricht anschließen. Es würde sich auch erwägen lassen, ob die Belehrung
von Schülern und Schülerinnen nicht am zweckmäßigsten durch einen älteren
Arzt geschehen könnte, vielleicht könnte das der Schularzt besorgen. Ent¬
schieden vorteilhaft endlich wäre es, wenn auf Hochschulen aller Art gewisse
publica vor allen Semestern über Geschlechtskrankheiten und Alkoholismus
gelesen werden könnten, wozu dann selbstverständlich nur die Mediziner
berufen wären. Was die Volksschulen betrifft, so wäre das Nötigste vom
Lehrer den Schülern in der letzten Klasse mitzuteilen, auch den Mädchen,
eventuell durch eine Lehrerin oder die Lehrersfrau. Die Hauptsache sollte
als „Merkblatt“ kurz und bündig den Abgehenden ausgehändigt werden,
doch würde Mißbrauch damit wohl zu leicht getrieben, weshalb dasselbe
besser erst den Soldaten beim Eintritt in den Dienst zu geben wäre.
Hier ist es besondere geraten, da bekanntlich leider ein hoher Prozentsatz
derselben geschlechtskrank werden und viele dadurch sich, ihre Frauen und
ihren Nachwuchs unglücklich machen auf Lebenszeit. Weniger wird man
jedenfalls erreichen, wenn man die Erwerbung solcher Krankheiten als
Sünde hinstellt, als wenn man, ohne allein die Moral zu betonen, auf die
mannigfachen Schäden hin weist, das Verantwortlichkeitsgefühl des einzelnen
zu wecken sucht und nicht bloß Abstinenz predigt, die gewiß nur von der
Minderzahl befolgt würde, sondern Maßregeln angibt, um den Gefahren
einer Ansteckung möglichst zu begegnen. Man sieht also, daß der Medi¬
ziner hier meist andere denken und handeln wird, als der Theologe im
allgemeinen.
10 .
Geschlechtsbestimmung. In einer interessanten Arbeit hat
Luise Dr. Robinovitsch l ) sich mit obigem Thema beschäftigt. Ihre Leit-
1) The Genesis of Sex. The Journal of Mental Pathologv. vol. VIII, No. 1.
100t'». p. l(j ss.
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300
Kleinere Mitteilungen.
sätze sind folgende. Die höchste Lebensenergie während der Menstrualzeit
entwickelt die Frau ungefähr 10 Tage vor Beginn der Periode. Empfäng¬
nis zu dieser Zeit ist geeignet, einen Knaben zu erzeugen. Den jüdischen
Vorschriften bez. des Beischlafs ist wahrscheinlich der relative größere
Knabenüberschuß zuzuschreiben. In zivilisierten Gegenden nimmt der
Überschuß der Frauen ab (noch lange nicht stricte bewiesen! Näcke); dort
finden Heiraten auch erst auf der Höhe der größten neuromuskulären Kraft
statt. Akademisch gebildete Frauen heiraten später und mehr akademisch
Gebildete, als die anderen; sie bringen mehr Knaben hervor als weniger
gebildete Frauen. Alle diese Tatsachen lassen sich vernünftigerweise nur
so erklären, daß in zivilisierten Ländern der Geist und die neuromusku¬
läre Kraft höher sind als in den mehr zurückgebliebenen und daß diese
hohe Kraftanhäufung sicher einen entschiedenen Einfluß auf Knabenüber-
schuß haben muß. So könnte man, wenn das Verhältnis weiter als sicher
sich ergeben wird, auch die Geschlechtsbestimmung vornehmen.
Verf. hat hier sehr wahrscheinlich 2 wichtige Punkte der Geschlechts¬
bestimmung erläutert, freilich noch nicht einmal ganz sicher. Die Haupt¬
schwierigkeit beruht darin, daß der Tag der Empfängnis nur in den
seltensten Fällen feststeht. Dann sind aber sicher eine Reihe noch
unbekannter Momente mitwirkend. Wie erklärt sich z. B. nach obiger
Theorie die Tatsache, daß in Hunger , Not- und Kriegsjahren mehr
Mädchen als Knaben geboren werden? Auch ist es bekannt, daß
das Verhältnis von Knaben- zu Mädchengeburten vielfach innerhalb enger
Grenzen schwankt, daß jedoch fast überall zunächst mehr Knaben geboren
werden, deren Sterblichkeit aber eine größere ist. Sehr wichtig wäre es
das Geschlecht der Fehlgeburten zu bestimmen, wenn es möglich
ist. Dies ist, so viel ich weiß noch nicht geschehen. Ob es schließlich wirklich
ein Glück wäre hier der Natur künftig vorzugreifen, erscheint mir etwas
problematisch, da dann wahrscheinlich das Mißverhältnis beider Geschlechter
zu einander und zwar zu Gunsten des weiblichen, ein noch viel größeres
sein würde als jetzt und eine Regulierung fast unmöglich erscheint Nutzen
direkt würde es nur haben für dynastische Interessen oder um Majorate
festzuhalten. Viel beträchtlicher freilich wäre der Nutzen zur Vererbung
von Talenten und Genies, doch wäre dies stets ein unsicheres Unternehmen.
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Besprechungen.
i.
Pagel: Grandriß eines Systems der Medizinischen Kulturgeschichte.
Berlin 1905, Karger, 112 S. 2,80 Mk.
Hier liegen Vorlesungen an der Berliner Universität über besagten
Gegenstand vor. Es war ein schweres und ziemlich neues Unternehmen
und besonders gewagt, da es sich darum handelte, den gewaltigen Stoff
in größter Kürze zu behandeln. Im ganzen ist der Versuch sehr wohl
gelungen und jeder wird daraus viel, nicht am wenigsten auch allgemein
Kulturhistorisches lernen können. Verf. behandelt der Beihe nach die
Theologie in der Medizin, die Homöopathie und die mystischen Bichtun¬
gen des 19. Jahrhunderts, Volksmedizin, weibliche Ärzte, die Medizin in
der Theologie, die medizinische Beligion, die Philosophie in der Medizin,
Becht und Medizin, die Medizin in der Welt- und Staatengeschichte,
Medizin und Belletristik, Dichtung und Kunst, endlich Mediziner als
Mathematiker, Statistiker, Pädagogen, geadelte Mediziner etc. Daß bei
einem so ungeheuren Umfange manches Subjektive mit unterläuft, ist ver¬
ständlich und verzeihlich. Dies gilt besonders für die modernen Zeiten,
wo man über den Begriff „berühmt“ etc. verschiedener Meinung sein kann,
da eben noch die Beurteilung keine ganz objektive ist. Ziemlich
überflüssig erscheint es, zu wissen, welche Mediziner geadelt wurden etc.,
oder welche an Prinzessinnen oder große Schauspielerinnen verheiratet
waren, oder welche 100 Jahre erreichten. Das hat höchstens nur feuille-
tonistisches Interesse, aber kaum kulturhistorisches, und dürfte am wenigsten
in Vorlesungen vor Studenten Platz finden.
Dr. P. Näcke.
2 .
Dam mann: Die geschlechtliche Frage. Leipzig 1908, Teutonia-Verlag,
185 S. 2,50 Mk.
Gute populäre Aufklärung über sexuelle Dinge ist ebenso notwendig,
als sie leider selten ist. Ein ganz vorzügliches Buch hierüber ist das
genannte, das für die reife Jugend geschrieben ist und in der Tat nicht
besser hätte ausfallen können. Über die Fortpflanzung, den Geschlechtstrieb
und seine Verirrungen, die Geschlechtskrankheiten, über Enthaltsamkeit,
Ehe, Prostitution, öffentliche Sicherheit und Batschläge für Liebe und Ehe
wird hier das Nötigste in würdiger und interessanter Weise gegeben, so
daß auch jeder erwachsene Laie davon profitieren kann. Man muß fast
Archiv für Kriminal an thropologie. 29. Bd. 20
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Original frum
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302
Besprechungen.
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überall dem Verf. beistimmen. Nur geringe kleine Einwendungen hätte
Bef. zu machen. Er glaubt doch, daß im ganzen der Geschlechtstrieb
der Frau ein geringerer ist als beim Mann, und daß durchaus nicht nach
dem Beischlafe die Liebe sich immer dort steigere. Sicher sieht ferner
die Frau mehr auf geistige Vorzüge des Mannes, als umgekehrt. Bef.
glaubt auch nicht, wie Verf. sagt (S. 80), daß von 100 Männern im
Alter von 35 Jahren mindestens 92 einen oder mehrere Tripper über¬
standen und mindestens 60 syphilitisch sind. Das dürfte höchstens für
Weltstädte gelten! Ferner gehen sicher die Perversitäten in den Bordells
öfter von den Kunden, als von den Mädchen aus. Ob die Homosexuali¬
tät wirklich krankhaft ist, ob unter den Urningen mehr Nervöse sind*
ist noch lange nicht bewiesen. Sehr anfechtbar ist auch der Satz (S. 135),
daß schon in uralten Zeiten meist die Ehe auf Lebenszeit bestand, ohne
andere vorangehende Zustände. Falsch ist es sicher, daß die Zuhälter
lediglich für ihre Liebe bezahlt würden. Unerfindlich ist auch dem
Bef., wie zwischen Braut und Bräutigam eine Aussprache über die ge¬
schlechtlichen Verhältnisse möglich sein soll. Doch das sind alles kleine
Ausstellungen. Das Buch sollte jeder gebildete Laie lesen und seinen
erwachsenen Kindern zu lesen geben.
Dr. P. Näcke.
3.
Heilpädagogische Umschau. Marhold, Halle 1906.
E. Schulze, ein Lehrer in Halle, gibt mit zwei anderen Lehrern
seit Herbst 1906 unter obigem Titel monatliahe Hefte heraus (Jahrgang
kostet 10 Hk.), die 1) Beferate und 2) Bücherbesprechnngen über alles,
was in dies Gebiet fällt, enthalten. So wird also Anatomie, Physio¬
logie, Pathologie der Kinder insbesondere, namentlich aber der schwach¬
sinnigen, aber auch der taubstummen und blinden, berücksichtigt, vor
allem mit Bücksicht auf die Therapie der Erziehung. Das Forensische
nimmt natürlich einen großen Platz ein; auch sonst werden manche Grenz¬
gebiete berührt. Die Beferate etc. sind kurz, vielleicht oft etwas
zu kurz, da hie und da fast nur Kapitelangaben gemacht werden.
Diese Umschau ist also für die verschiedensten Kreise sehr wichtig, und
wer nicht Zeit, Lust oder Gelegenheit hat, die Originalien zu lesen, wird
froh sein, hier in aller Kürze die Quintessenz des Wissenswertesten zu
erhalten. Die vorliegenden Nummern halten ihr Programm treu ein, und
auch Juristen sei daher diese neue Umschau bestens empfohlen.
Dr. P. Näcke.
4.
Woltmann: Die Germanen in Frankreich. 'Jena, Diederichs, 1907,
151 S. 60 Bildnisse. 5 Mk.
Hatte Verf. in einem früheren Bande die Germanen und ihren Ein¬
fluß in Italien studiert, so tut er dies in gleicher, gründlicher und inter¬
essanter Weise mit den Germanen in Frankreich, als ein wichtiger Bei¬
trag für die anthropologische Geschichtsauffassung, die die einzige Zukunft
hat. Freilich wird letztere dabei auch das Milieu und die geistigen F&k-
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Besprechungen.
303
toren berücksichtigen, das Entscheidende bleibt aber immer die Rasse.
Diese enthält das anthropologische Moment, im Gegensatz za Volk und
Staat. Es wird dann gezeigt, daß Frankreich Kurz- und Langköpfe hat,
wie andere Völker auch, erstere sogar in erschreckendem Maße zu¬
nehmen, worin ein Hauptzeichen des Niedergangs des französischen Volkes
gesehen wird. Ref. faßt die Sache nicht ganz so pessimistisch auf, da
ähnliches auch bei uns stattfindet. In Kürze wird uns die Einwanderung
der verschiedenen deutschen Stämme in Frankreich dargelegt und ihr
Einfluß auf Staat, Kirche, Kunst, Literatur etc. Endlich werden 250
berühmte Franzosen (bis zur Neuzeit) anthropologisch untersucht und wird
gefunden, daß die Mehrzahl davon anthropologisch entschieden dem germa¬
nischen Typus angehört und nicht dem kurzköpfigen, wie ähnlich es auch
Verf. in Italien und Spanien nachweisen konnte. Er hat mit seinen
schönen Untersuchungen unwiderleglich den ungeheuren Einfluß der Ger¬
manen auch auf die romanische Kultur nachgewiesen, ebenso auch, daß
die Mehrzahl der romanischen Genies und Talente anthropologisch von
Germanen abstammen.
Dr. P. N äck e.
5.
Moebius, Über Scheffels Krankheit etc. Halle, Marhold, 1907, 40 S.
1 Mk.
Verf. erklärt, daß V. Scheffel an leichter dementia praecox litt,
die aber nur sein dichterisches Talent lähmte; der chronische Alko¬
holismus erscheint nur sekundär. Man kann dem Verf. kaum darin
Recht geben, und die Art, wie er apodiktisch in psychiatrischen
Sachen urteilt, er der psychiatrisch nie wissenschaftlich geschrieben
hat, soviel Ref. wenigstens weiß, auch nicht als Fach-Psychiater gilt,
ist abzuweisen. In einem Anhänge verteidigt er seine Diagnose, daß
Schumann an dementia praecox gelitten, gegen einen Fachmann, natür¬
lich wieder in apodiktischem Tone. Er ist in gewisse Ideen verrannt,
und nichts kann ihn davon abbringen, so z. B. bez. des Genies, der Art
der Vererblichkeit von Talenten etc., von der wir trotz Moebius noch recht
wenig wissen, bez. der Psychologie und Metaphysik der Gallschen Lehre etc.
Alle Gegenargumente, daß die Paralyse z. B. wahrscheinlich durchaus nicht
immer durch Syphilis entsteht, diese in den betr. Fällen wahrscheinlich
nur als Gelegenheitsursache wirkt etc., machen auf ihn keinen Eindruck.
Hier, wie in vielem andern, erinnert er an Lombroso, so daß man seine
Schriften, so anregend und interessant sie auch sonst sind, doch nur mit
scharfem, kritischen Auge lesen muß, und viele Details, manchmal sogar
Hauptpunkte, erwecken direkten Widerspruch.
Dr. P. Näcke.
6 .
S. Freud: Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Zweite, vermehrte
Auflage, Berlin 1907, Karger, 132 S.
Der berühmte Verf. untersucht in geistreicher Weise verschiedene
Phänomene des täglichen Lebens, wiedas Vergessen, die Kindheitserinnerungen,
20 *
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Besprechungen.
das Versprechen, Verlesen und Vergreifen, die Symptom- und Zufallsband¬
langen, die Irrtfimer, die kombinierten Fehlleistungen, den Determinis¬
mus, den Zufalls- und Aberglauben. Jeder ersieht sofort, was das alles
für wichtige psychologische Dinge sind, nicht am wenigsten für den
Juristen. Freud versucht alle diese Phänomene „auf unvollkommen unter¬
drücktes psychisches Material, das, vom Bewußtsein abgedrängt, doch nicht
jeder Fähigkeit, sich zu äußern, beraubt worden ist“, zurückzuführen und
bringt eine Unmasse eigener und fremder Erlebnisse zur Illustration, z. T.
in sehr breiter Ausführung. Sicher hat Verf. das große Verdienst auf diese
Möglichlichkeit des psychologischen Geschehens als erster oder als einer der
ersten nachdrücklich hingewiesen zu haben und auf die großen Rolle des
Unbewußten. Leider geht es ihm hierbei, wie den meisten Entdeckern:
er überschätzt seine Entdeckung. Er behauptet, daß der von ihm geschil¬
derte Mechanismus der vorwiegende sei, während andre — und auch Ref.
gehört dazu — ihn nur relativ selten wirklich finden können. Die Bei¬
spiele des Verf.’s sind durchaus nicht alle so überzeugend, wie er glaubt und
seine Analysen oft an den Haaren herbeigezogen, manchmal in der Tat
die reinen Spielereien. Fast auf jeder Seite mußte Ref. ein Fragezeichen
machen! Das, was möglich sein kann, ist für Freud meist schon ganz
sicher, daher kommt es auch, daß in Deutschland die „Freud’schen
Mechanismen“ noch wenig Freunde gefunden haben.
Dr. P. Näcke.
7.
N. Kaufmann. Heinrich Heine contra Graf August von Platen und die
Homo-Erotik. Leipzig Spohr, 47 S.
Eis wird hier der häßliche Streit zwischen Heine und Platen wieder
aufgerollt. Heine hatte eine Ahnung davon, daß jener homosexuell sei.
Letzteres beweisen klar Platen’s Tagebücher, von denen einige Auszüge
gegeben werden. Verf. verbreitet sich endlich über die Homosexualität
und zwar im Sinne Hirschfeld’s.
Dr. P. Näcke.
8 .
Lombroso: Neue Verbrecher-Studien. Übersetzt von Dr. Jentzsch
Halle, Marhold, 4,50 Mk. 225 S. Mit Abbildungen.
Verf. appelliert hier speziell an Deutsche und behandelt darin Völker-
Rassenkriminologisches (speziell Amerika und Australien), dann Anatomisches
der Verbrecher, Physio- und Psychologisches, endlich Vorschläge zur Be¬
kämpfung des Verbrechens und gibt am Schlüsse 5 kriminalanthropologische,
mehr oder minder eingehende Untersuchungen. Dem Kenner Lombroso’s
und seiner Schüler bietet der Band nichts Neues! Vieles ist interessant
und anregend, besonders die ersten Abschnitte, doch hat Lombroso nichts
von seinen alten Theorien aufgegeben, nur daß er jetzt den
Prozentsatz der „geborenen Verbrecher“ auf 26 Proz. berechnet Er führt
bloß Schriftsteller an, die ihm günstig sind und gebraucht sein Material, wie
gewöhnlich, wenig kritisch und der Begriff: Atavismus spielt nach wie vor
eine große und unbewiesene Rolle. S. 26 sagt er: „. . . die geborenen
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Besprechungen.
305
Verbrecher, die beinahe alle Epileptiker oder moralisch Irre sind“, S. 202:
„. . . geborenen Verbrecher — der traurigsten klinischen Abart der Epi¬
leptiker — . . .“ Alles, was schon von vielen Seiten widerlegt ist, wieder¬
holt er mit röhrender Hartnäckigkeit and das seit 10 Jahren bedeutendste
Werk über Kriminalanthropologie, das von Geiil, welches ihn in fast allen
Punkten seiner speziellen Theorien schlägt, berührt er gar nicht, außer bez.
eines Punktes. Ref. glaubt kaum, daß durch diese neue Schrift Lombroso
in Deutschland sich neue Freunde gewinnen wird.
Dr. P. Näcke.
9.
Lomer: Liebe und Psychose. Wiesbaden, Bergmann, 55 S., 1907.
Elegant und geistvolle Parallele zwischen der Liebe und der Paranoia,
mit weiten Ausblicken auf Teleologie etc. Verf. stellt sie als „gemein¬
nützige und physiologische Paranoia“ der pathologischen gegenüber, und
bespricht auch ihre perversen Auswüchse. Natürlich handelt es sich immer
nur um Analogien, nicht wirkliche/! Identitäten, und somit wäre vielleicht
der Ausdruck „physiologische Paranoia“ genau so wie der des „physiolo¬
gischen Schwachsinns“ zu beanstanden. Überall verfährt Verf. naturwissen¬
schaftlich und nach den Darwinschen Prinzipien. Liebe ist ihm „ein ge¬
heimnisvolles Erkennen des für die Gattung Zweckmäßigsten.“ Leider
wird dieses Zweckmäßigste, meint Ref., fast nie wirklich erfüllt! Es ist
also höchstens ein Ideal. Und ob der Zweck der Menschheit wirklich die
Fortpflanzung ist, erscheint Ref. auch unsicher und deshalb hat man kein
Recht, meint er ferner, von der Zwecklosigkeit der Uranier zu sprechen.
Wer weiß es? Vielleicht haben sie geistige Werte zu schaffen nnd nie¬
mand wird z. B. leugnen, daß die Frauenrechtlerinnen Bedeutendes für die
Hebung der Frauenwelt leisteten und doch sind darunter scheinbar recht -r'
viel Urninden! Alles hat gewiß hienieden seinen jfoeck : wilde Tiere, Ver-
brechen etc., nur daß wir ihn oft nicht zu erkennen vermögen. Die Ähn- /■
lichkeit der Liebe mit der Paranoia sieht Verf. mit Recht 1. in der Um¬
wandlung der Persönlichkeit, 2. der Verschiebung des Werturteils und
3. dem unkorrigierbaren Mangel an gesunder Logik. Schließlich fordert
er vernünftigerweise: „Schutz und Förderung der Liebe und ihrem Kinde!
Eine vernünftige Reform der Eheschließung, und eine wirksame Gesetz¬
gebung zur Unterdrückung perverser Auswüchse!“ Das Buch sei jedem
bestens empfohlen, da jeder hier bis zu einem gewissen Grade aus Er¬
fahrung mitsprechen kann. An Einwendungen gegen Einzelnes wird es
freilich sicher nicht fehlen.
Dr. P. Näcke.
10 .
Jung: Über die Psychologie der Dementia praecox, Halle, Marhold, 1907;
179 S., 2,50* M.
Aus der Bleulerschen Schule in Zürich ist in den letzten Jahren viel
Interessantes veröffentlicht worden. Eine der vorzüglichsten Arbeiten ist
sonder Zweifel das oben angezeigte. Daß die durch Affekte erzeugten
„Komplexe“ schon im normalen Leben eine große Rolle spielen, wußte
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Besprechungen.
man schon. Daß sie aber auch bei geistigen Störungen mit agieren, zeigte
zuerst Freud an der Hysterie, dann an anderen Zuständen. Hier gibt es
durch Affekt „abgespaltene Vorstellungsreihen“, meist sexuellen Inhalts, die
also in die Tiefe versinken, aber wieder auftauchen und verschiedene
„Komplexsymptome“ setzen. Daß dies aber speziell auch bei den dementia
praecox-Fällen meist (Verf. scheint anzunehmen: stets) geschieht und wie
man durch Assoziations-Experimente und Psychoanalyse (von Freud) darauf¬
kommt und wie alle Symptome sich aus dem Prinzip der Konversion
erklären lassen, das als wenigstens sehr wahrscheinlich nachgewiesen zu
haben, ist das entschiedene Verdienst Jungs, obgleich man früher bereits eine
zentrale Störung angenommen hatte. Auch die vielen Ähnlichkeiten mit
Hysterie weist er gut nach. Die Dementia praecox hat also nach der
Jungschen Hypothese — und er drückt sich vorsichtig und bescheiden
aus — einen „abnorm stark affektbetonten Inhalt, der sich mit dem Ein¬
tritt der Krankheit stabilisiert“. Ein starkes Vortreten der Komplexe bei
den Assozationen ist die Folge. Ref. zweifelt nicht daran, daß auch bei
den übrigen Psychosen solche Komplexe eine große Rolle spielen. Diese
ganze Sache hat also eine große Zukunft! Vorläufig aber sind
die Beweise für die Komplexe nicht immer klar da und bei Erklärung der
' Assoziationen verfährt Verf. bisweilen etwas subjektiv, noch mehr bei der
der sog. „Einfälle“ oder gar bei der Psychoanalyse eines Traumes. Das
Tollste hier bringt allerdings Freud in seiner „Traumdeutung“ und seinen
Hysterieanalysen zuwege. Hier erscheinen, wie auch von anderer Seite
\ gesagt ward, manche Schlüsse geradezu kindisch und erinnern lebhaft an
das berüchtige aXdirnq^, ne£, m%, na§, nov%, Fuchs! Dabei wendet
entschieden Freud auch Suggestivfragen an und manche Fragen sind auf
psychische Onanie sehr verdächtig. Nichts ist subjektiver, als solche
Psychoanalysen symbolischer Ausdrucksweisen! Daher kann
man es exakten Forschern nicht verargen, daß sie diese wenig exakte
Methode bisher nicht anwendeten, die zudem, wie Moll richtig sagt, nicht
mehr Heilungen der Hysterie verursacht, als andere. Freilich haben wir
zurzeit keine andere Methode in die Komplexe selbst einzudringen, als die
Psychoanalyse, da die Assoziationsexperimente, die auch ihre Fehlerquellen
haben, nur an die Peripherie heranreichen. Aber nur mit äußerster
Vorsicht darf man sich der Psychoanalyse bedienen; man
hat es immer mit Möglichkeiten, nie mit Sicherheiten zu tun,
was Freud ganz vergißt! Bezüglich der Dementia praecox fragt es
sich aber, ob alle Fälle auf abgespaltenen Komplexen beruhen, ferner ob ge¬
wisse Symptome (Katatonie, Verbigeration, Halluzinationen etc.) nicht auch
eventuell anders erklärt werden können. Doch das gehört der Psychiatrie an.
Dr. P. N ä c k e.
11 .
Bericht über die Vereinigung für gerichtliche Psychologie
und Psychiatrie im Großherzogtum Hessen, 1906, Halle.
Marhold, 1907, 66 S., 1,20 M. Juristisch-psychiatrische Grenzfragen.
Zunächst sprechen darin Prof. Mittermaier und Clement über
Einrichtung von Gefängnislehrkursen. Die Thesen verlangen, theoretische Aus-
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Besprechungen.
307
bildung in der Gefängniskunde auf der Universität und in 10—14 tägigen
Kurse an großen Strafanstalten für höchstens 20 Teilnehmer (Ärzte, Juristen).
Das zunächst für Hessen. Daneben soll für die, welche sich näher mit der
Sache befassen wollen, ein 2 monatlicher Kurs nach wie vor bestehen bleiben.
Sicher sind, meint Ref., diese Vorschläge gut, wenngleich ein 14 tägiger
Kurs eben nur einen Einblick gewähren kann und mehr nicht! Interessanter
ist der 2. Teil des Heftes, der die Tätigkeit des medizinischen, speziell
psychiatrischen Sachverständigen vor Gericht behandelt. Alle Redner stimmen
für die freie Beweisaufnahme des Richters. (Ref. bemerkt nochmals,
daß in Portugal schon seit Jahren die Richter an das Urteil
des Experten gebunden sind und die Sache geht sehr gut!)
Der Richter kann die Experten wählen oder ablehnen. Mittermaier
hält es für falsch, wenn der Experte über juristische Dinge, z. B. Zurech¬
nungsfähigkeit, spricht (? Ref.). — Theobald spricht sich weiter über
Sachverständige aus und wünscht, daß diese nicht hinter, sondern vor den
Schranken ihren Platz finden. Pücking stellt den Unterschied zwischen
Sachverständigen und sachverständigen Zeugen dar und Sommer erörtert
des näheren das ärztliche Gutachten. Die Akteneinsicht erscheint fast so
nötig, als das Untersuchen. Mehrmalige Untersuchung ist geboten. Plötz¬
liche Vorladungen sind sehr bedenklich. Der Richter oder Staatsanwalt
sollten schon ganz im Anfänge das Gutachten einholen. Diejenigen sollen
es abgeben, die am besten die Vorgeschichte und den Betreffenden kennen.
Die speziellen juristischen Fragen sind zu beantworten. Das Gutachten
soll den Richter überzeugen; dann ist es gut.
Dr. P. Näcke.
12 .
Dr. James Elbert Cutler, Lynch-Law: An Investigation into the
History of Lynchings in the United States. New York, 1905.
Longmans, Green & Co. XIV u. 287 S.
Cutler's Buch über die Geschichte der Lynchjustiz ist eine zeitgemäße
Erscheinung. Es wird nicht bloß für die amerikanischen Gesetzgeber und
Verwaltungsbeamten wertvoll sein, deren Aufgabe die Verhinderung des
„nationalen Verbrechens“ ist, sondern es bietet auch dem europäischen
Leser viel Aufklärung, da alle Tatsachen gesammelt wurden, die Licht
werfen auf die Ursachen und die Praktik des Lynchens, das in den eigen¬
artigen Zuständen im Grenzgebiete der Zivilisation wurzelte, wo die gesell¬
schaftliche Organisation erst im Werden war, wo es an gesetzmäßig bestellten
Organen zur Ausübung der Rechtspflege fehlte. In sehr instruktiver Weise
wird gezeigt, wie die Methoden der Regulatoren der Kolonial- und Revo¬
lutionszeit dem Westwärtsschreiten der Zivilisation folgten und wie die von
den Volksgerichten verhängten Strafen stets schärfer wurden; denn an¬
fänglich kamen Tötungen nur ganz selten vor. In späterer Zeit lebte
die Lynchjustiz wieder auf, um den „Abolitionismus“, die Bewegung
zur Abschaffung der Negersklaverei, niederzudrücken. — Die statistische
Darstellung der von 1882 bis 1903 vorgekommenen Lynchfälle beruhtauf
dem Material, das die „Chicago Tribüne“ gesammelt hat; daraus geht
hervor, daß in dieser Periode in den Südstaaten 2585 Personen gelyncht
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Besprechungen.
wurden, daron 1985 Neger; in den Weststaaten 632 Personen, davon 523
Weiße. Von den 1985 Negern in den Südstaaten wurde 753 Mord zur
Last gelegt, 675 Notzucht, 104 Brandstiftung, 96 Diebstahl, 46 Überfall,
18 „Desperadismus“, 206 geringere Vergehen; in 87 Fällen ist die Ver¬
anlassung unbekannt Die gegenwärtig im Süden der Vereinigten Staaten
vorkommenden Lynchmorde sind zu einem großen Teil die Folge von
Mißgriffen während der Rekonstruktionszeit; eine Änderung wird erst ein-
treten, bis man gegenseitig die Verschiedenheiten des Rassencharakters
richtig verstehen lernt. Die Voreingenommenheit der Nordstaaten gegen
jede Maßregel, welche im Süden von den Weißen ergriffen wird, um eine
Lösung des Rassenproblems anzubahnen, trägt nur dazu bei, den Rassen¬
haß zu schüren. Entrüstung und Erregung über das Lynchen können es
nicht aus der Welt schaffen; es gilt vielmehr, ernste soziale Reformarbeit
zu leisten, bei der keinerlei hergebrachte Vorurteile mitspielen dürfen.
H. Fehlinger.
13.
Gilbert Thomas Stephenson: Racial Distinctions in Southern
Law. American Political Science Review, 1906—1907, S. 44—61.
Der Verfasser gibt eine Darstellung der in den amerikanischen Süd¬
staaten — den ehemaligen Sklavenstaaten — bestehenden Rechtsungleich¬
heiten, die auf der.Rassenverschiedenheit beruhen. Die in den ersten Jahren
nach der Sklavenbefreiung (1865—66) geschaffenen Gesetze, welche das
Verhältnis des farbigen Arbeiters zu seinem Arbeitsanwender regelten, die
Freizügigkeit der Neger einengten, deren Recht als Zeugen vor Gericht
aufzutreten oder als Geschworene zu fungieren beschränkten, die besondere
Gerichtshöfe für Neger vorsahen oder für Vergehen und Verbrechen der
Neger andere Strafen festsetzten als für dieselben Vergehen und Verbrechen,
wenn sie von Weißen begangen wurden — all diese Gesetze sind ent¬
weder widerrufen oder wirkungslos geworden. Andererseits wurden die
Gesetze, welche die Eheschließung zwischen Personen verschiedener Rasse
verbieten, den Unterricht in getrennten Schulen vorschreiben, sowie die,
welche verlangen, daß auf Eisenbahnen, Straßenbahnen etc. für Weiße und
Farbige besondere Wagenabteile zur Verfügung stehen müssen, in der
jüngsten Zeit weiter ausgestaltet und sie haben nun fast überall in den
Südstaaten Geltung. Mischheiraten sind in den folgenden Staaten verboten:
Arkansas, Florida, Georgia, Kentucky, Louisiana, Mississippi, Nord-Carolina,
Süd-Carolina, Tennessee und Virginien. Die Strafen bei Verletzung des
Verbotes variieren von einem Jahr Gefängnis oder 500 Dollars Geldbuße
in Süd-Carolina, bis zu lebenslänglichem Gefängnis in Mississippi. — Die
Gesetze von Alabama, Florida, Georgia, Louisiana, Mississippi, Missouri,
Nord- und Süd-Carolina, Tennessee, Texas und Virginien verlangen, daß
Kinder der weißen und der farbigen Rasse in den Schulen getrennt unter¬
richtet werden, und zwar ist die Trennung gewöhnlich in öffentlichen
Volksschulen, in einigen Staaten aber ebenso in privaten und höheren
Schulen durchzuführen. In allen Südstaaten mit Ausnahme von Missouri
und Virginien müssen auf den Eisenbahnen für Farbige eigene Wagenabteile
bereit stehen; auf Dampfbooten wird die Scheidung der Rassen in Nord-
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Besprechungen.
309
Carolina, Süd-Carolina und Virginien gefordert. Außerdem existieren Gesetze,
die ihrem Wortlaut nach zwar allgemein Anwendung zu finden haben, die jedoch
speziell für die Farbigen berechnet sind; hierher gehören z. B. die strengen
Gesetze gegen Landstreicherei, die freilich ihren Zweck, die Trägheit und
Arbeitsunlust der Neger zu beseitigen, nicht im mindesten erreichten und
auch künftighin nicht erreichen werden. — In sechs Südstaaten wurde in
derZeit zwischen 1890 und 1902 das politische Wahlrecht der Neger auf
indirektem Wege beschränkt, indem eine Bildungs- oder Besitzqualifikation
gefordert wurde. Teils nahmen die Gesetzgeber dabei auch zu der sogenannten
„Großvaterklausel“ und der „Verständnisklausel“ Zuflucht; dies sind jedoch
— mit einer einzigen Ausnahme — temporäre Vorschriften, die nur für
eine kurze Zeit Geltung haben. Es hat den Anschein, sagt Stephenson,
daß die politischen Rechtsungleichheiten langsam verschwinden, während
alle übrigen bestehen bleiben und Verschärfungen erfahren werden; denn
diese Rechtsungleichheiten bezwecken, die Rassen überall da von einander
zu trennen, wo die Gefahr besteht, daß es zu Reibungen, zum Ausbruch
des Rassenhasses, kommen kann. Sie sind der Ausdruck des zwischen
Weißen und Farbigen in allen Gesellschaftsschichten bestehenden Gegen¬
satzes, den zu beseitigen kein geschriebenes Gesetz vermag.
H. Fehlinger.
14.
J. A. Farrer mit einer Einführung von Andr. Lang, deutsch
von Fr. J. Kleemeier „Literarische Fälschungen“. Leip¬
zig 1907. Theod. Thomas.
Die meisten der dargestellten, hauptsächlich auf englischem Boden
entstandenen Fälschungen sind nicht krimineller Natur oder sind es wenig¬
stens nicht geworden, gleichwohl ist das Buch für den Kriminalisten von
größter Wichtigkeit, da es die begangenen Fälschungen klar und wissen¬
schaftlich exakt darstellt und darauf hinweist, welch’ große Anzahl von
anderen Fälschungen noch in der Welt kreisen und gläubig als echt hin¬
genommen werden; namentlich seien von den Autographen, die große Werte
darstellen, überraschend viele falsch, und betrügerischer Weise in den
Handel gebracht worden. Besonders interessant sind die Kapitel über den
zweifellos gelehrten, überaus geschickten Simonides, über den die Akten
noch lange nicht geschlossen sind, die Dekretalenfälschungen, der Chatter-
tonschwindel, die falschen Lutherautographen, die Geschichte vom Fälscher
Lucas. die Briefe der Königin Marie Antoinette etc.
Jeder Kriminalist, der mit solchen Fälschungen zu tun bekommt,
erhält in diesem Buche viele der besten Aufklärungen. H. Groß.
15.
Prof. Dr. Franz Liszt: Die Reform des Strafverfahrens.
Berlin 1907. F. Guttertag.
Es waren zufällige Gründe, die mich veranlaßten, diese wichtige Schrift
erst jetzt zu besprechen und auch jetzt bringe ich nur eine Angabe ihrer
Hauptpunkte, v. Liszt führt aus, daß die von der Kommission für die
Reform des St.P. gemachten Vorschläge keine Verbesserung, sondern eine
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310
Besprechungen.
beträchtliche Verschlechterung des Strafverfahrens bedeuten. Es sei ein
schwerer Fehler gewesen, den St.P. vor dem mat. StR. in Angriff zu
nehmen, die Dreiteilung der strafbaren Handlungen nicht aufzugeben und
eine große Kommission beraten zu lassen, ohne ihr eine bestimmte Grundlage
zu bieten. Dadurch habe es an großen, leitenden Gesichtspunkten gefehlt
und dem Gang der Verhandlungen mangelte jedes persönliche Moment;
man habe nicht festgestellt, warum das Vertrauen in die Strafrechtspflege
erschüttert sei. Die Richter seien von Standesanschauungen befangen und
die Motive der beamteten Richter seien die, mit denen man nicht zufrieden
sei. Die Vorschläge für eine neue Gerichtsverfassung seien schablonenhaft
und viel zu kompliziert; das Schwurgericht sei ein Weltinstitut, die angeb¬
lich schlechten Erfahrungen seien nicht erwiesen, sie seien leicht zu ver¬
bessern ; man könne einen Teil der Rechtsbelebrung im voraus geben und
die Abstimmung sowie schon die Beratung der Geschworenen z. B. durch
den Vorsitzenden des Gerichtshofes leiten lassen. Dann könnte man auch
Gründe zum Wahrspruch verlangen. Die Frage der Berufung sei anders
zu lösen und die Wiederaufnahme nicht einzuschränken, sondern auszubanen.
Die Voruntersuchung sei zu beseitigen, wie die Kommission den Eröffnungs¬
beschluß richtiger Weise entfernen will. Allerdings gibt v. Liszt dem Vor¬
schläge Kahls Recht, die Voruntersuchung für gewisse Fälle doch beizu¬
behalten. Kollusionshaft dürfte entbehrlich sein und die körperliche Unter¬
suchung unverdächtiger Zeugen sei unzulässig, wenn sie erzwungen werden
muß. H. Gro ß.
16.
Si egfried Weinberg „Über den Einfluß der Geschlechts,
funktion auf die weibliche Kriminalität. (Aus Zürich
psyeb. Grenz fragen.) Halle 1907. C. Marhold.
Gute Zusammenstellung der von Frauen in den maßgebenden Perioden
(Pubertät, Menstruation, Schwangerschaft und Mensespause) besonders be¬
gangenen Delikte. ' H. Groß.
17.
J. Feddersen „Das Schwurgericht. Unter Berücksichtigung
der Rechtssprechung des Reichsgerichts für die Praxis
dargestellt“. Berlin 1907. Otto Liebmann.
Eine recht gute systematische Behandlung des Schwurgerichtsverfahrens,
für Vorsitzende, Anwälte und Geschworene in Deutschland. Die Verwertung
der obersten Rechtssprechung ist sehr eingehend, das Buch bequem zu¬
sammengestellt. H. Groß.
18.
Edwin Bale: Hypnotismus und Ehe, Hypnotismus und Nervo¬
sität, Hypnotismus und Willenskraft Berlin 1903.
H. Schildberger.
Drei kleine Heftchen, deren Zweck man nicht recht versteht; sie
bringen nichts Neues und könnten höchstens zu Laienversuchen anregen,
die stets als bedenklich zu bezeichnen sind. H. Groß.
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Besprechungen.
311
19.
Johannes Guttzeit. Ein dunkler Punkt. Das „Verbrechen gegen
das keimende Leben“ oder die Fruchtabtreibung.
2. Auflage. Leipzig- Max Spohr. Ohne Jahreszahl.
Auch ein, zum mindesten überflüssiges Buch, von einem Laien für
Laien. Was das Volk von dieser, so schwierigen Frage zu wissen braucht
ist: Abtreibung ist verboten und ihre Mittel sind entweder nutzlos oder
auch für die Mutter verderbenbringend. Das wissen die Leute ohnehin.
Im übrigen lasse man die Sache den Sachverständigen: Juristen, Aerzten
und Sozialpolitikern, sie ist für diese ohnehin schwierig genug, ein Laie
bringt nur Verwirrung und Gefahren hinein. H. Groß.
20 .
Dr. Adelbert Düringer, Reichsgerichtsrat: „Nietzsches Philo¬
sophie vom Standpunkte des modernen Rechts.“ Leip¬
zig, Veit & Comp. Ohne Jahreszahl.
Das schön ausgestattete Buch behandelt in verschiedenen Abschnitten
Nietzsches Philosophie und den Staat, dann ihr Verhältnis zur Frau, den
Nebenmenschen und endlich ihre Relationen zum Verbrechen. Das Buch
behandelt in einer, von Fachkenntnis und philosophischer Bildung zeugenden
Weise Nietzsches Philosophie in abfälliger Weise — uns interessiert nur
das letzte Kapitel, in welchem Nietzsche als Determinist geschildert und
seine Verachtung des Strafrechts dargestellt wird; er bestreite jede subjek¬
tive Schuld, schildere die Psyche des Verbrechers nicht richtig und nenne
die Moralität den Herdeninstinkt im Einzelnen; sein Standpunkt sei der
des Verbrechers selbst, er behaupte: Die Ausbeutung anderer sei vornehm
und verdienstvoll und Reue sei ihm verächtlich.
Der Wert des Buches will mir nicht einleuchten. Nietzsche muß ent¬
weder eingehend studiert oder ganz beiseite liegen gelassen werden. Wer
ihn studiert, findet die genannten Daten selbst, popularisiert kann alles eher
werden als Nietzsches Philosophie; ich hasse alles Popularisieren der Wissen¬
schaft, aber Philosophie popularisieren ist am wenigsten möglich und wenn
es geschieht, ist es entweder erfolglos oder schädlich: man kann allerdings
die Ergebnisse seines eigenen Denkens anderen zur Verfügung stellen, aber
für die andern denken kann man nicht. Also doch: Entweder Nietzsche
studieren oder sich nicht um ihn kümmern. H. Groß.
21 .
Heinrich Lammasch: Grundriß des Strafrechts. Dritte, be¬
richtigte und ergänzte Auflage. Leipzig, Dunker &
Humblot, 1906.
Die Vorzüge dieses ausgezeichneten Grundrisses, der wohl in den
Händen jedes Öster. Kriminalisten ist, treten in der neuen Auflage noch
deutlicher hervor: Denkbarste Kürze und vollkommene Verständlichkeit,
erschöpfende Behandlung der Literatur und Übersichtlichkeit des Gegebenen,
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312
Besprechungen.
Vornehmheit und Klarheit der Sprache — das ist noch keineswegs alles
was sich zu Gunsten des Buches sagen läßt Daß es streng auf dem
Boden der klassischen Schule steht, ist bekannt. H. Groß.
22 .
Raymond de Ryckfere „la Servante criminelle, tätude de
criminologie professionelle.“ Paris, A. Maloine, 1908.
Es war wohl einer unserer größten Denker, G. Tarde, der auf die
Wichtigkeit der „professionellen Kriminalität“ zuerst hingewiesen hat, und
wir haben heute sicher noch keine Vorstellung, wie weit uns derartige
Studien bringen können. Wir glauben, daß wir zuerst werden feststellen
müssen, welchen Einfluß eine gewisse Profession, Stellung, Beschäftigung etc.
auf die Psyche des Betreffenden ausübt, d. h. was sie aus ihm gestaltet,
worauf wir untersuchen können, in welcher Richtung sich seine Kriminalität
entwickeln muß. Daß, sagen wir kurz: die Profession eines Menschen mit
seiner Kriminalität in naher und zweifelloser Berührung steht, das wissen
wir, die Beweise und Belege sind allerdings zum größten Teil erst zu
schaffen.
Einen außerordentlich wichtigen, hochinteressanten, durch unzählige
Beispiele belegten Beitrag hat der berühmte belgischee Kriminalsoziolog
Rycköre in dem vorliegenden starken Bande (459 8. S.) geliefert, den wir
dankbar aufnehmen.
Er behandelt zuerst die Wichtigkeit und Ursachen der Kriminalität
der dienenden Frauen, ihre Geisteskrankheiten und Verantwortung, dann
die „criminalitä acquisitive“, die Verbrechen aus Leidenschaft (sc. Liebe) und
aus politischen Trieben und Vergiftungen, Dann: die Prostitution, der
Alkoholismus und Selbstmord; Studien über Prophylaxe und Abhilfe schließen
das lehrreiche Buch, voll von Anregungen, Lehren und Ideen.
H. Groß.
23.
D. W. Thümmel: „Der Religionsschutz durch das Strafrecht
§ 166 des Strafgesetzbuches“ Leipzig, 1906. In Komm,
bei Carl Braun.
Der Verf. kommt mit Hilfe herkömmlicher Argumente dazu, daß die
protestantische Kirche die Beseitigung der § 166, 1, 2 St.G. wünschen
muß. Zugegeben; aber nachdrücklich abgelehnt wird die Art, wie der
streitbare Theologe namentlich im Schlußkapitel die katholische Kirche an¬
greift; in einem einzigen Absätze versichert er dreimal, sie sei „ohne
inneres geistliches Leben“, ihre Einrichtungen und Gebräuche seien über¬
wiegend morsch und faul, sie sei ein „Kommissionsgeschäft für Interessen- '
Solidarität“, sie brauche weltlichen Schutz, jede Religion, deren „inneres
geistliches Leben“ entschwunden war, habe sich noch eine zeitlang mit
weltlichen Stützen zu halten versucht etc.
Das sind keine wissenschaftlichen Argumente und es sinkt die Arbeit
zu einer gewöhnlichen Kampfschrift herab. H. Groß.
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Besprechungen.
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24.
Ludwig Gumplowicz: Grundriß der Soziologie. 2. Auflage,
Wien 1905, Marz’scher Verlag.
Die geistreiche Arbeit ist in aller Händen und bekannt, es sei nur
nachdrücklich auf diese 2. Auflage hingewiesen. H. Groß.
25.
Aschrott: „Fürsorgeerziehung Minderjähriger.“ 2. Auflage,
Berlin, 1907, J. Guttentag.
Der vorzügliche, äußerst handliche Kommentar zu dem wichtigen Ge¬
setze vom Jahre 1900 liegt in verbesserter und ergänzter Auflage vor.
H. Groß.
26.
Ernst Beling: „Die Lehre vom Verbrechen.“ Tübingen, 1906.
J. C. B. Mohr (Paul Siebeck).
Das Buch bringt in der Tat Neues. Beling ist bekanntlich Anhänger
der Normentheorie, er entzieht ihr aber eine Beihe von Partieen, die nicht
„ihr Eigentum“ sind. Hierdurch werde die „Normentheorie um so fester
gegründet“; es ist aber zu bezweifeln, ob eine Theorie bestehen kann,
wenn man Lücken in sie bricht. Der Grundzug der ganzen Arbeit geht
von dem Begriffe des Verbrechenstatbestandes aus; allerdings versteht Beling
darunter nicht jenen, oft beseitigten und immer wieder hereingeholten Kom¬
plex des halb dem materiellen, halb dem formellen Rechte angehörigen
sogenannten objektiven und subjektiven Tatbestandes, sondern einen be¬
stimmten Typus als strafrechtlichen Grundbegriff. Dieser wird dann den
einzelnen Begriffen — z. B. der Norm, Schuld etc. angepaßt und dann
sein Inhalt, Umfang, seine Individualität untersucht. In weiteren Kapiteln
werden geistvoll besprochen: Das Verhältnis der Strafgesetze zueinander,
der sogenannte „Verbrechensfall“, die Handlungseinheit nnd die Täter¬
zusammengehörigkeit H. Groß.
27.
Dr. Hans Deneke „Das menschliche Erkennen. Eine Abhand¬
lung erkenntniswissenschaftlichen und physiologischen
Inhalts“, Leipzig 1906. Jul. Zeitler.
Verf. geht davon aus, daß wir der Natur Freiheit zuerkennen, wenn
wir sie nach Zwecken erklären; wir hätten zwei Methoden, um das Bild
der in der Erfahrung gegebenen Welt zu denken: das Kausalitätsprinzip
und das Zweckprinzip und wir kommen zu zwei Sätzen: „Alles hat seinen
zureichenden Grund“ und „Alles ist zuf irgend einem Zweck“. Der Kausa¬
litätsbegriff ist mehr geeignet zur Erklärung der anorganischen Natur, der
Zweckbegriff paßt besser für die organische Natur. Haben wir aber eine
feste Grenze? H. Groß.
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314
Besprechungen.
28.
Maximilian Paal-Schiff. Der Prozeß Hilsner. Aktenauszug
Wien 1908. Buchhdlg. 1908
Wenn man ans fortgesetzt mit Darstellungen, Aktenaaszügen and
Bearbeitungen des Prozesses Hilsner überschwemmt, so wird der Verdacht
rege werden, es handle sich nicht darum, dem „armen, unschuldigen Hilsner"
zu helfen, sondern den Glauben an jüdische Ritualmorde zu bekämpfen.
Letzteres ist überflüssig, denn ein Gebildeter glaubt ohnehin nicht daran,
und ein Ungebildeter liest keine Aktenaaszüge and ähnliches.
Mich bestärkt der Aktenauszug in meiner alten Auffassung der Sache:
ob Hilsner der Täter ist oder nicht, weiß ich nicht, zweifellos ist mir aber,
daß der Täter, sagen wir namens X ein von psychopatischem Aberglauben
befallenes Individuum war, welches zu irgend welchen, uns unbekannten
Zwecken Teile und Kleider des Ermordeten am Tatorte herumlegte und
aufhing; für solche Vorgänge haben wir jetzt zahlreiche Beispiele und
wissen, daß Nation und Rasse des Täters auf dieses seltsame Vorgehen
keinen Einfluß übt. — Psychopatischem Aberglauben sind Menschen aller
Nationen und aller Rassen verfallen und die Juden auch.
H. Groß.
29.
Ernst Schultze in Greifwald: „Weitere psychiatrische Be¬
obachtungen,“ Jena 1 907. Gust. Fischer.
Verf. hat vor zwei Jahren ein ähnliches Buch erscheinen lassen (s.
dieses Archiv Bd. XVI S. 381), er hat seine Beobachtungen an gefangenen
Soldaten fortgesetzt und das Ergebnis dieser Studien veröffentlicht Die
Einteilung des Buches ist ähnlich wie früher, es bringt aber keine Kranken¬
geschichten, sondern nur Überblicke über die einzelnen Gruppen, namentlich
über manisch-depressives Irrsein, Schwachsinn, Dem. präcox, Epilepsie,
Hysterie und verschiedene andere Fälle; zuletzt werden die Ergebnisse
erörtert — Das Buch ist für Kriminalisten außerordentlich wertvoll. Wie
ich schon oft betont habe, muß der Kriminalist so viel psychiatrische Kennt-
i nisse haben, damit er weiß, wann er den Psychiater zu rufen hat. Das
t ist scheinbar sehr wenig, da aber der Kriminalist den Arzt nicht zu oft
( umsonst plagen soll, anderseits aber bei schwerer Verantwortung keinen
j Fall übersehen darf, in welchem der Psychiater reden muß, so braucht er
i immerhin sehr viel psychiatrische Kenntnisse. Diese erwirbt er am leich-
: testen und sichersten gerade aus solchen Büchern, wie das vorliegende, da
hier solche Fälle, wie sie ihm Vorkommen, klar, faßlich, prägnant und
nicht in dozierendem Tone behandelt werden.
Jeder Kriminalist, der das Buch studiert hat, wird es dankbar aus der
Hand legen. H. Groß.
30.
Jahrbuch des Strafrechts und Strafprozesses I. Hanover 1907.
Hel wing.
Diese Beilage des „Recht“ bringt die oberstgerichtlichen Entscheidungen
äußerst übersichtlich und bequem geordnet, nach Materien und §§ einge-
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Besprechungen.
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teilt und mit wenigen, gut gewählten Schlagworten an der Spitze, z. B.
„Diebstahl und Unterschlagung*'(8. 242—248). 242. Munition. Verschossene
Munition. Gewildertes Wild. Verloren. „Gewahrsam" etc. und bei jedem
Schlagwort kurz die Entscheidung. H. Groß.
31.
Hermann Lucas: Anleitungzurstrafrechtlichen Praxis. Erster
Teil: Das formelle Strafrecht. Zweiter Teil: Das
materielle Strafrecht. 2. Auflage. Berlin 1905 und 1907.
Otto Liebraann.
Ich beziehe mich auf das in diesem Archiv Bd. IX S. 248 und Bd.
XVI S. 384 Gesagte und freue mich, daß meine Prophezeihung: dieses
Buch werde noch viele Auflagen erleben, sich so bald zu verwirklichen
begonnen hat; ich wünsche dem hochverdienten Verfasser noch viele Freude
an dem ausgezeichneten Werk. H. Groß.
32.
Kurt Wilburg. Serien- und Prämienlosgesellschaften, Lotterie¬
vereine und Lotteriegeseils chaften. Mainz. Ohnejahres-
zahl. Oskar Schneider.
Eine sehr nützliche populäre Darstellung über die im Titel genannten
Vereinigungen und die Irreführungen, denen das kaufende Publikum ausge¬
setzt ist. H. Groß.
33.
J. U. Dr. Siegfried Türkei: Die Reform des öster. Irrenrechts.
Leipzig und Wien. Fz. Deuticke. 1907.
In dankenswerter Weise hat Verf. in der vorliegenden Frage die
wichtigsten Vorarbeiten geleistet und zusammengestellt. Er gibt zuerst in
3 Gruppen (1859—1874, 1874—1878, 1878—1899) die Vorgeschichte
und bringt dann die Bestrebungen seit 1899 und die Verhandlungen der
Enquete in den einzelnen Sitzungsperioden, geordnet nach den Materien.
Für alle weiteren gesetzgeberischen und wissenschaftlichen Arbeiten auf
diesem Gebiete ist das vorliegende Buch unentbehrlich. H. Groß.
34.
Franz von Liszt „Das Problem der Kriminalität der Juden“.
Alfred Töpelmann. Gießen 1907. (Aus der Festschrift
zur 3. Jahrhundertfeier der Universität Gießen.)
Verf. untersucht das wichtige Problem auf Grund der Erhebungen der
Reichskriminalstatistik, namentlich der Arbeiten von Linden au und Waßer-
mann, und kommt zu dem Ergebnis: die bisherige Annahme, daß die
jüdische Kriminalität als Berufskriminalität restlos erklärt werden könne,
trifft nicht zu. Aber eine solche Erklärung wäre von der größten Wichtig-
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316
Besprechungen.
beit: die Kriminalität muß aus der Lebensbetätigung der einzelnen Gruppen
heraus erklärt werden können. In diesen Behauptungen bat v. Liszt
zweifellos recht, ich suche aber den Fehler der bisherigen Erklärungen
darin, daß sie sich stets nur mit jenen Delikten und Deliktsgruppen be¬
faßt haben, in welchen sich die Juden schlechter stellen als die Christen,
z. B. strafbarer Eigennutz, Wucher, Vergehen gegen das geistige Eigen¬
tum, betrügerischer Bankerott etc. Will man aber psychologisch vorgehen,
und das ist auch hier das einzig Richtige, so müssen jene Delikte untersucht
werden, bei welchen die Juden günstiger stehen, z. B. schwere Körper¬
verletzung, Gewalt und Drohung gegen Beamte, Raub, Brandstiftung etc.
Zum mindesten kann hier der, allerdings kaum notwendige, schließliche
Beweis erbracht werden, daß die sogen. Berufskriminalität hier nichts
erklärt. Ein weiteres Moment wäre allerdings noch sehr wichtig, dieses
kann aber keine Statistik je bringen: Die Kriminalität der getauften
Juden und ihrer Nachkommen. H. Groß.
Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik. Bd. 29.
Tafel I.
Nr. 1. C. nach zwei Aufnahmen der K. Polizeidirektion zu Dresden vom 24. August 1897.
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e des C- von der Polizeidirektion Hamburg am' n 2i l MifF 1 1898.
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Archiv fiir Kriminalanthropologie und Kriminalistik. Bd. 29.
Nr. 3. Aufnahme in Prag am 22. November 1898
(in der Freiheit).
Nr. 4. Aufnahmen des C. in der Breslauer Irrenabteilung (Kopie).
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Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik. Bd. 29.
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Schriftprobe C’s.
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XVI.
Über die Wertungslehre im Strafrecht.
Erweiterte Besprechung der Schrift Dr. Ottokar Tesars; Die sympto¬
matische Bedeutung des verbrecherischen Verhaltens. Ein Beitrag
zur Wertungslehre im Strafrecht Berlin Guttentag 1907 (XV u. 276 Seiten)
III. Heft, fünfter Band der neuen Folge der Abhandlungen des kriminalistischen
Seminars an der Universität Berlin, herausgegeben von Dr. Franz von Liszt.
Von
Dr. Harald Gutherz, Berlin.
Eine Wertung ist nur möglich, wenn Gegenstand und Maßstab
der Wertung gegeben sind. Die Frage nach dem Gegenstand der
Wertung geht jener nach dem Maßstab derselben vor. Diesen Er¬
wägungen entspringen offenbar die beiden Titel der Arbeit Tesars und
deren Reihenfolge.
Der erste Titel nimmt dem verbrecherischen Verhalten die Eigen¬
schaft eines Wertgegenstandes und weist ihm nur die Bedeutung eines
Symptomes für den Wertungsgegenstand zu. Der zweite Titel ver¬
spricht eine Auseinandersetzung mit den Wertungsmaßstäben. Im Ver¬
laufe der Arbeit sind diese beiden Materien nicht so klar geschieden
als im Titel, was wohl dadurch zu rechtfertigen ist, daß eine strenge
Trennung beider Fragen den historischen Teil des Buches zu schleppend
gemacht hätte.
Als dritte von Tesar behandelte Frage kommt jene nach Wesen
und Berechtigung des auf die vorgenommene Wertung aufbauenden
menschlichen Verhaltens in Betracht
Konkreter ausgedrückt ist die Reihenfolge der von Tesar bear¬
beiteten Materien folgende:
1. Was wird im Strafprozeß gewertet? (die verbrecherische Tat
oder ein psychischer Bestand?)
2. Welcher Maßstab wird an diesen Wertungsgegenstand angelegt?
(ein die Vergangenheit oder ein die Zukunft berücksichtigender
— ein Schuld- oder ein Gefährlichkeitsmaßstab?)
3. Welches Verhalten folgt auf die Wertung? (ein prinzipiell ab¬
rechnendes oder ein prinzipiell wertschaffendes resp. wert¬
schützendes?)
Archiv für Kriminalanthropologie. 29. Bd. 21
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318
XVI. Gutherz
Tesar behandelt diese Fragen zuerst auf 196 Seiten dogmen-
geschichtlicb, sohin auf 80 Seiten kriminalpolitisch. Das Hauptgewicht
der Arbeit liegt auf der ersten Frage.
Die Einheit zwischen diesen beiden Teilen wird durch den Ent¬
wicklungsgedanken hergestellt.
Eine Kritik der Arbeit erfordert die strenge Scheidung der dar¬
gelegten Materien.
1. Tesar beschäftigt sich mit zwei für strafendes Eingreifen
relevanten Gegenständen der Wertung: mit dem durch Delikte „in
der Außenwelt verursachten Schaden“ und mit demjenigen psychi¬
schen Bestand, welchen uns das Delikt „in dem Verbrecher enthüllt“
(S. 3). Die Anhänger jener strafrechtlichen Lehren, welche den psy¬
chischen Bestand als Wertungsgegenstand annehmen, nennt Tesar
Syptomatiker, weil sie dem Delikte bloß „oder doch vornehmlich“
(S. 5) die Rolle eines Symptomes zuweisen.
Der dogmengeschichtliohe Teil ergibt in der Frage nach dem
relevanten Wertungsgegenstande folgende Aufschlüsse:
Aristoteles ist prinzipiell Symptomatiker (S. 5), bewertet aber auch
„die Größe des angerichteten Schadens“ (S. 8) zur Strafbestimmung.
Die aristotelischen Sätze verdrängen bei den Römern deren ursprüng¬
liche Bewertung des durch die Delikte in der Außenwelt verursachten
Schadens. Bei Deliktsmehrheit tritt keine Strafsummierung ein (D. 48.
19. 1. 28. § 10, Cod. 10. 20. 1. un. § 1, Cod. 9. 12. 1. 8, § 2). Vor¬
strafen werden berücksichtigt (D. 48, 19. 1. 28, § 3).
Wenn auch im deutschen Rechte bis zur Carolina prinzipiell der
änßere Schaden Wertungsobjekt war, so finden sich doch schon von
der Zeit der Volksrechte an deutliche Spuren einer Auffassung der
Tat als Symptom (S. 19), so die Berücksichtigung der Vordelikte.
Die Carolina geht in der Wertung der Gesinnung noch weiter (Art. 162,
111, 113, 123, 176, 178). Ein Rückschlag tritt nach dem Eindringen
der Lehren der italienischen Juristen ein (S. 34), die insbesondere auf
Grund der logisch gut durchgebildeten römischen Bestimmungen über
die Deliktsobligationen, an der Wertung des äußeren Schadens fest-
halten. Die Wertung der Gesinnung konnte freilich insbesondere an¬
gesichts der Rückfallsbestimmungen des positiven Rechtes nicht völlig
abgelebnt werden; es kam also dazu, daß „in ziemlich willkürlicher
Weise ... beide (Wertungen) nebeneinander gebandhabt und mitein¬
ander vertauscht wurden“ (S. 35). Dieser „Dualismus“ erhält sich
bis an die Wende des 19. Jahrhunderts (S. 36).
Da ein konsequenter Subjektivismus dem richterlichen Ermessen
einen weiten Spielraum läßt, so wird „die arithmetische Proportion,
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310
Über die Wertungslehre im Strafrecht.
die am Äußerlichen des einzelnen Falles festhält. . . infolge der dadurch
gebotenen Freiheitsgarantien, als demokratisches Prinzip in Anspruch
genommen.“ Freiheitsinteresse und Gerecbtigkeitsidee werden hier
miteinander vermengt (S. 61, 92). Qrotius ist vorwiegend Sympto-
matiker (In merito examinanda veniunt causa, quae impulit, causa
quae retrahere debuit et personae indoneitas ad utrumque). (S. 64.)
Ebenso Thomasius.
„Zu einer Vereinheitlichung der Lehre von den die Größe des
Delikts bestimmenden Faktoren, führt eine doppelte Entwicklung. In
Frankreich war es die an Beccaria anknüpfende utilitaristische Lehre
Benthams, die auch in der Strafrechtsdoktrin eine Klärung der Be¬
wertungslehre herbeiführt, in Deutschland der Einfluß Kants, Hegels
und Schopenhauers, der zu einer konsequenten Stellungsnahme zu
diesem Problem führte“ (S. 112). Die grundsätzlich den sozialen
Schaden wertende Lehre Benthams würdigt die psychische Beschaffen¬
heit des Täters nur „wenn und soweit der Täter durch sie Ursache
besonderer Unlustempfindungen war“ (S. 214). Den Bestimmungen
der Gesetzgebung über Rückfall werden die bis auf die heutige Zeit
reichenden französischen und italienischen Anhänger Benthams nicht
gerecht (S. 143).
Kants Einfluß reduziert sich im wesentlichen auf die Betonung
der Notwendigkeit einer Wertung zur Herbeiführung der Gleichheit
zwischen Verbrechen und Strafe (S. 144). Von ihm ausgehend wird
das psychische Substrat der verbrecherischen Handlung von Henke
und den Hegelianern als Wertungsgegenstand angenommen, während
Zachariae, Welcker und Merkel in dem von den Delinquenten verur¬
sachten Schaden das Wertungsobjekt erblicken (S. 149).
„Die Wertung der Rechtsverletzung im Strafmaß hängt ... bei
Hegel von der Beschaffenheit des verbrecherischen Willens ab, die
auf Grund des äußeren Verhaltens ergründet wird, da die Strafe als
Negation des Unrechtes die besondere Beschaffenheit am Willen des
Delinquenten zu beseitigen hat.“ („„Die positive Existenz der Ver¬
letzung ist nur als der besondere Wille des Verbrechers““ (G. W. Hegels
Werke, herausgegeben von Gans. VIII. Bd., Grundlinien der Philo¬
sophie des Rechts, Berlin 1833, S. 137)) (S. 156). Als „Symptoma-
tiker“ auf dem Boden der Hegelschen Lehre kommen vor allem in
Betracht: Luden, Abegg, Heffter, während ein Mißverständnis der
Hegelschen Lehre Köstlin, Berner und Hälschner dazu führt, die Ver¬
letzung auch als Wertungsobjekt gelten zu lassen. Teils als wirkende
Kraft, teils als Bewertungsobjekt kommt die Psyche des Menschen in
Betracht bei dem auf Schopenhauer fußenden Merkel (S. 188).
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320
XVI. Gutherz
Drei Perioden der Bewertung der Delikte nach ihrer realen Be¬
deutung sind aufgedeckt worden. „Läßt sich die erste Periode (deut¬
sches Mittelalter und Italiener) auf den Einfluß privatrechtlicher Vor¬
stellungen zurückzuführen, so knüpft die zweite Periode an diese über¬
lieferten Wertungsmaßstäbe an, um dadurch ein Mittel für den viel¬
ersehnten Schutz der individuellen Freiheit zu erlangen. Die dritte Periode
ruht auf dem schon lange vorbereitet gewesenen Begriff der Zurechnung
mit seiner metaphysischen Auffassung des verbrecherischen Willens. Mit
diesem Willensbegriff fällt auch ihre Berechtigung“ (S. 195 f.).
Nach diesem dogmengeschicbtlichen Überblick kommt Tesar zu
dem Schlüsse, daß für das Strafrecht nur ein psychischer Bestand
Wertungsobjekt sein, daß dem deliktischen Verhalten selbst nur sym¬
ptomatische Bedeutung zufallen könne. Gestützt wird dieser Schluß
dadurch, daß die Rechtsentwicklung insbesondere in den Bestimmungen
über Rückfall und Gewohnheit nicht in der Wertung des äußeren
Schadens begründet werden könne, eine Vereinigung zweier Wertungs¬
standpunkte aber unmöglich sei (S. 193).
Geht Tesar bei der ersten Behauptung von dem positiven Rechte
aus und ist ihm darin vollkommen beizupflichten, daß seit langer
Zeit das positive Recht nicht allein von der „realen Bedeutung“ des
Deliktes ausgehe, so verläßt er bei der zweiten Behauptung be¬
wußtermaßen diesen Boden der Erfahrung und betritt den Boden
rein logischer Erwägungen. Bis auf den heutigen Tag läßt sich
nämlich an fast allen Strafgesetzen konstatieren, daß sowohl der ver¬
brecherische psychische Bestand als auch der verbrecherisch herbei¬
geführte Schaden Wertungsobjekt ist. Es ist also eine Verbindung der
beiden gekennzeichneten Wertungsstandpunkte nicht empirisch un¬
möglich, sondern höchstens inkonsequent, wofür meines Erachtens bei
Tesar allerdings kein Beweis zu finden ist. Auch das Mißlingen
aller bisherigen Vereinigungsversuche (S. 195) ist kein Beweis für die
Unmöglichkeit einer konsequenten Vereinigung beider Standpunkte.
Die Unmöglichkeit solcher Vereinigung wäre nur durch die Aufdeckung
eines Widerspruches zwischen beiden Wertungen dargetan. Wenn aber
die Anwendung beider Wertungen wohl willkürlich erscheinen mag,
solange kein oberstes Prinzip für die Vereinigung gefunden ist, so ist
sie deshalb noch lange nicht logisch unmöglich. Zu einer Doppel¬
bewertung eines und desselben Wertungsobjektes aber kann es bei
solcher Vereinigung sicher nicht kommen (S. 193), denn ein und das¬
selbe Tatbestandsmerkmal kann sehr gut einmal als Symptom eines
psychischen Bestandes und das andere Mal selbst als Wertungsobjekt
aufgefaßt werden, ohne daß darin eine Doppelbewertung läge.
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Über (lio Wertungslehre im Strafrecht.
321
Im ersten Falle wird eben nur der psychische Bestand, im
zweiten nur das Tatsbestandsmerkmal selbst gewertet. Mit diesen
Erwägungen fällt die logische Notwendigkeit ausschließlicher
Bewertung des psychischen Bestandes. Damit fällt aber natürlich
weder die Möglichkeit noch der eventuelle Vorzug einer solchen Be¬
wertung. Was die Möglichkeit solcher Bewertung anbelangt, sagt
Tesar, daß sein Standpunkt nicht notwendigerweise mit einem System
der Schutzstrafe verbunden, sondern „ebenso mit der Theorie der Ver¬
geltung, wie sie von Henke und der Hegelschcn Schule vorgetragen
wurde ... verträglich“ sei (S. 198).
Es ist sicher ohne weiteres möglich, an einen psychischen Be¬
stand ein Unwerturteil anzuknüpfen und sohin im Namen der Gerech¬
tigkeit zu fordern, daß auf diesen inneren Unwert anders reagiert
werde, als auf einen inneren Wert. Dieser Standpunkt ist ja sogar
der der göttlichen Gerechtigkeit. Die üble Gesinnung wird vergolten
ohne Rücksicht auf ihre äußere Erscheinung und ohne Rücksicht auf
einen eventuell von ihr ausgehenden Schaden (Standpunkt der Ver¬
geltung!). Die Tatsache, daß es psychische Bestände gibt, die über¬
haupt vom Standpunkte der Gerechtigkeit aus gar nicht gewertet
werden (z. B. Geisteskrankheiten) schließt natürlich nicht die Möglich¬
keit aus, andere psychische Bestände zu werten und zu vergelten
(Gott straft die Geisteskranken auch nicht). Sehr fraglich ist es aber,
ob dieser Standpunkt nicht das Gebiet des Rechtes völlig verläßt. In
dem Chaos von Rechtsdefinitionen taucht es tatsächlich ausnahmslos
als Merkmal des Rechtes auf, nur auf das äußere Verhalten von
Menschen abzuzielen. Tesar nimmt selbst diesen Standpunkt ein. An¬
läßlich der Besprechung von Kants Scheidung zwischen Recht und
Moral (S. t47f.) sagt er: „Für das Strafrecht kommt es nur darauf
an, im Täter (!) das Bestehen jenes psychischen Gleichgewichtszustandes
zu erhalten, resp. herzustellen, der niemals in Handlungen aus¬
arten kann, die . ...“
Sofern also die Gesinnung „an sich“ ohne Rücksicht auf die ihr
entspringenden Handlungen in Frage steht, ist wohl ein Unwerturteil
und ein diesem Unwerturteil entspringendes Verhalten (eine Ver¬
geltung) möglich, aber mit dem „Rechte“ hat dieses Unwerturteil und
dieses Verhalten nichts mehr zu tun.
Die Gesinnung allein gibt keinen Angriffspunkt für das Recht.
Der Umstand, daß immer äußere Symptome notwendig sind, um die
Gesinnung festzustellen, und daß diese Symptome sich größtenteils
mit den bisher in den Strafgesetzen enthaltenen Tatbestandsmerk-
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322
XVI. Gutherz
malen decken, hat aber natürlich mit der Frage, ob die Gesinnung
allein gewertet werden soll und kann, nichts zu tun.
Hervorgehoben sei aber, daß Tesars Standpunkt von Vergeltungs¬
theoretikern mit einer ganz geringfügigen Modifikation nicht nur leicht
angenommen werden kann, sondern wohl auch angenommen wird.
Tesar selbst gibt hierzu den Schlüssel, indem er zu wiederholten
Malen von der Wertung des psychischen Substrates einer Hand¬
lung spricht. Mit solcher Wertung wird der Boden des Rechtes
nicht verlassen, denn bei der Wertung des Substrates einer Handlung
gehört diese Handlung zum Wertungsobjekt selbst.
Die Tat wird dadurch freilich nicht, wie Tesar es will (S. 271),
zum reinen Symptom, das nur deshalb überall erforderlich ist, weil
ein anderes Symptom für eine Gesinnung empirisch nicht vorhanden
ist, sondern die Handlung bleibt begriffsnotwendig Teil des
Wertungsobjektes. Eine „Subjektivierung“ des Strafrechtes und eine
Abweisung jeglicher reinen Erfolgsstrafe ist dadurch nicht ausge¬
schlossen. Es wird ja die Gesinnung gewertet, diese aber nur als
Substrat einer Handlung, nicht aber an und für sich, wodurch erst
die Handlung zum reinen (zufälligen) Symptom werden würde.
Bedingt Tesars Standpunkt — Auffassung der Tat als reines Sym¬
ptom — für einen Vergeltungstheoretiker tatsächlich ein Hinausgehen
über das Gebiet des Rechtes, so kann Gleiches nicht von einem Anhänger
jener Strafrechtslehre gesagt werden, welche die Gesinnung nur im
Hinblick auf künftig aus ihr hervorgehende Handlungen wertet. Hier
liegt das Wertungsobjekt noch in der Sphäre des Rechtes. Hier ist
die verbrecherische Tat wirklich reines Symptom und bei Vorhanden¬
sein eines anderen ausreichend sicheren Symptoms könnte sie vom
Strafrechte vermißt werden.
2. An Wertungsmaßstäben bespricht Tesar zwei: einen die Schuld
und einen die Gefährlichkeit berücksichtigenden (S. 272). Der dog¬
mengeschichtliche Teil liefert für die Frage nach den Wertungsma߬
stäben nur wenig Material, was umsoweniger verwundern kann, als
eine historische Behandlung dieser Frage gleichbedeutend wäre, mit
einer Geschichte der Strafrechtstheorien. Im kriminalpolitischen Teil
wird aber insbesondere im Hinblick darauf, daß Tesar den reinen
Subjektivismus sowohl mit der Vergeltungsidee, als mit der Idee der
Schutzstrafe vereinbar hält, wiederholt auf diese Wertungsmaßstäbe
zurückgegriffen. Prinzipiell befaßt sich Tesar mit denselben auf
S. 271 ff. Er hebt hervor (S. 274), daß beide Maßstäbe logisch von¬
einander selbständig seien; der eine baue auf dem Schuldurteil auf,
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Über die Wertungslehre im Strafrecht.
323
das durch den Grad der Abweichung von der normalen Psyche be¬
stimmt werde (!) (S. 272), der andere auf dem Gefährlichkeitsurteil,
welches aus einem Wahrscheinlichkeitsbruch schöpfe, der das Verhältnis
des Spielraums der kritischen Willensakte zu dem gesamten Spielraum
für Willensakte angebe. Obwohl Tesar meint, daß beide Wertungen
großenteils zu gleichen Resultaten führen würden (S. 272), entscheidet
er sich für den Gefährlichkeitsmaßstab, weil er glaubt, daß in diesem
Maßstab auch gleich
3- Art und Größe der notwendigen Reaktion zu finden sei. Das
Strafmaß werde hier bestimmt „durch das auf Grund des Verbrechens
dargestellte Motivationsbedürfnis“ (S. 274). Art und Größe der Ver¬
geltungsstrafe ist dagegen nach Tesar nur durch eine „Analyse der
Bewußtseinstatsache, die fordert, daß dem Verbrechen die Strafe ent¬
sprechen soll“ (S. 274), zu finden.
Eine Übereinstimmung beider Strafbemessungsmethoden wird sich
dann „konstatieren lassen, wenn man unter der durch die Vergeltung
geforderten Strafe diejenige versteht, die die Schuld in dem Verbrecher
beseitigt.“ Tesars Buch schließt mit der „Vereinbarkeit der aus der
Vergeltungsidee und aus dem Schutzprinzip gezogenen Folgerungen“
(S. 274 ff.) und, wenn auch diese Vereinbarkeit nichts anderes sein
sollte, als eine Verständigungsmöglichkeit zwischen den Anhängern der
beiden Strafrechtsschulen, so kann Tesars Arbeit zweifellos den An¬
spruch darauf machen, zu einer solchen einen Beitrag zu liefern. Sie
tut dies insbesondere dadurch, daß sie die bisherigen Tatbestands¬
merkmale als wichtige, ja fast als alleinige Symptome der sozialen
Gefährlichkeit von Menschen hinstellt (S. 266). Als Fehler der bis¬
herigen „Symptomatiker“ rügt Tesar, es sei zu wenig hervorgehoben
worden, „welche Elemente des äußeren Geschehens bereits auch vom
Standpunkte der Scbutzstrafe in dem Urteil über das gerechte Straf¬
maß ihre Würdigung finden“ (S. 199). Die „kulturelle Wertschätzung
der Rechtsgüter“ wird sich als Hemmung gegenüber vorgestellten
Verletzungshandlungen darstellen; mit der gesellschaftlichen Bedeutung
der Rechtsgüter wird auch die Intensität dieser hemmenden Gefühle
zunehmen“ (S. 211). Aus gleichem Grunde kommen „die persönlichen
Beziehungen, in denen der Träger des Rechtsgutes zu dem Verletzer
stand“ und „die soziale Bedeutung“ der Stätten, an denen das Ver¬
brechen begangen wird (S. 212), desgleichen die Art der Ausführung
(S. 240) für die Beurteilung unternormaler Intensität von Hemmungen
in Betracht.
Alle diese Momente müssen bei der Differenzierung der Tat¬
bestände benützt werden, sofern ihnen „Wert als Symptom von Schuld-
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324
XVI. Gütherz
Verschiedenheiten“ zukommt (S. 235). „Für die Beantwortung der
Frage nach dem Grade der Differenzierung wird das jeweils vor¬
handene Freiheitsinteresse mitbestimmend sein, das eine gewisse Be¬
schränkung des richterlichen Ermessens als Garantie der bürgerlichen
Betätigungsfreiheit fordert“ (S. 239). Was die Gewohnheit und den
Rückfall als Symptom höherer Verschuldung anbelangt, empfiehlt
Tesar, sehr skeptisch vorzugehen (S. 240 ff.). Höhere Verschuldung
kann vielfach bei Gewohnheit und Rückfall fehlen und ohne Gewohn¬
heit und Rückfall vorhanden sein (S. 247). Als Freiheitsgarantien
gegenüber der aus dieser Erwägung resultierenden Schrankenlosigkeit
des richterlichen Ermessens kommen sie wohl in Betracht (S. 254).
Außer den bisher als Symptomen figurierenden Tatbestands¬
merkmalen gibt es für den Symptomatiker natürlich auch noch andere
Symptome psychischer Defektuosität, die ein strafendes Eingreifen des
Staates erfordert Diesen Symptomen wird insbesondere die unbe¬
stimmte bezw. relativ bestimmte Verurteilung und der bedingte Straf¬
erlaß gerecht (S. 259). Irgend eine symptomatische Grundlage für
die zur Berechtigung solcher Maßnahmen erforderliche „genauere Er¬
forschung der täteri8cben Psyche“ (S. 259) gibt Tesar leider nicht
Eine Schematisierung scheint hier vor der Hand ausgeschlossen
(S. 259), was um so bedauerlicher ist, als gerade hier die sympto¬
matische Auffassung äußeren Verhaltens ihre eigensten Früchte ernten
könnte. Freilich sei betont, daß auf strafrechtlichem Gebiete nicht
nur hier das nach Abstraktion und Schematisierung strebende Recht
die individuellen Verschiedenheiten nicht überwinden kann, sondern
daß Gleiches auch zu der Einführung der Strafrahmen an Stelle der
absoluten Strafen führte.
Die bisherigen Ausführungen zeigen zur Genüge, daß Tesars
Arbeit eine Fülle von Anregungen gibt und daß die prinzipielle Auf»
rollung der Frage nach der Wertung im Strafrechte zur Klärung
vieler Probleme beiträgt. Mit der Wertungsfrage nicht in direktem
Zusammenhang stehend, aber trotzdem sehr erwähnenswert scheint
mir die Abgrenzung der Schuldformen, welche auf den von Tesar
überall herangezogenen psychologischen Arbeiten Wundts fußt. Das
Charakteristische des strafrechtlichen Vorsatzes liegt in einer Gefühls¬
abnormität, während die Fahrlässigkeit einen Mangel in der Vor¬
stellungsassoziation darstellt (S. 205 u. 217).
Hervorzuheben bleibt noch, daß sich der dogmengeschichtliche
Teil der Arbeit trotz der Größe des herangezogenen Materials überall
durch Übersichtlichkeit und Klarheit auszeichnet.
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XVII.
Strafgesetz für das kaiserlich japanische Reich
vom 23. April 1907.
Von
Heinrich K. v. Frölichsthal.
Wie Japan überhaupt in den letzten 30 Jahren einen riesigen
Aufschwung genommen hat und uns jetzt in vielen Dingen voraus
ist, so trifft dies auch auf dem Gebiete der Strafrechtspflege zu. Das
bisherige japanische Strafgesetz ist auch relativ jungen Datums, es ist
erst am 1. Januar 1882 in Kraft getreten und beruhte vorwiegend
auf französischem Muster. (Code penal.) Aber schon ein Jahr später
trug man sich mit Reformgedanken und 1890 kam es zu einem Ent¬
wurf, der fast ganz dem französischen Strafgesetz nachgebildet war,
der auch vor dem Reichstag kam, damals wurde aber der Reichstag
aus politischen Gründen aufgelöst. Es kam zu einem neuen Entwurf,
der das einheimische Recht mehr berücksichtigte, auch deutscher und
englischer Einfluß kam stärker zur Geltung und eine Kommission,
bestehend aus Dr. Yokota, Dr. Ischawatari, Dr. Koga, Dr. Kuratomi
und Dr. Kameyama brachte einen neuen Entwurf vor den Reichstag
(1900—1901) der endlich vom Justizminister Matzuda einem Komitee
von 34 Juristen vorgelegt wurde, das aus Professoren, Richtern, Staats¬
anwälten, Rechtsanwälten und höheren Beamten der verschiedenen
Ministerien bestand. Der von diesem Komitee verfaßte Entwurf wurde
im Jahre 1906 im Reichstage beraten und hat am 23. April 1907
Gesetzkraft erhalten.
Allgemeine Betrachtung der Gesetzes.
Das hier vorliegende Gesetz ist nicht nur das jüngste, sondern
sicher auch das modernste Strafgesetz. An Kürze und Einfachheit
dürfte es wohl von keinem anderen Strafgesetz übertroffen sein, viele
Wünsche, die bisher „de lege ferenda“ geäußert wurden, scheinen in
diesem Gesetze vereinigt zu sein. An und für sich findet man sehr
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326
XVII. Fböliohsthal
hohe Strafen, doch hat der Richter ein fast unbeschränktes Milderungs¬
recht und kann in einzelnen Fällen die Strafe auch ganz erlassen
werden, wie z. B. bei Verleumdung, falscher Zeugenaussage etc.,
wenn diese Delikte bevor es zu dem betreffenden Urteil kommt ein¬
gestanden werden. Die meisten Delikte, die die Allgemeinheit nur
indirekt berühren, sind Antragsdelikte. Das Gesetz ist endlich so
allgemein gehalten, wie man es bei uns nur bei sehr wenigen Para¬
graphen wie 335, 431, 459 findet, so daß ein „in fraudem legis agere u
fast als ausgeschlossen erscheint. Die strengen Strafen gegen Glück¬
spiele und Opiumrauchen zeigen, auf welch hoher Kulturstufe Japan
steht, während bei uns Lotto aus fiskalischen Gründen noch immer
vom Staate beibehalten wird. Daß das Gesetz den modernen An¬
forderungen Rechnung trägt, sieht man darin, daß für die Entwendung
der Elektrizität eigene Strafbestimmungen aufgenommen sind und daß
das Gesetz als mögliche Objekte der Aussetzung nicht bloß Kinder
sondern auch Greise und Gebrechliche anfübrt. Bemerkenswert ist
auch die starke Würdigung des Rückfalles und die zur Bekämpfung
des Duells überall geforderte strenge Bestrafung der Ehrenbeleidigungen,
endlich der intensive Schutz der kaufmännischen Ehre, des Kredites.
Dagegen ist das Delikt des Zweikampfes und der Unzucht wider die
Natur mit Tieren dem Gesetze unbekannt und die Unzucht wider
die Natur mit Personen desselben Geschlechtes wird auch nur unter
den Voraussetzungen der Notzucht unter Strafe gestellt.
Vergleich der Übersetzungen.
Bei diesem Referat habe ich mich an die Übersetzung von Shigema
Oba, kaiserlich japanischem Staatsanwalt gehalten, diese Übersetzung
ist die neuere und wie ich glaube auch weitaus die bessere, außer¬
dem benützte ich noch die Übersetzung von Dr. Lönholm, Geheimen
Justizrat und Professor an der Universität Tokyo. Dem Vergleich
dieser beiden Übersetzungen möchte ich hier einige Worte widmen.
Shigema Oba bezeichnet alle Delikte als Verbrechen, was ent¬
schieden ein Irrtum ist; Lönholm hat dafür in seiner Übersetzung den
Ausdruck Straftat, der entschieden vorzuziehen ist. Unter den
Gründen, die den bösen Vorsatz ausschließen, führt Shigema Oba die
Handlungen Bewußtloser an, während Lönholm statt bewußtlos
geistig gestört sagt. Nach Lönholm ist zu dem Verbrechen nach
182 (Kuppelei) erforderlich, daß die keinen unsittlichen Lebens¬
wandel führende Person zu Hurerei veranlaßt wird, während nach
Shigema Oba es genügt wenn sie zu geschlechtlichem Verkehr
mit anderen (also eventuell nur einmaligem) veranlaßt wird. Das
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Strafgesetz für das kaiserlich japanische Reich.
327
japanische Gesetz hat einen allgemeinen Tötungsbegriff, der
von Lönholm fälschlich mit Mord übersetzt wird. Wo Shigema
Oba das Wort Aussetzung gebraucht, gebraucht Lönholm an dessen
Stelle „im Stiche lassen“, doch scheint auch hier Lönholm im
Unrecht zu sein. Nach Shigema Oba ist zur „Geschäftsstörung“
eine Hinderung im Berufe erforderlich, während nach Lönholm
eine Benachteiligung des fremden Geschäftes genügt
Allgemeiner Teil.
Strafrechtstheorie des Gesetzes.
Auf den ersten Blick könnte man glauben, das Gesetz halte sich
an die Abschreckungstheorie, so namentlich, wenn man einzelne
Paragraphen herausgreift, die von Drakon verfaßt zu sein scheinen.
Beispielsweise bestraft das Gesetz Opiumrauchen, ja selbst den Besitz
von Opium, Hazardspiel, Vertrieb von Lotterielosen, unbefugtes Öffnen
geschlossener Briefe, Verunreinigen von Trinkwasser, mit Zuchthaus.
Die Todesstrafe kommt in sehr weitem Umfange zur Anwendung
und auf viele Delikte, die nach unserer Auffassung lediglich Über¬
tretungen sind, stehen Zuchthausstrafen. Vergleicht man aber mit
diesen strengen Bestimmungen die außerordentlich weiten Strafrahmen
und das dem Richter fast unbeschränkt zustehende Milderungsrecht,
sowie die Einrichtungen der bedingten Verurteilung und der bedingten
vorzeitigen Entlassung aus der Strafhaft, falls Besserung zu erwarten
ist, so muß man sagen, daß die hohen, im Gesetze angedrohten
Strafen wohl eine sehr wirksame Hemmungsvorstellung im Verbrecher
hervorzurufen geeignet sind, aber andererseits nach den Erfordernissen
des einzelnen Falles das Gesetz auch sehr milde angewendet werden
kann; es ist sehr bestrebt, wo es nur irgend möglich ist, auf die
Besserung des Verbrechers hinzu wirken.
Rückwirkung und Geltangsgebiet.
Die Bestimmungen hierüber sind in den ersten 8 Paragraphen
enthalten. Bezüglich der Rückwirkung ist. nichts Besonderes zu
erwähnen. Das Geldungsgebiet dieses Strafgesetzes ist prinzipiell ein
territoriales, doch werden folgende Verbrechen an allen Personen
auch wenn sie außerhalb des Reiches von Ausländern begangen
wurden, im Inlande bestraft: Verbrechen wider die kaiserliche Familie,
wider innere und äußere Sicherheit des Reiches, Fälschung von
Münzen, Wertpapieren, Urkunden, öffentlichen Siegeln und Stempeln.
Folgende Verbrechen werden, wenn sie außerhalb des Reiches be¬
gangen werden nur dann bestraft wenn sie entweder von Untertanen
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328
XVII. Frölichsthai.
oder von Fremden gegen Untertanen begangen werden: Vorsätzliche
Brandlegung, Herbeiführung von Überschwemmungen, Urkunden¬
fälschung, Fälschung von privaten Siegeln und Stempeln, Notzucht,
Schändung, Ehebruch, Kuppelei, Tötung, Körper- und Gesundheits¬
beschädigung, teilweise auch Abtreibung, Einschränkung der persön¬
lichen Freiheit, Menschenraub und Entführung, teilweise Ehren¬
beleidigung, Diebstahl und Raub, Betrug und Erpressung, Veruntreuung
von Sachen die man beruflich für andere in Verwahrung hat und
Hehlerei. Folgende Verbrechen werden nur an öffentlichen Beamten
bestraft, wenn sie außerhalb des Reiches begangen werden: Das Ent¬
weichenlassen von Verhafteten, Fälschung von Schriften und Zeich¬
nungen zum Gebrauch im Berufe, Bestechung und Mißbrauch der
Amtsgewalt.
Einteilung der Delikte.
Das japanische Strafgesetz behandelt die einzelnen Delikte nicht
nach ihrer Schwere gesondert, als Verbrechen, Vergehen und Über¬
tretungen, sondern es stellt ein einheitliches Delikt auf, was die Ein¬
richtung des Strafgesetzes natürlich wesentlich vereinfacht und ermög¬
licht, in Verbindung mit der allgemeinen Fassung mit 264 Paragraphen
auszukommen, so daß Japan das kürzeste Strafgesetz hat Immerhin
kann aus der Strafe ersehen werden ob im konkreten Falle ein Übel¬
täter wegen eines Verbrechens, eines Vergehens oder wegen einer
Übertretung bestraft wurde. Tod und Zuchthaus sind die Strafen der
Verbrechen, Gefängnis und Geldstrafen über 20 Yen — 50 K. (Bakkin)
Strafe der Vergehen, Haft und Geldstrafe unter 20 Yen (Kario),
Strafe der Übertretungen. In der mir vorliegenden Übersetzung ist
Geldstrafe über 20 Yen mit Geldstrafe, Geldstrafe unter 20 Yen mit
Geldbuße übersetzt. Das japanische Gesetz kennt nur Offizial- und
Antragsdelikte, welch letztere einen ziemlich weiten Umfang ein¬
nehmen; so sind Notzucht, Schändung, Unzucht wider die Natur,
wenn keine schweren Folgen eintreten, Ehebruch, Ehrenbeleidigung,
Verletzung von Geheimnissen, fahrlässige Körper- und Gesundheits¬
beschädigung, boshafte Sachbeschädigung, soweit sie nicht öffentliche
Urkunden, Baulichkeiten und Fahrzeuge betrifft, etc. Antragsdelikte.
Privat- und Ermächtigungsdelikte sind dem japanischen Strafgesetze
unbekannt.
Strafen.
Zu dem bereits Gesagten ist noch zu bemerken. Todesstrafe
wird nicht öffentlich durch den Strang vollzogen und kommt bei
einer ziemlich großen Anzahl von Delikten zur Anwendung, doch
kann mit wenigen Ausnahmen (Hochverrat) statt der Todesstrafe auch
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Strafgesetz für das kaiserlich japanische Reich.
329
auf Zuchthausstrafen erkannt werden. Zuchthaus kann faBt bei allen De¬
likten, selbst bei Ehrenbeleidigung, Opiararauchen etc. verhängt werden.
Gefängnisstrafe hat eine sehr untergeordnete Bedeutung, doch ist
unter Umständen die Gefängnisstrafe gegenüber der Zuchthausstrafe
als die schwerere anzusehen. Dagegen spielen die Geldstrafen eine sehr
große Rolle und kann eine Zuchthausstrafe sehr oft in eine Geldstrafe
verwandelt werden. Die niederste Geldstrafe beträgt 10 Sen (unge¬
fähr 24 Heller). Als Nebenstrafen finden wir noch Einziehung der
zu den Delikten verwendeten Werkzeuge, sowie der durch das Ver¬
brechen erlangten Gegenstände, falls sie dem Verbrecher gehört haben.
Kann die Geldstrafe nicht, oder nicht ganz hereingebracht werden,
wozu bei der Geldstrafe über 20 Yen eine Frist von 30 Tagen und
bei Geldstrafe unter 20 Yen eine Frist von 10 Tagen zu gewähren
ist, so tritt ganz oder teilweise Unterbringung in einem Arbeitshause
an ihre Stelle. Ob durch die, schon an und für sich, weiten Straf¬
rahmen und das unbeschränkte Milderungsrecht und das Recht des
Richters unter Umständen die Strafe auch ganz zu erlassen, etc., dem
Richter nicht eine allzugroße Macht gegeben wird, die zu Mißbrauch
führt, wird die Zukunft lehren. Bestimmungen über Begnadigung,
Amnestie, Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte und Polizeiauf¬
sicht sind in Spezialgesetzen enthalten.
Aufschub der Strafvollstreckung.
Dieser Aufschub der Strafvollstreckung qualifiziert sich eigentlich
als eine bedingte Nachsicht der Strafe, indem nämlich, falls der Auf¬
schub nicht widerrufen wird, das Urteil ipso iure seine Rechtskraft
verliert. Wenn auf nicht mehr als 2 Jahre Zuchthaus oder Gefängnis
erkannt wird und der betreffende Übeltäter noch nicht vorbestraft ist,
oder seit einer letzten Strafe bereits 7 Jahre vergangen sind, so kann
ein Strafaufschub von 1—5 Jahren bewilligt .werden, der aber zu
widerrufen ist, wenn der Verurteilte noch wegen eines anderen Deliktes
bestraft wird, das mit Zuchthaus oder Gefängnis geahndet wird. Wenn
in der festgesetzten Zeit kein Widerruf erfolgt, so verliert das Urteil
ipso iure seine Kraft Abgesehen von diesem Aufschub der Strafvoll¬
streckung finden wir im japanischen Strafgesetz noch das Institut der
Vorläufigen Entlassung aus der Strafanstalt.
Der Verbrecher kann, wenn man Grund zu der Annahme hat,
daß er sich gebessert hat, durch einen Akt der Verwaltungsbehörde
anch vorzeitig aus der Strafanstalt entlassen werden, doch kann unter
den gleichen Voraussetzungen, wie beim bedingten Strafaufschub auch
diese Verfügung widerrufen werden.
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330
XVII. Frölichsthal
V erjährung.
Im Strafgesetz ist nur von einer Strafvollstreckungsverjährung
die Rede, während über die Strafverfolgungsverjährung im Straf¬
prozeß gehandelt wird.
Nichtvorhandensein eines Verbrechens.
Notwehr: Eine Handlung, die unvermeidlich ist, um einen
dringenden rechtswidrigen Angriff auf ein Recht von sich
oder einem anderen abzuwehren.
Notstand: Eine Handlung, die unvermeidlich ist, um eine gegen¬
wärtige Gefahr für Leben, Leib, persönliche Freiheit oder
Vermögen von sich oder einem anderen abzuwehren.
Zu bemerken ist, daß das Gesetz beim Notstand ein Verhältnis
des angerichteten und abgewendeten Schadens verlangt. Wenn auch
diese Grenzen überschritten werden, steht es dem Richter doch frei,
die Strafe zu mildem, oder auch ganz zu erlassen.
Selbstverständlich werden Handlungen, die auf Grund eines Ge¬
setzes, oder in Ausübung eines berechtigten Berufes vorgenommen
werden, von der Strafbarkeit ausgenommen. Unkenntnis des Gesetzes
bildet einen mildernden Umstand.
Taubstumme sind entweder gar nicht, oder doch milder zu be¬
strafen; die Strafmündigkeit beginnt mit dem 14. Jahre.
Selbstanzeige, bevor die Behörde noch von dem Delikte Kenntnis
hatte, bezw. Eingestehen, gegenüber dem Antragsberechtigten, ist als
mildernder Umstand zu berücksichtigen.
Versuch.
Nach japanischem Strafrechte liegt dann Versuch vor, wenn ein
Verbrechen begonnen aber aus irgend einem Grande nicht vollendet
wurde. Ob der Versuch strafbar ist, wird im besonderen Teile bei
jedem einzelnen Delikte angegeben, bei freiwilligem Rücktritte vom
Versuche kann die Strafe gemildert, oder auch ganz erlassen werden.
Konkurrenz der Verbrechen.
Für die Bestrafung einer Realkonkurrenz besteht ein gemischtes
System, es ist nämlich bei einer Realkonkurrenz das Maximum der
zu verhängenden Strafe einerseits gegeben durch das um die Hälfte
vermehrte Maximum der schwersten Strafe, andererseits darf das
Maximum der zu verhängenden Strafe nicht das Maximum aller zu
verhängenden Einzelstrafen überschreiten. Stammen aber die Strafen
von verschiedenen Urteilen, so sind die einzelnen Strafen nebenein¬
ander zu vollstrecken. Neben der Todesstrafe haben alle Strafen,
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Strafgesetz für das kaiserlich japanische Reich.
331
außer Einziehung, neben lebenslänglichen Strafen alle, außer Ein¬
ziehung und Geldstrafen zu entfallen. Bei Idealkonkurrenz werden
jene Vorschriften angewendet, die die schwerste Strafe verhängen.
Rückfall.
Bei Rückfall kann das Doppelte des für das betreffende Ver¬
brechen bestimmten Maximums verhängt werden. Doch verjährt der
Rückfall in 5 Jahren, wenn nicht ein neues, mit Zuchthaus bedrohtes
Delikt begangen wird. Wenn die Tatsache des Rückfalles, erst nach
Verbüßung oder Erlaß der Strafe bekannt wird, so ist auf den Rück¬
fall keine weitere Rücksicht zu nehmen.
Teilnahme.
Im allgemeinen werden die verschiedenen Artender verbrecherischen
Teilnahme vom japanischen Gesetz ähnlich unserem Gesetz behandelt.
Doch wird Anstiftung und Beihilfe bei einem nur mit Haft oder mit
Geldstrafe bedrohtem Delikt nur dann bestraft, wo dies im Gesetz be¬
sonders angeordnet ist.
Strafmilderung auf Grund freien Ermessens.
Diese Einrichtung entspricht unserem außerordentlichem Milderungs¬
recht und kann selbst dann zur Anwendung kommen, wenn die Strafe
kraft des Gesetzes zu verschärfen oder zu mildern ist.
Strafschärfung und Milderung.
Hier trifft das Gesetz detaillierte Anordnungen, wie vorzugehen
sei, wenn eine Strafe zu mildern oder zu verschärfen ist. Durch die
in Japan herrschende Religion wird dem Ahnenkult eine hohe Be¬
deutung beigelegt und finden wir daher als vornehmsten Erschwerungs¬
umstand des japanischen Strafgesetzes, das Begehen eines Verbrechens
gegen Verwandte in gerader aufsteigender Linie.
Besonderer Teil.
1. Delikte wider die kaiserliche Familie.
Gefährliche Handlungen gegen den Kaiser, seine Mutter, Gro߬
mutter, gegen den Kronprinzen oder den zur Thronfolge bestimmten
Enkel des Kaisers werden mit dem Tode, wenn sie gegen andere
Mitglieder der Familie gerichtet sind, mit dem Tode oder mit lebens¬
länglichem Zuchthaus bestraft, unehrerbietige Handlungen gegen die
kaiserlichen Familie, gegen den kaiserlichen Ahnentempel und gegen
die kaiserlichen Grabstätten sind mit Zuchthaus zu bestrafen.
2. Delikte gegen die innere Sicherheit des Staates.
Hervorrufen von aufständischen Bewegungen, um die Regierung
zu stürzen und die Verfassung anzugreifen oder dem Reiche Gebiete
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332
XVII. Fbölichsthal
zu entreißen, wird je nach der Tätigkeit mit Tod, Zuchthaus oder
Gefängnis bestraft.
3. Delikte in bezug auf ausländische Angriffe.
Es ist dies eine Reihe von Delikten, die wir größtenteils im
Militärstrafgesetz haben, es umfaßt boshafte Beschädigung von mili¬
tärischen Ausrüstungsgegenständen, Festungen etc., Übergabe an den
Feind, Spionage. Diese Verbrechen werden mit Tod oder Zuchthaus
bestraft
4. Delikte in bezug auf den internationalen Verkehr.
Tätlichkeiten oder Beleidigungen gegen einen fremden, im Reichs¬
gebiete weilenden Souverän oder Präsidenten einer Republik und
deren Gesandte. Wenn dieses Delikt durch Beleidigungen oder durch
Zerstören fremder Flaggen oder Hoheitszeichen geschieht, so ist es
nur auf Antrag der betreffenden Regierung zu verfolgen. Ein weiteres
hierher gehöriges Delikt ist die Verletzung der Neutralität
5. Delikte, die die Ausübung amtlicher Verrichtungen
hindern oder stören.
Gewalt oder Drohung gegen einen in Ausübung seines Berufes
befindlichen öffentlichen Beamten und Zerstören von durch öffentliche
Beamte angelegten Siegeln und Zeichen der Beschlagnahme. Diese
Delikte werden mit Zuchthaus, Gefängnis oder mit Geld bestraft.
6. Delikte der Gefangenen-Flucht, bezw. Befreiung.
Der Gefangene der entweicht, wird je nachdem, ob er hierbei
das Gefängnis beschädigt oder Gewalt angewendet hat, mehr oder
weniger streng mit Zuchthaus bestraft. Weitere Verbrechen sind:
Befreiung oder Beihilfe zur Flucht und das Entweichenlassen von
Gefangenen durch den Begleiter oder Aufseher.
7. Delikt des Verbergens von Verbrechern und
Beseitigung von Beweisgegenständen.
Ermöglichung der Flucht und das Verbergen von Verbrechern
und Gefangenen sowie Beseitigung, Fälschung oder betrügerischer
Gebrauch von Beweisgegenständen wird mit Zuchthaus oder Geld
bestraft. Straflos wird dieses Verbrechen, wenn es von den Ver¬
wandten des Verbrechers zu dessen Gunsten begangen wird.
8. Delikt d es Aufruhres.
Zusammenrotten einer Menschenmenge mit Begehung von Gewalt¬
handlungen und Drohungen. Die Rädelsführer und diejenigen, die
besonders auf hetzen, werden mit Zuchthaus oder Gefängnis, die sich
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Strafgesetz für das kaiserlich japanische Reich.
333
bloß an der Ansammlung beteiligen, mit Geld bestraft Wenn es
noch nicht zu Drohungen oder Gewalthandlungen gekommen ist
sondern die Menge sich nur nicht auf die dreimalige Aufforderung
hin zerstreut hat, sind mildere Strafen zu verhängen.
9. Delikte der vorsätzlichen und fahrlässigen Brand¬
stiftung.
Brandlegung wird namentlich streng mit dem Tode oder mit
Zuchthaus bestraft, wenn ein Gebäude, ein Wagen der Dampf bahn
oder der elektrischen Bahn, ein Fahrzeug oder ein Bergwerk, das
für Menschen als Wohnung dient, oder in dem sich gerade Menschen
befinden, in Brand gesteckt wird. Milder ist die Strafe wenn sich
gerade kein Mensch darin befindet, oder wenn ein anderer Gegen¬
stand in Brand gesteckt wird. Wer seine eigene Sache, wenn sie
weder versichert noch mit einem dinglichen Recht belastet, oder be¬
schlagnahmt ist, noch dadurch eine Gefahr für das Publikum herbei¬
geführt wird, in Brand steckt, ist straflos. Wenn die Sache versichert, be¬
schlagnahmt oder mit einem dinglichen Recht belastet ist, so ist so zu
verfahren, wie bei einer ganz fremden Sache. Versuch und Vor¬
bereitungshandlungen sind strafbar. Für fahrlässige Brandstiftung
sind Geldstrafen bestimmt. Als Brandlegung wird auch bestraft, wenn
fremde Gegenstände durch Explosion von Pulver, Dampfkesseln etc.
zerstört werden. Im gleichen Abschnitt sind auch Strafen festgesetzt,
wenn jemand durch Ausströmenlassen von Dampf, Gas oder Elek¬
trizität, oder durch Verhinderung dieser Ausströmung Menschen tötet
oder verletzt, oder gefährdet, eventuell sind aber die Strafen wegen
Körper- oder Gesundheitsbeschädigung anzuwenden.
10. Delikte bezüglich Überschwemmungen und
W asserläuf en.
Beschädigung eines Gebäudes, eines Wagens der Dampfbahn oder
elektrischen Bahn oder eines Bergwerkes, das Menschen als Wohnung
dient oder worin sich gerade Menschen befinden durch Herbeiführung
einer Überschwemmung. Strafe hierfür Tod oder Zuchthaus, milder
ist die Strafe, wenn es sich um einen anderen Gegenstand handelt.
Weitere hierher gehörige Delikte sind das Zerstören von zur Abwehr
von Überschwemmungen bestimmten Gegenständen, Durchbrechung
von Dämmen und Beschädigung von Schleusen, endlich fahrlässige
Herbeiführung von Überschwemmungen.
11. Delikte der Verkehrsstörung.
Zerstören von Eisenbahnen, Straßen, Kanälen, Signalzeiclien,
Bojen- und Leuchttürmen etc. Qualifiziert ist dieses Delikt, wenn
Archiv für Kriminalanthropologie, 29. Bd. 22
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XVII. Frölichsthal
hiedurch Menschen gefährdet werden. Bei doloser Begehung wird
dieses Delikt mit dem Tode oder mit Zuchthaus, bei fahrlässiger
Begehung mit Geld bestraft.
12. Delikt des Hausfriedensbruches.
Der Begriff ist der gleiche wie im deutschen Reichsstrafgesetz¬
buch. Das Eindringen, auch allein und unbewaffnet und das Sich —
nicht — Entfernen auf die Aufforderung des Berechtigten hin wird als
Verbrechen mit Zuchthaus oder Geld bestraft. Qualifiziert ist das
Eindringen in den Palastrayon, Nebenpalast und zeitweiligen Aufent¬
haltsort des Kaisers, in den kaiserlichen Ahnentempel und zu den
kaiserlichen Grabstätten. Dieses Delikt ist im Gegensatz zum Reichs¬
strafgesetzbuch ein Officialdelikt, der Versuch ist strafbar.
13. Delikt des Verletzens von Geheimnissen.
Das unbefugte Öffnen von verschlossenen Schriftstücken, sowie
der Verrat fremder Geheimnisse durch Geistliche, Ärzte, Hebammen,
Verteidiger, Apotheker, Rechtsanwälte, Notare, wenn ihnen diese in
Ausübung ihres Berufes bekannt wurden, ist als Antragsdelikt mit
Zuchthaus oder Geld zu bestrafen.
14. Delikte in bezug auf Rauchopium.
Diesbezüglich stellt das Gesetz eine Reihe von Delikten auf, die
alle mit Zuchthaus bestraft werden. (Verkauf, anderweitiger Vertrieb,
Rauchen von Opium etc.).
15. Delikte der Verunreinigung von Trinkwasser.
Die Verunreinigung von Trinkwasser steht auch unter sehr hohen
Strafen, eventuell kann sogar die Todesstrafe verhängt werden, falls
die Vorschriften über Gesundheits- und Körperbeschädigung strenger
sind, müssen diese zur Anwendung gebracht werden.
16. Fälschung von Münzen und Kreditpapieren.
Hier sind in Japan beiläufig die gleichen Strafen wie bei uns,
erforderlich bei diesem Delikt ist jedoch, daß die Nachahmung zum
Zwecke des Gebrauches geschehe, die bewußte Weitergabe von falschen
Münzen wird nur mit Geldstrafe belegt.
17. Urkundenfälschung.
Zu diesem Delikt wird auch gerechnet, wenn jemand einem
öffentlichen Beamten eine falsche Angabe macht, damit dieser eine
falsche Eintragung macht. Hierher wird endlich gerechnet, wenn der
Arzt ein falsches Zeugnis ausstellt.
IS. Fälschung von Wertpapieren.
Hier gilt das Gleiche wie bei der Münzfälschung, es wird auch
hier gefordert, daß die Nachmachung zum Zwecke des Gebrauches
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Strafgesetz für eins kaiserlich japanische Reich.
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geschehe, oder falls die Fälschung von einem anderen herrührt, daß
sie in Gebrauch genommen wird. Auch dieses Delikt wird mit Zucht¬
haus geahndet.
19. Siegel- und Stempelfälschung.
Auch diese Fälschung ist nur dann strafbar, wenn sie zu dem
Zwecke des Gebrauches geschieht, hierher wird auch die Fälschung
von Unterschriften gerechnet. Qualifiziert ist dieses Delikt, wenn
Siegel, Stempel oder Unterschrift einer öffentlichen Behörde oder des
Kaisers gefälscht werden, oder unberechtigterweise benützt werden.
Beim qualifizierten Delikt ist die Strafe Zuchthaus nicht unter 2 Jahren.
20. Abgabe von falschem Zeugnis.
Hierher gehört falsches Zeugnis unter Eid oder falsche Aussage
von Dolmetschern und Sachverständigen. Wenn das falsche Zeugnis
aber vor Rechtskraft des betreffenden Urteiles oder vor Erlassung
einer Disziplinarverfügung eingestanden wurde, so kaun die Strafe
gemildert oder ganz erlassen werden.
21. Verleumdung.
Unter den gleichen Umständen, wie im vorhergehenden Para-
graphe kann auch hier die Strafe gemildert oder erlassen werden.
22. Sittlichkeitsdelikte.
Der Begriff der Notzucht ist der gleiche wie hei uns. Unzucht
wider die Natur mit Personen gleichen Geschlechtes, Schändung wird
nur unter den Umständen gestraft, die bei uns erforderlich sind um
den außerehelichen Beischlaf zum Verbrechen der Notzucht zu machen.
Solange nicht der Tod oder Körper- oder Gesundheitsbeschädigung
eintritt, sind diese Delikte Antragsdelikte. Als weiteres Delikt stellt
das Gesetz auf, wenn jemand aus Gewinnsucht eine Person, die keinen
unsittlichen Lebenswandel führt, zu geschlechtlichem Verkehr mit
einer anderen Person veranlaßt. Ferner kennt das Gesetz noch Bigamie
und als Antragsdelikt Ehebruch, der aber nur bei der Frau und dem¬
jenigen, der mit der Frau den Ehebruch begeht, bestraft wird. Ferner
hat das Gesetz noch Bestimmungen, die sich mit unserem § 510 decken.
Dagegen kennt das Gesetz nicht Blutschande und Unzucht wider die
Natur mit Tieren.
23. Delikte in bezug auf Spiel und Wette.
Spiele und WetteD, bei denen die Entscheidung nur vom Zufalle
abhängig ist, werden, außer wenn nur um Sachen gespielt wird, die
zum sofortigen Genüsse dienen, als Verbrechen bestraft.
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XVII. Frölichsthal
24. Religionsdelikte und Grabschändung.
Umfaßt beschimpfende Handlungen an Tempeln, buddhistischen
Kirchen, Begräbnisplätzen oder sonst Orten der religiösen Verehrung,
Störung und Hinderung von Gottesdienst und Begräbnissen und
Leichenschändung. Fast alle diese Delikte werden mit Zuchthaus
bestraft. Endlich wird hierher noch ein Delikt gerechnet, das mit
Grabstätten nur dem Namen nach zuhammenhängt, wenn nämlich
das Begraben einer Person, die eines nicht natürlichen Todes ge¬
storben ist, ohne Leichenschau stattfand.
/
25. Verbrechen im Amte.
Mißbrauch der Amtsgewalt, wodurch jemand zu einer Handlung
gezwungen wird, oder wenn hiebei jemand verletzt, mißhandelt oder
in seiner Freiheit eingeschränkt wird, Geschenk-Versprechen und An¬
nahme. Bei den letzteren Delikten kann bei Geständnis die Strafe
gemildert oder erlassen werden.
26. Tötung.
Darunter versteht das japanische Gesetz die absichtliche, unmittel¬
bare Tötung, das heißt der Tod darf nicht erst infolge einer Ver¬
letzung eingetreten sein. Keinen Unterschied macht aber das Gesetz
zwischen Mord, Kindesmord, Totschlag etc. Qualifiziert ist die Tötung
von Ascendenten in gerader Linie. Die Strafe dieses Deliktes ist Tod
oder Zuchthaus. Vorbereitungshandlungen sind bei diesem Delikt zu
bestrafen. Unter Umständen kann aber die Strafe gemildert oder
ganz erlassen werden. Ein besonderes hierher gehöriges Delikt ist
Anstiftung zum Selbstmord und Tötung auf eigenes Verlangen.
27. Körper- und Gesundheitsbeschädigung.
Dieses Delikt ist so ziemlich wie bei uns nur sehr allgemein ge¬
halten. Gewalttätigkeiten ohne Körper- oder Gesundheitsstörung sind
ein Antragsdelikt.
28. Fahrlässige Körper- und Gesundheitsbeschädigung
und fahrlässige Tötung.
Dieses Delikt stimmt fast ganz mit unserem § 335 überein.
29. Abtreibung der Leibesfrucht
Qualifiziert ist dieses Verbrechen, wenn es von Ärzten, Hebammen,
Drogisten, Apothekern begangen wird oder wenn die Abtreibung ohne
Wissen bezw. wider den Willen der Schwangeren vorgenommen wird.
Wenn der Tod oder eine Körperverletzung der Schwangeren eintritt,
sind die Vorschriften über Körperverletzung oder Gesundheitsbeschä¬
digung in Anwendung zu bringen.
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Strafgesetz für das kaiserlich japanische Reich.
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30. Aussetzung.
Nicht bloß Kinder, sondern auch Personen, die aus anderen
Gründen nicht für sich selbst sorgen können, z. ß. Altersschwache
und Gebrechliche sind mögliche Objekte der Aussetzung. Qualifiziert
ist dieses Verbrechen, wenn der Aussetzer für die ausgesetzte Person
zu sorgen hat. Besonders streng wird die Aussetzung von Ascendenten
bestraft. Subsidiär gelten auch hier die Vorschriften der Körper¬
verletzung.
31. Einschränkung der persönlichen Freiheit.
Qualifiziert ist dieses Verbrechen bei Ascendenten, auch hier können
subsidiär die Vorschriften über Körperverletzung angewendet werden.
32. Drohung und Erpressung.
Die Drohung muß bei diesem Delikt nicht gegen den Verletzten
selbst, sondern sie kann auch gegen seine Verwandten gerichtet sein.
33. Menschenraub und Entführung.
Menschenraub ist der gleiche Begriff wie bei uns, Entführung
ist möglich bei Minderjährigen, oder aus Gewinnsucht oder zu Un¬
zucht oder Ehe. Die Entführung ist, wenn sie nicht aus Gewinnsucht
begangen wird, ein Antragsdelikt.
34. Ehrenbeleidigung.
Dieses Delikt ist, wenn es durch Äußerung von Tatsachen be¬
gangen wurde, mit Zuchthaus, sonst mit Geld zu bestrafen, auffallend
ist, daß außer bei Verstorbenen der Wahrheitsbeweis nicht zulässig
ist. Das Delikt ist ein Antragsdelikt.
35. Delikte wider Kredit und Beruf.
Dieses Delikt umfaßt die Schädigung des Kredites durch Ver¬
breitung unwahrer Gerüchte oder durch Arglist und gewaltsame
Hinderung an der Ausübung eines Berufes.
36. Diebstahl und Raub.
Ob eine Sache mit Gewalt geraubt wurde oder ob Gewalt bloß
angewendet wurde, um eine bereits gestohlene Sache im Besitz zu
behalten, ist irrelevant. Besonders wird im Gesetze bervorgehoben
die Konkurrenz von Raub und Notzucht. Diebstahl unter Verwandten
gerader Linie, unter Ehegatten und zusammenlebenden Verwandten
und Hausgenossen ist straflos, unter nicht zusammenlebenden Ver¬
wandten und Hausgenossen ist er ein Antragsdelikt. Entwendung
von Elektrizität ist als Diebstahl anzusehen.
37. Betrug und Erpressung.
Hierher rechnet das Gesetz Täuschung und Benutzung der Un¬
erfahrenheit Minderjähriger und Geisteskranker, um sich Vermögens-
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XVII. Fküijchsthal
werte Gegenstände zuzueignen. Namentlich wird zum Betrug auch
gerechnet, wenn jemand, um einen anderen zu schädigen, oder um
sich oder einem anderen einen Vorteil zu verschaffen, seine Vollmacht
mißbraucht. Im Gegensatz zu unserem Gesetz ist der Betrug des
japanischen Strafrechtes ein reines Vermögensdelikt.
Erpressung wird im Gesetz zweimal behandelt, an dieser Stelle
dürfte mehr eine Einschüchternng gemeint sein, um jemand zur Über¬
tragung einer Sache zu bewegen, während im ersten Falle eine wirk¬
liche Bedrohung zur Erzwingung einer Leistung gemeint ist.
38. Unterschlagung.
Dieses Delikt umfaßt dasjenige, was bei uns als Veruntreuung
gilt, qualifiziert ist dieses Delikt, wenn man Sachen unterschlägt, die
man berufsmäßig für einen anderen im Besitze hat Auch Fundver¬
heimlichung und Verheimlichung von Strandgut bestraft das Gesetz
an dieser Stelle. Die beiden letzteren Delikte können statt mit Zucht¬
haus auch mit Geld bestraft werden.
39. Hehlerei.
Im japanischen Gesetz ist dies ein besonderes Delikt, während es
bei uns als Teilnehmung am Diebstahle bestraft wird; wenn der be¬
treffende verhehlte Gegenstand von einem unter zusammenlebenden
Verwandten oder Hausgenossen begangenen Diebstahl herrührt, so ist
die Hehlerei straflos.
40. Sachbeschädigung und Unterschlagung von Briefen.
Außer bei öffentlichen Urkunden, die zum Gebrauche einer Be¬
hörde dienen, bei Baulichkeiten oder Fahrzeugen ist die boshafte
Sachbeschädigung ein Antragsdelikt. Subsidiär sind auch bei diesem
Delikt die Vorschriften über Körperverletzung anzuwenden, wenn dort
strengere Strafen verhängt werden, auch die boshafte Beschädigung
eigener Sachen wird nach diesen Normen bestraft, wenn sie mit einem
dinglichen Rechte belastet, vermietet oder beschlagnahmt sind. Ge¬
straft wird dieses Delikt mit Zuchthaus oder mit Geld. Ein Antrags¬
delikt bildet endlich die Unterschlagung fremder Briefe.
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XVIII.
Vorleben und Vorgehen eines Raubmörders.
Mitgeteilt vom
Untersuchungsrichter Dr. Anton Glos, Neutitschein.
Am 6. Mai 1907 verbreitete sieb in den Vormittagsstunden in
Neutitschein dem Sitze eines Gerichtshofes, die Nachricht, daß die
19jährige Adele Hromatka von einem Unbekannten um etwa 9 Uhr
vormittags erschossen wurde. Der gerichtliche Lokalaugenschein und
die auf dem Tatorte eingeleitete Erhebung ergaben, daß ein Raub¬
mord vorliegt, vom Täter selbst wußte man außer einer vagen Persons¬
beschreibung — die Zeugenaussagen widersprachen sich in einer für
den Laien unerfindlichen Weise*) — gar nichts, die Erhebungen *
waren insofern erschwert, als das Haus der Eheleute Hromatka, deren
Tochter ein Opfer des Raubmordes war, auf der sogenanten Steinberg¬
straße, einer beliebten Promenade, gelegen ist und in demselben ein
Flaschenbierhandel und Tabakverschleiß betrieben wird: der Kreis
der allenfalls Verdächtigen war kein kleiner.
Ich schicke voraus, daß der Täter eruiert und zu stände gebracht
wurde, der Gang der diesbezüglichen Erhebungen soll nur soweit
geschildert werden, als dies notwendig ist, um die Gemütsart, Denkungs-
weise und den Charakter des Täters erkennen zu können; die Unter¬
suchung und Beweisführung lieferte vom kriminalistischen Standpunkte
einen guten Beleg für den Satz, daß die Realien jederzeit zu berück¬
sichtigen sind, doch es soll darauf nicht eingegangen werden, da der
vorliegende Fall mehr durch die Persönlichkeit des Täters, seine
Eigenschaften und sein Vorleben bemerkenswert ist und in mancher Be¬
ziehung als ein Beitrag zur Psychologie des Raubmörders dienen kann.
Die erste verläßliche Spur des Mörders wurde dadurch aufgedeckt,
daß die Behörden auf einen Mann aufmerksam gemacht wurden, der
verschiedene bedenkliche Äußerungen machte, aus denen geschlossen
1) Es ist eine bekannte Tatsache, daß Zeugenaussagen über Persons¬
beschreibungen mit Vorsicht aufzunehmen sind; das zeigen auch verschiedene
Versuche, von denen in Sterns Beiträgen berichtet wird; für das Stadium der
Ermittelung des Täters sind jedoch auch minder verläßliche Beschreibungen nicht
zu unterschätzen.
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XVIII. Glos
werden konnte, daß er ein Verbrecher ist und daß er mit dem Raub¬
morde am Steinberg in Verbindung gebracht werden kann.
Am 4. Mai 1907 saßen zwei Arbeiter, welche „blau“ machten,
im Stadtpark; es gesellte sich zu ihnen ein unbekannter Mann, der
mit ihnen ein Gespräch anknüpfte; sie besprachen verschiedene Dinge,
hierbei erwähnte der Arbeiter M., er habe am Bahnhofe in Neutitschein
gearbeitet, man habe dort, um vielleicht seine Ehrlichkeit auf die
Probe zu stellen, oft Geld liegen gelassen, er habe aber nie davon
etwas genommen. (Allem Anscheine nach wurde davon gesprochen,
daß man eher auf unehrliche Weise, als durch Händearbeit zu Geld
kommt, die Zeugen sprachen sich da begreiflicherweise zurückhaltend
aus.) Der Fremde meinte hierauf, da sei M. dumm gewesen, erkun¬
digte sich sofort, wie groß die Bahnhofskasse sei und bemerkte auf
die diesbezüglichen Auskünfte, daß man eine solche wegtragen könnte.
Er vertraute den genannten Zeugen an, er sei einmal 11 Monate ge¬
sessen, er habe sich nur einmal fangen lassen, ein zweitesmal werde
man ihn nicht kriegen, er könnte einen Freund brauchen, der nichts
verrate. Zu M. sagte er insbesondere noch, er gehe am Montag zu
Hromatka, was er dort machen werde, sagte er angeblich nicht. Auch
rühmte er sich, er sei kaltblütig und lasse niemanden an sich heran¬
treten. An der linken Hand hatte er eine ziemlich frische Verletzung,
die er sich seiner Angabe zufolge bei der Arbeit in der Fabrik zu¬
gezogen hat, infolgedessen sei er marod und arbeite nicht; schließlich
erwähnte er, daß ihm seine Mutter in Sohle, einem benachbarten
Dorfe Neutitscheins, die Wunde verbinde; er hatte auch einen regel¬
rechten Verband. Während in Sohle nach dem Unbekannten geforscht
wurde, machte der Zeuge F. Z. aus Sohle gelegentlich eines Besuches
im Gasthause des Hromatka verschiedene Bemerkungen, die auf seinen
Schwager R. S. als den Täter hinwiesen. Als Zeuge einvernommen,
deponierte er nachstehendes: Sein Schwager R. S. sei am 27. April
1907 zu seiner in Sohle lebenden Mutter gekommen, angeblich um
zur Assentierung zu gehen (er war Bergarbeiter in Hartau, Preußisch-
Schlesien) und sich Geld zu holen, das er nach Sohle gesendet zu
haben vorspiegelte. Z. ging nun oft mit Sk. spazieren, sie besuchten
auch einen gewissen A. J., den Sk. in der Strafanstalt kennen lernte
und kehrten eines Tages auch bei Hromatka ein; hier sah Sk., wie
Frau Hromatka das Geld, womit er die Zeche beglich, in einen
Schubladekasten gab, und als die Frau die beiden Gäste auf einen
Moment alleinließ, sagte Sk., auf den Schubladekasten deutend: „Franz,
wenn wir das Geld hätten.“ Als Z. ihn fragte, was er davon hätte,
meinte Sk.: „nehmen siclrs und ist.“ Den Einwurf des Z., daß sie
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Vorleben und Vorgehen eines Raubmörders. 341
davon nur Schande hätten, wehrte Sk. mit der Bemerkung ab, ein
Arbeiter habe heutzutage nichts, wenn er es nicht durch Diebstahl
bekomme. „Du bist ein dummes Luder, ich bin gescheiter als ein
Advokat, wenn mir jemand dazwischen kommt, erschieße ich ihn.“
Diese Äußerungen und der Umstand, daß Sk., der am 2. Mai 1907
sich von seinen Eltern verabschiedete, um nach Hartau zu fahren,
dort aber nicht eintraf, bewogen den Untersuchungsrichter, die steck¬
briefliche Verfolgung des Sk. einzuleiten.
Zeuge F. Z. bestätigte gleichfalls, daß Sk. bei seiner Ankunft in
Sohle an der linken Hand eine Verletzung hatte und daß seine Kleider,
und zwar die Hose an den Knien und rückwärts der Rock, zerrissen
waren, obwohl sie sonst ganz neu waren.
Aus der Zeitungspresse war nun dem Untersuchungsrichter be¬
kannt, daß am 26. April 1907 in Hrabuwka ein Einbruch in ein
Postamt erfolgte, wobei nach einem zurückgelassenen Abdruck einer
blutigen Hand der Täter sich bei der Flucht dadurch verletzte, daß
er eine Fensterscheibe einschlug; da nun der Täter beim Durch¬
kriechen sich an den Knieen und am Rock die Kleider zerrissen
haben konnte, vermutete der Untersuchungsrichter in Sk. auch den
Einbrecher in Hrabuwka, zumal Sk. schon am 26. April 1907 Hartau
verließ und am selben Tage noch hätte in Sohle eintreffen können.
Sk. wurde nun in Wien, wo er sich unter einem falschen Namen
aufhielt, ausgeforscht und verhaftet. Er verantwortete sich dahin, daß
er nur auf einen Diebstahl bei Hromatka ausgegangen sei; als er,
schon im Besitze des gestohlenen Geldes, aus dem Hause ausgetreten
sei, habe ein Mädchen gerufen: „Halt! ein Dieb ist da!“ worauf er,
um sie zu schrecken, einen Schuß gegen sie abfeuerte; erst bei seiner
Inhaftnahme habe er erfahren, daß das Mädchen tot sei.
R. Sk. wurde jedoch auf Grund der erhobenen Beweise, insbe¬
sondere der Ergebnisse des Lokalaugenscheines und der Ijeichen-
öffnung, des Raubmordes schuldig erkannt und zum Tode durch den
Strang verurteilt; mit Allerhöchster Gnade wurde ihm die Todesstrafe
in eine lebenslängliche schwere Kerkerstrafe umgewandelt.
R. Sk. ist am 17. Juni 1884 in Sohle geboren, woselbst seine
Eltern, Fabrikarbeiter, ein Häuschen besaßen; hier besuchte R. Sk.
die 8klassige Volksschule, ein Schulzeugnis tadelt an ihm, daß er in
der Schule nachlässig und ausgelassen sei und daß er wegen eines
nicht zur Anzeige gebrachten Diebstahls eine nicht entsprechende
Sittennote davontrug.
Als 12jähriger Knabe legte er aus purer Bosheit in dem Aus-
gedingsgebäude einer gewissen Johanna Sk. in Sohle ein Feuer an,
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342
XVIII. Gros
wodurch ein Schaden von 1600 K entstand; ein völlig Unschuldiger
wurde wegen dieses Brandes gefänglich eingezogen, während R. Sk.,
dessen Verschulden man nicht kannte, als Zeuge figurierte. Als
13 jähriger Knabe verübte er einen verbrecherischen Diebstahl, wurde
dann in den Jahren lb98 und 1899 wegen der Übertretungen des
Diebstahls je einmal abgestraft, bis er im Jahre 1901 wegen Ver¬
brechen des Diebstahls zu 3 Monaten schweren Kerkers verurteilt
wurde. Die Gemütsart des R. Sk. kennzeichnet besonders der Um¬
stand, daß er im Jahre 1901 einen Einbrucbsdiebstahl im Hause
seiner Mutter verübte und sodann, auf daß der Diebstahl nicht ent¬
deckt werde, das Haus in Brand steckte. Dies trug ihm eine 5jährige
schwere Kerkerstrafe ein, die er in den Strafanstalten Mürau und
Prag abbüßte.
Es verdient hervorgehoben zu werden, daß alle Diebstähle, derent¬
wegen R. Sk. bis 1901 bestraft wurde, an Hausgenossen verübte Ge¬
legenheitsdiebstähle sind, die weder Geschicklichkeit noch Planmäßig¬
keit erheischten; das Motiv war Genußsucht. Die 5jährige schwere
Kerkerstrafe scheint aus Sk. einen andern Mann gemacht zu haben;
ein gewesener Mitsträfling des R. Sk. wußte zu berichten, daß der¬
selbe mit Vorliebe den Gesprächen der Verbrecher über Einbrüche
und Verbrechertriks zuhörte, er sprach auch schon in der Strafanstalt
davon, daß er es einmal auch wagen werde; nicht ohne Bedeutung
ist auch der Umstand, daß sich unter den Effekten des Sk. ein Kri¬
minalroman befand, in dem viel von Einbrechern und Diebstählen
die Rede war.
Als Sk. nach Abbüßung der 5jährigen Kerkerstrafe die Straf¬
anstalt verließ und Verbrechen zu begehen anfing, da zeigte sein
Vorgehen, daß er zu gewiegten Verbrechern in der Schule gegangen
ist und daß er für ihre Lehren ein sehr empfängliches Gemüt hatte.
Aus dem scheinbar harmlosen, jugendlichen Gelegenheitsdieb ward
ein gemeingefährlicher Verbrecher, der entschlossen war, die in der
Strafanstalt erworbenen Kenntnisse in die Praxis umzusetzen und
selbst vor einem Morde nicht zurückzuscheuen. Er schaffte sich des¬
halb alsbald einen Revolver und Munition an. Am 26. November 1906
büßte er seine Strafe ab und begab sich nach Wien, wo er sich an¬
geblich in Herbergen, Asylen und dgl. herumschlug; jedenfalls suchte
er mit einigen Wiener „Schränkern“, die er in der Strafanstalt
kennen lernte, in Fühlung zu treten. Am 23. Januar 1901 ging er
als Bergarbeiter nach Ilartau, wo er guten Verdienst fand; am
26. April 1907 verließ er Ilartau, da er in Braunau am 30. April 1907
zur Assentierung eintreffen sollte. Er fuhr jedoch nach Söble, wobei
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Vorleben und Vorgehen eines Raubmörders.
er einen Abstecher nach Mähr.-Ostrau machte, hier erkundigte er sich
nach einem gewesenen Miirauer Mitsträfling und verübte sodann im
Postamte Hrabuwka einen verwegenen Einbiuch; er wurde bei der
Arbeit überrascht und kam mit blutiger Hand und zerrissenen Klei¬
dern davon. Hier ging er bereits planmäßig vor, da er zuvor alles
genau auskundschaftete. Er flüchtete nun in der Richtung gegen
Neutitschein; auf dem Wege dahin stattete er in einem Dorfe einem
Mühlenpäcbter einen Besuch ab, er führte sich als Wirtschaftsadjunkt
einer Gutsherrschaft ein, verstand es, seine Verletzung und die Be¬
schädigung der Kleider durch einen Unfall zu erklären und suchte
in einem Gespräche mit dem Pächter die Verhältnisse des Eigen¬
tümers der Mühle, eines sehr vermögenden Mannes, auszukund¬
schaften. Dann suchte er den Müller selbst auf und ließ sich hier
die Hand verbinden; jedenfalls hielt er den Zeitpunkt nicht für ge¬
eignet, um dort etwas zu unternehmen oder verschob er es auf einen
späteren Zeitpunkt.
Dieser Zwischenfall wurde dadurch aufgedeckt, daß in seinem
Notizbuch eine genaue Adresse des Müllers eingetragen war. Wäh¬
rend seiner Anwesenheit in Sohle kundschaftete er auch in Neutit¬
schein einige Standorte von Kassen auf, indem er unter einem plau¬
siblen Vorwand den Inhaber einer Kassa aufsuchte. Allem Anscheine
nach warb er Komplizen für eine größere verbrecherische Unter¬
nehmung; darauf weist das verdächtige Gespräch im Stadtpark hin,
sowie daß er ehemalige Sträflinge aufsuchte; einer von ihnen be¬
stätigte auch, daß Sk. ihm deutlich zu verstehen gab, daß er mit ihm ein
verbrecherisches Unternehmen wagen würde, was dieser jedoch ablehnte.
Als er nun eingesehen haben mochte, daß er keine geeigneten
Komplizen finden könne, unternahm er allein die Tat am Steinberg;
auch hier ging er behutsam zu Werke, indem er durch etwa zwei
Tage von einem Wäldchen aus genau das Häuschen beobachtete und
sich vollkommen orientierte; die Beute war jedoch gering, da er nur
etwa 15 K. raubte, indem zufällig kurz vor der Tat die Mutter des
Mädchens einen größeren Betrag, um Zahlungen zu leisten, entnahm.
Einige Wochen nach gefälltem Urteil unternahm Sk. einen Flucht¬
versuch; er wußte sich auf eine unaufgeklärt gebliebene Weise ein
Messer zu beschaffen, lockerte nach tagelanger Arbeit die Füllung
der eichenen Zellentüre, wobei er die Fugen mit geknetetem Brote
geschickt verschmierte: sein Unternehmen wurde rechtzeitig noch im
letzten Augenblicke entdeckt und verhindert.
Sk. bedauerte, daß ihm die Flucht nicht gelang; es hätte erst
die Welt erfahren, was er noch auszuführen imstande sei.
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XIX.
Tötung aus Aberglauben.
Mitgeteilt von
Privatdozent Dr. Hans Reichet Leipzig.
Wie der „Tag“ (No. 482/07) sieh drahten ließ, wurde in dem
nordamerikanischen Städtchen Zion die greise Letitia Greenhaulgh
von ihrem Sohn, ihrer Tochter und drei anderen Personen, sämtlich
Angehörigen der Parhamitensekte, in wohlmeinender Absicht zu Tode
gemartert. Die alte Frau war gichtbrüchig. In dem Wahne be¬
fangen, die Patientin sei vom bösen Geiste besessen, welcher ausge¬
trieben werden müsse, knieten die fünf Personen am Krankenbette
nieder, verrichteten Gebete und begannen nunmehr (ob mit oder ohne
Einwilligung der Kranken, wird nicht gesagt) die Glieder der Frau
auseinanderzuzerren und zu verrenken. „Die Schmerzensrufe der
Unglücklichen begrüßten sie mit dem Triumphgeschrei, daß dies die
Angstrufe des bedrängten Teufels seien. Schließlich brachen sie der
alten Frau den Hals und erklärten, nun habe der Dämon aufgehört,
zu stöhnen. Darnach leiteten die Wahnsinnigen die Zeremonie zur
Bewirkung der Wiederauferstehung ein, die natürlich erfolglos blieb.“
Wie das Blatt weiter mitteilt, sollen die fünf Exorzisten wegen Mordes
unter Anklage gestellt worden sein.
Unterstellen wir, der mitgeteilte Tatbestand sei richtig, vor allem
auch in subjektiver Hinsicht zutreffend wiedergegeben, so kann von
einer Verurteilung der Täter wegen vorsätzlicher Tötung natürlich
keine Rede sein, denn sie haben den Tod der Kranken nicht nur
nicht gewollt, sondern auch nicht einmal vorausgesehen. Selbst von
Eventualvorsatz — um diesen psychologisch nicht einwandfreien
Terminus zu verwenden — kann nicht gesprochen werden. Die
Täter sind ebensowenig wegen vorsätzlicher Tötung strafbar, wie
jener rumänische Soldat, der, wie Hans Groß in diesem Archiv 26,
78, mitteilt, nach Anweisung eines Zauberbuches seinem Kameraden
mit dessen Einwilligung den Kopf abschnitt in der festen Zuversicht,
der Kopf werde, sobald der Schatz gehoben sei, durch Zauberkraft
wieder anheilen.
Was mit Vorsatz, d. h. mit Absicht, mindestens mit Erfolgs¬
bewußtsein, vollführt worden wäre, könnte höchstens die Körper¬
verletzung sein; es würde alsdann Körperverletzung mit tödlichem
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Tötung aus Aberglauben.
345
Ausgang in Erwägung kommen. Allein auch nur dies zu bejahen,
besteht Bedenken. Die Täter haben alles andere gewollt, als der
Frau G. Schmerzen zuzufügen oder Gliedmaßen zu beschädigen: was
sie wollten und zu tun glaubten, war nichts als ein energischer An¬
griff gegen die Dämonen. Gegen diese allein richtete sich der Vor¬
satz; sie waren es denn auch, welche nach Meinung der Täter
jene .Scbmerzenslaute von sich gaben. Der G. gegenüber hatten die
Täter keine andere Absicht, als die der Heilung; sie vergriffen sich
nur in der Wahl der Mittel. Sie sind mithin wegen vorsätzlicher
Körperverletzung ebensowenig zu belangen, als etwa der Arzt oder
Kurpfuscher, der aus fehlsamer Ansicht, aber in guter Absicht, eine
objektiv schädliche therapeutische Maßnahme ergreift.
De lege lata käme sonach höchstens eine Bestrafung wegen
Fahrlässigkeit in Betracht. Allein auch diese muß im vorliegenden
Falle abgelehnt werden. Fahrlässigkeit ist zurechenbarer Mangel
an (Vorsicht oder) Voraussicht des Tunserfolges. Daß die Täter es
an dieser Voraussicht objektiv haben fehlen lassen, liegt auf der Hand.
Indessen ist in Abrede zu stellen, daß diese Unterlassung ihnen
könnte zur Schuld zugerechnet werden. Denn was ihren Vorstellungs¬
komplex erfüllte, ihre Kausalitätsschlüsse irreleitete, war Aberglaube.
Aberglaube aber ist im Zweifel nicht zurechenbar. Ihn
ohne weiteres zur Schuld anrechnen, hieße entweder jeden religiösen
Glauben in casu als Verschulden ansehen — was Aberwitz wäre —
oder zwischen normalem Glauben und Aberglauben eine Grenze
ziehen — was die Kompetenzen des irdischen Richters überschritte.
Nach alledem halte ich eine Bestrafung im vorliegenden Falle
für ausgeschlossen. Nur Sicherungsmaßregeln präventiver Art sind
am Platze. Welche konkrete Maßnahme durchführbar sein
wird, ist freilich eine andere Frage. Es wird schwerlich angehen,
die Täter mitsammen auf Lebenszeit ins Irrenhaus zu versetzen.
Denn es ist nichts dafür beigebracht, daß sie nicht — von dem spezi¬
ellen „Wahnsystem“ abgesehen — psychisch vollkommen normal sind.
Den Erlaß einer (für die Zukunft berechneten) speziellen Straf¬
drohung halte ich zwar für zulässig, aber nicht für wirkungssicher.
Dem Vernünftigen gegenüber ist sie überflüssig; dem Abergläubischen
aber gießt sie Öl ins Feuer. Die einzige auf die Dauer wirksame
Waffe ist verständnisvolle Aufklärung. Die Justiz wird diese Auf¬
gabe anderen Faktoren zu überlassen haben. Aberglaube und ein¬
gewurzelter Unverstand sind Dinge, vor denen eine das Verschulden -
des Täters zum Ausgangspunkt nehmende Strafjustiz stets die Waffen
strecken wird.
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Aus den Erinnerungen eines Polizeibeamten.
III. Spezialisten in der Verbrecherwelt.
Von
Hofrat Josef Hölzl.
Vor Jahren ließ ein preußischer Strafanstaltsdirektor unter dem
Titel „Naturgeschichte der Diebe“ ein Buch erscheinen, welches bei
mir nicht nur das lebhafteste Interesse erweckte, sondern auch auf
meine amtliche Tätigkeit Einfluß übend wirkte.
Der Verfasser besagten Buches führte darin auf Grund der von
ihm gemachten Wahrnehmungen aus, daß sich fast bei jedem Gewohn-
heits- oder Professionsdiebe eine eigene Art der Tatverübuog kon¬
statieren läßt, von welcher derselbe gewöhnlich nicht abzugehen pflegt,
was auch ich in der Praxis oft genug bestätigt fand: Um zu stehlen
schleicht der eine sich ein, der andere sperrt auf, ein dritter bricht
ein. Der eine richtet sein Augenmerk auf Wohnräume, während sich
andere wieder auf Geschäftslokale, Keller, Dachböden etc. beschränken.
Der eine geht nur auf Geld und Pretiosen, ein anderer auf Ijebens-
mittel und wieder ein anderer auf Kleidung und Wäsche. Eine nicht
seltene Art von Spezialisten sind die Kirchen-, Kassen-, Geilügel-,
Pferde- und Fahrraddiebe und bemerkenswert ist auch die Erschei¬
nung, daß sich manche Diebe stets nur mit ganz minderwertigen
Dingen begnügen, wie beispielsweise mit Türklinken, Wohnungs¬
täfelchen, Strohmatten und dgl. Werden hiernach die bekanntgewor¬
denen Diebe nach ihren Eigentümlichkeiten in Evidenz gestellt, so
wird man mit Hilfe derselben oft unschwer den Täter auch in jenen
Fällen zu eruieren vermögen, in welchen Anzeigen gegen bestimmte
Personen vollständig mangeln.
Wie bei den Dieben gibt es aber auch unter den Gaunern
Spezialisten, und zwar bei diesen fast noch mehr als bei jenen. Das
Charakteristische liegt in der Hegel auch hier darin, daß der Gauner
bv Google
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Spezialisten in der Verbrecherwelt.
347
sich bestimmte Personen oder Angehörige bestimmter Kreise auswählt,
die er dann in der ihm eigenen und gewöhnlich auch ganz gleichen
Art zu hintergehen, beziehungsweise zu schädigen sucht.
Ein in dieser Beziehung besondes zutreffendes Beispiel ist das folgende:
Ein eleganter, junger Mann, welcher sich längere Zeit in Österreich
unter verschiedenen adeligen Namen herumtrieb und für den Besitzer
eines großen im Auslande gelegenen Vermögens ausgab, hatte an
mehreren Orten, immer aber nur bei hochgestellten Geistlichen, bedeu¬
tende Summen als Reisegeld herausgelockt. Er benutzte hiezu als
Vorwand jedesmal eine Entführungsgeschichte, derenwegen er angeb¬
lich das Vaterhaus habe verlassen müssen, in welches er nun reumütig
wieder zurückkehren wolle. Einen gleichen Schwindel versuchte der
Mann auch in Graz, aber ohne den erhofften Erfolg, weshalb er sich
gezwungen sah, Schulden zu machen und baldigst von dort zu ver¬
schwinden. Mittlerweile waren seine vorausgegangenen, anderwärts
verübten Schwindeleien auch in Graz zur behördlichen Kenntnis
gelangt und wurde sohin auch dort die Verfolgung des Schwindlers
aufgenommen, jedoch trotz vieler Bemühungen geraume Zeit ergebnis¬
los, bis er selbst wieder ganz unerwartet dahin zurückkam, wodurch
seine Festnahme ermöglicht wurde. Er war, wie es sich im Laufe
der Untersuchung herausstellte, lediglich nur deshalb wiedergekommen,
um die früher gemachten Schulden zu bezahlen, wozu er sich die
erforderlichen Mittel und noch mehr inzwischen in einer anderen
Stadt, und zwar wieder von einem höheren geistlichen Würdenträger,
in der ihm eigenen Weise zu verschaffen gewußt hatte. Der in Rede
stehende Gauner erscheint hiernach nicht nur hinsichtlich der Art der
Tatverübung, sowie der ausgewählten Opfer, sondern insbesondere
auch mit Rücksicht auf die Verwendung seiner Beute als ein seltener
Spezialist; denn ein Gauner, welcher zuerst an einem Ort Schulden
macht und dann von dort verschwindet, später aber, selbst auf die
Gefahr seiner Entdecknng, nur deshalb wiederkehrt, um mit ander¬
wärts erschwindeltem Gelde diese Schulden zu bezahlen, ist wohl
ganz einzig in seiner Art.
Die Identität dieses Gauners, welcher zur siebenjährigen, schweren
Kerkerstrafe verurteilt wurde, konnte trotz vieler Nachforschungen nir¬
gends festgestellt werden und es verblieb nur die Vermutung, daß
man es mit einem gewesenen Herrschaftsdiener aus dem Deutschen
Reich zu tuen gehabt hat.
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XXI.
Ein Beitrag zur Beurteilung über die psychischen Vorgänge
beim Kindesmorde.
Von
Dr. Jos. R. v. Josch, kais. Rat und Landesgerichtsarzt in Klagenfurt.
(Mit 1 Abbildung.)
Sowohl der Herausgeber dieses Archivs') als auch Prof. Graf
Gleispach 2 ) betonten die gerechte Forderung, das psychologische
Prinzip bei einer zukünftigen Strafgesetzgebung mehr als bisher zu
berücksichtigen. Insbesondere sind es die Fälle des Kindesmordes,
in welchen eine genaue Prüfung des seelischen Verhaltens der Ge¬
bärenden oder Wöchnerin von besonderer Wichtigkeit ist und eine
vorgefaßte Meinung umzustürzen vermag. Eine möglichste Bereicherung
der Casuistik dürfte daher in diesem etwas dunklen Gebiete vom
Nutzen sein.
Daß die psychischen Vorgänge während und gleich nach dei;
Geburt alieniert zu sein pflegen, ist wohl allbekannt, und hat auch
die Gesetzgebung diesem Momente Rechnung getragen. Die Störung
kann jedoch auch eine so hohe Stufe erreichen, daß die Verantwortungs¬
fähigkeit aufgehoben ist. Besonders häufig dürfte dies in jenen
Fällen stattfinden, in welchen die einsam und hilflos Gebärende in
Folge der Blutverluste und der ausgestandenen Geburtsschmerzen in
einem ohnmachtähnlichen Zustande sich befindet und das Neugeborene
nicht derart zu versorgen imstande ist, daß die regelmäßige Atmung
desselben weitergeführt werden kann. Seltener sind aber jene Fälle,
in welchen die Gebärende in eine akute Psj^chose verfällt und aggressiv
gegen ihr Kind vorgeht.
Im folgenden sei es mir erlaubt, unter einer Reihe von zahl¬
reichen Beobachtungen zwei im Vereine mit Herrn Stadtphysiker
Dr. Max Schmid begutachtete Fälle hiermit zu veröffentlichen.
1) „Kriniinalpsvcliologie und Strafpolitik,“ abgedruckt in diesem Archiv
2*>. Band (»7—so.
21 -Über Kindesmord" dieses Archiv 27. Band S. 224 ff.
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Ein Beitrag zur Beurteilung über die psychischen Vorgänge beim Kindesmorde. 349
I. Fall.
Am 11. Januar 19.. früh wurde in einem Gebirgsbache eine
neugeborene Kindesleiche gefunden. Die von den Gerichtsärzten am
folgenden Tage vorgenommene Obduktion ergab: weibliche Kindes¬
leiche, 46 cm lang. Am Nabelring hängt die abgerissene Nabelschnur
in der Länge von 46 cm. An dem dem Nabel zugekehrten Teile,
handbreit vom Nabel, findet sich am Nabelstrang eine Quetschung
mit oberflächlichem Substanzverlust. Die Messung des Schädels
ergab: gerader Durchmessen 11 cm, großer Querdurchmesser 8,7 cm,
kleiner Querdurchmesser 7,5 cm, großer schräger Durchmesser 13 cm,
Kopfumfang 32 cm. Die Lungen-Wasserprobe, sowie die Breslausche
Magen-Darmprobe ergaben positives Resultat. Herzbeutel von den
Lungen nicht bedeckt Rechte Lunge überall, linke nur oben luft¬
haltig. Die Farbe derselben war unten tief dunkelrot, die anderen
Partien lichtrosa.
Als Mutter dieses Kindes wurde E. W., eine 21jährige Dienst¬
magd bezeichnet, welche auch ihrer Tat sogleich geständig war. Ihr
Liebesverhältnis datierte seit 22. Mai des früheren Jahres- Schon
im Juni blieben die Menses aus. Sie erwartete erst im März ihre
Geburt. Am 8. Januar fand eine Tanzunterhaltung statt, an welcher
sieb E. W. lebhaft beteiligte. Am 9. Januar abends begannen starke
Wehen, welche bei ihr das Gefühl von Unruhe hervorriefen, so daß
sie sich entschloß zu Haus zu ihren Großeltern zu gehen. Daß die
Geburt schon so nahe bevorstehe, hielt sie für ausgeschlossen. Auf
dem Wege dahin, etwa um 7—8 Uhr abends, verspürte sie den Drang
sich niederzuhocken und zu urinieren. Da sprang die Fruchtblase und
gleich darauf fiel die Frucht heraus, welche mit der Nabelschnur noch
befestigt war. Sie trat nun auf die Nabelschnur, so daß diese zerriß, gab
dem Kinde mit dem Fuße einen „Schupfer“, so daß es in den Bach fiel.
Dann ging sie zurück, begegnete einer Bekannten, welche sie bat die
Wirtschafterin zu holen, und als diese entgegen kam, sagte sie ihr, sie
habe eine Blutung gehabt. Sie wurde nun zu Bett gebracht, und eine alte
Hebamme geholt, welche sie untersuchte, aber keine Nabelschnur in der
Scheide entdecken konnte, Ruhe empfahl und wieder wegging. Erst
gegen Morgen des 10. Januar ging die Nachgeburt spontan ab. E. W.
hüllte sie in einen Unterrock und versperrte sie in einer Truhe. Am
Nachmittag desselben Tages fuhr sie mit ihrem Geliebten zur Gro߬
mutter und sagte niemandem, daß sie geboren habe. Ihre Verant¬
wortung lautete dabin: „Ich weiß nur, daß ich mich in dieser Situation
(Geburt) sehr unwohl und sinnlos aufgeregt fühlte, und das unwillkür¬
liche Bestreben hatte, mich von dem Kinde, mit dem ich noch mit
Archiv für Kriminal Anthropologie. 29. Bd. 23
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350
XXI. Joscii
der Nabelschnur verbunden war, zu befreien. Mir ist nie der Gedanke
gekommen, das Kind bei der Geburt zu töten, unter den gegebenen
Verhältnissen wurde ich aber ganz unerwartet und vor der Zeit von
der Geburt, ohne jeglichen Beistand überrascht, fühlte mich dabei
ganz hilfslos, und war in meiner Lage derart verwirrt, daß ich mir
gar keine Rechenschaft über mein damaliges Betragen und meine
Handlungsweise ablegen kann. Ich dachte in dem Momente, als ich
die Nabelschnur zerriß und das Kind in das Wasser stieß, auch gar
nicht daran, daß dies den Tod des Kindes zur Folge haben müßte.
Dann im Zimmer war ich mir freilich schon bewußt, daß ich etwas
Unrechtes getan hatte und suchte dann die Geburt zu verheimlichen.“
Über Befragen von Seiten der k. . . k... Staatsanwaltschaft, ob
ihre Angaben hinsichtlich der Vorfälle bei der Geburt und des von
ihr beobachteten Verhaltens Glauben verdienen, gab ich mit Herrn
Stadtphysiker Dr. Max Schmid folgendes Gutachten ab.
A. In Betreff des Geburtsverlaufes.
Es ist vor allem richtig, daß E. W. noch nicht am Ende der
Schwangerschaft sich befand. Der erste Beischlaf fand nach Angabe
des Kindesvaters am 22. Mai statt, und im Juni blieb bereits die
Menstruation aus. Wenn demnach schon mit dem ersten Beischlaf
Empfängnis eintrat, so war die Geburt erst Ende Februar oder Anfang
März zu erwarten. Hiermit übereinstimmend sind auch die Verhält¬
nisse beim Neugeborenen, welche eine Entwicklung zeigen, die etwa
der 35.—36. Woche entsprechen. — Dies zugegeben, erklärt sich auch
der rasche Geburtsverlauf, und dies um so mehr, als aus der gerichts¬
ärztlichen Untersuchung auf ein geräumiges Becken geschlossen
werden muß. — Die Ursache der stattgehabten Frühgeburt ist mög¬
licherweise in der raschen Bewegung des Tanzens am 8. Januar
gelegen gewesen, da E. W. sich schon tagsüber am nächstfolgenden
Tage nicht wohl befand, und wahrscheinlich bereits am ganzen Tage
die vorbereitenden Wehen sich einstellten. Zwischen 7—8 Uhr
abends hatten dieselben gewiß bereits eine solche Höhe erreicht, daß,
wäre um diese Zeit eine fachkundige Hebamme an der Stelle gewesen,
diese bereits einen vielleicht schon verstrichenen Muttermund getroffen,
und eine ruhige Bettlage angeordnet hätte. Als Erstgebärende konnte
E. W. nicht wissen, daß die Geburt schon so nabe bevorstehe, und
dies um so mehr, als ihre Zeit noch nicht gekommen war. Sie ging
nun, in der Absicht sich zur Großmutter zu begeben, längs des Baches
auf dem Fußweg dahin. Unter den ersten stärkeren Wehen stellte sich
nun das stets eintretende Bedürfnis ein, zu urinieren. Diesem Drange
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Ein Beitrag zur Beurteilung über die psychischen Vorgänge beim Kindesmorde. 351
folgend, hockte sie sich an dem vereisten Wege nieder, und es erfolgte
nun der Blasensprung und Abfluß des Fruchtwassers, dem in kürze¬
ster Zeit die kleine Frucht folgte. Als Beweis für den schnellen
Geburtsverlauf dient nicht nur die konstatierte Zeitangabe ihrer Ent¬
fernung vom Hause und ihre erfolgte Wiederkehr, sondern auch der
Mangel einer größeren Geburtsgeschwulst am kindlichen Schädel. Es
handelt sich somit um eine sogenannte Sturzgeburt, die vielleicht
innerhalb weniger Minuten mit der Ausscheidung der Frucht beendet
war. Ohne irgend welche Hilfe war es nun bei der herrschenden
Kälte und der Dunkelheit der Nacht sehr natürlich, daß die Kreißende
sich selbst zu helfen suchte, indem sie den Nabelstrang, der sie mit
der am Boden liegenden Frucht verband, zu trennen suchte. Auch
die Angabe, daß dies durch einen Fußtritt auf die Nabelschnur
geschah, während sie gleichzeitig aus der hockenden in die stehende
Lage zu kommen trachtete, verdient volle Glaubwürdigkeit und wird
auch durch den Obduktionsbefund der Kindesleiche bestätigt Es
fand sich nämlich der zerrissene Nabelstrang fast in seiner ganzen
Länge 46 cm (normale Länge 50 cm), dem Nabel adhärent, und
konnte handbreit vom Nabel eine Quetschung mit oberflächlichem
Substanzverlust, welcher vom Fußtritt herrührte, nachgewiesen werden.
Und nun schleuderte sie mittelst einer Fußbewegung das neugeborene
Kind in den unmittelbar neben dem Fußwege vorbeifließenden Bach.
Der Abgang der Nachgeburt war verzögert und erfolgte erst in den
Morgenstunden des nächsten Tages.
B. Die Verantwortung in psychischer Beziehung.
Unter den leider so häufigen Fällen von Kindesmord 1 ) vermissen
wir nahezu nie das veranlassende Motiv, das in der Mehrzahl der Fälle,
Furcht vor Schande, Verlassenheit vom Geliebten, und insbesondere
häufig drängende Armut die Ursache abgibt Vergeblich suchen wir
im vorliegenden Falle um einen Beweggrund, welcher E. W. veran¬
lassen konnte, ihr eben geborenes Kind dem sicheren Tode zu über¬
liefern. Man war mit ihren Dienstleistungen nicht nur zufrieden,
sondern behielt sie noch gerne über den Jahreswechsel. Auch konnte
sie nach ihrer Entbindung wieder auf ihren Dienstplatz zurückkehren.
Bei ihrer Großmutter wußte sie zärtliche Obsorge zu finden. Der
Zustand ihrer Schwangerschaft wurde nicht verheimlicht; es wußte
davon ihre nächste Umgebung, es wußten dies insbesondere die nächst-
1) Kärnten zeigt übrigens unter Österreichs Provinzen nach der statistischen
Zusammenstellung von Prof. G. Gleispach bei der größten Zahl unehelicher Ge¬
burten die geringste Ziffer an Kindesmorden. 1. c.
2ö*
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XXL Joscn
beteiligten Personen. Auch die Pflege für das zu erwartende Kind
brauchte ihr keine angstvollen Stunden zu bereiten. Endlich hatte
sie selbst für die Herbeischaffung der nötigen Wäsche für das Kind
Vorbereitungen getroffen. Ihr Gemütszustand vor der Geburt war
ebenfalls gewiß kein deprimierter, sonst hätte sie ja doch nicht tags-
vorher sich dem Tanzvergnügen hingegeben. Zu dieser gewiß in
jeder Beziehung auffallenden Tat muß daher die Lösung der Frage
in anderen Momenten gesucht werden.
Wie bereits zuvor erwähnt, handelte es sich um eine äußerst
rasch verlaufene Geburt, eine sogenannte Sturzgeburt, bei welcher
erfahrungsgemäß infolge der so plötzlich geänderten Blutdruckver¬
hältnisse Störungen in den Gehirnfunktionen eintreten können. Aus
eigener Erfahrung sind uns Fälle bekannt, in welchen collapsartige
Zustände oder tiefe Ohnmacht unmittelbar nach Ausscheidung der
Frucht trotz aller Hilfeleistung sich einstellten, und aus der Literatur
erfahren wir, daß verehelichte Frauen und Mehrgebärende eine
Sturzgeburt auf dem Leibstuhle sitzend, durchmachten, und noch eine
Weile sich nicht erhoben, da sie sich der Vorgänge nicht klar geworden
waren.
Denken wir uns nun in die Lage der in dunkler Wintersnacht
einsam und hilfslos auf dem Eise hockenden Gebärenden, die eben
unter plötzlich eingetretenen Drangwehen ihr Kind zur Welt brachte,
so erscheint es uns vollkommen glaubwürdig, daß sie zunächst ihre
Situation nicht überschauen konnte, um so mehr, als sie Erstgebärende
war und daher aus eigener Erfahrung und Beobachtung die neuge¬
schaffene Lage nicht kannte. Etwas mußte jedoch bei nur teilweise
wieder gekehrtem Bewußtsein ihre Aufmerksamkeit erregen, und dies
war der Umstand ihrer Hilflosigkeit, unter welcher sie, an einen
fremden Körper angehaftet, sich zu erheben nicht in der Lage war.
Von dieser abhängigen Lage sich zu befreien, war nun ihre erste
instinktive Handlung, welche sie in ganz primitiver Weise durchführte.
— Hätte sie nun jetzt das Neugeborene in ihre Arme genommen
und eiligst den Heimweg angetreten, so würde sie mit dem Strafge¬
setze nicht in Konflikt geraten sein. So aber verrät gerade ihre
Handlung das noch nicht vollständig wiedergekehrte Bewußtsein. Sie
erkannte nicht in dem vor ihr liegenden Klumpen ihr eigenes Kind,
und gleichwie sie sich des unangenehmen Hindernisses der Anhaftung
durch einen Fußtritt zu erwehren suchte, so entfernte sie mit einer Art
Reflexbewegung den vor ihr ruhenden Klumpen in sogleicher Zeit¬
folge durch einen „Schupfer“ in den Bach.
Bei dieser Gelegenheit müssen wir hervorheben, daß die Atmung
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Ein Beitrag zur Beurteilung über die psychischen Vorgänge beim Kindesmorde. 353
des Kindes, wie aus dem sorgfältig gearbeiteten Obduktionsbefunde
hervorgeht, nur eine ganz oberflächliche gewesen ist, da die Lungen¬
ränder nur bis zum Herzbeutel beranragten, und die linke Lunge
nur oben lufthaltig, in ihrem Unterlappen aber atelektatisch gefunden
wurde. Unter diesen Umständen ist es ganz leicht möglich, daß das
Kind keinen Laut von sich gegeben habe und dadurch nicht die
Aufmerksamkeit auf sieb lenkte.
Es handelt sich somit, wie wir mit vollster Überzeugung und
gestützt auf die psychologisch ganz richtige Verantwortung der An¬
geschuldigten behaupten müssen, um eine Tat, die im Momente voll¬
kommen ausgeschlossener Überlegung, in einer durch die Sturzgeburt
hervorgerufenen Sinnesverwirrung begangen wurde. — Diese Behaup¬
tung stützt sich auch auf ihre Verantwortung in den späteren Momen¬
ten. — E. W. war sich, als sie dann in ihr Zimmer kam, bewußt,
daß sie etwas Unrechtes begangen, und suchte sodann die Geburt zu
verheimlichen. Von diesem Zeitpunkte an, als ihr dies Bewußtsein
klar wurde, trifft sie auch die Verantwortung der Verheimlichung der
Geburt.
Auf Grund dieses Gutachtens wurde die Verfolgung in linea
criminali eingestellt, und nur wegen Übertretung nach § 339 St. G.
(Geburtsverheimlichung) der Akt dem Bezirksgerichte übergeben.
II. Fall.
I. Ergebnis aus den Akten.
Am 10. September abends nach 8 Uhr gebar E. M., eine *20jährige
Köchin, in ihrer Dachkammer, nachdem sie noch kurz vorher in der
Küche mit Kochen beschäftigt war, ein lebendes, ausgetragenes Mädchen,
und versetzte demselben mit ihrem Taschenmesser einen 6 cm. langen,
querlaufenden Schnitt am Halse unter dem Kehlkopf, so daß sämt¬
liche Weichteile und die großen Halsgefäße bis zur Wirbelsäule durch¬
trennt wurden. Hierauf wickelte sie das Kind in eine Schürze, ver¬
barg es unter der Matratze ihres Bettes, und ging sodann wieder in
die Küche hinab. Als sie nun wieder mit Kochen beschäftigt war,
kam es zu einer stärkeren Blutung, bei welcher vielleicht auch die
Nachgeburt, die nicht gefunden werden konnte, abging. Die Kellnerin,
welche das Blut am Boden bemerkte, drang in sie, sich zu Bett zu
begeben, was E. M. auch befolgte. Inzwischen wurde die Hebamme
gerufen, die etwa um 10 Uhr bei der Wöchnerin erschien. Diese
sah in der Mitte des Zimmers auf dem Boden vor dem Sessel, auf
welchem eine Waschschüssel stand, einen Blutfleck, der den Anschein
hatte, als ob ein Blutklumpen aufgewischt worden wäre. Die Wasch-
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XXI. Josch
schüssel war unten und an der Seite mit Blut befleckt. — Bevor die
Hebamme zum Bett der Wöchnerin kam, rief ihr diese entgegen:
„Was wollen Sie, es ist schon wieder gut“. Jene zog die Decke
zurück und sab, daß das Hemd der E. M. vollständig mit Blut durch -
tränkt und zwischen den Hüften mit 3 Sicherheitsnadeln zusammen¬
geheftet war. Nach vorgenommener innerlicher Untersuchung ver¬
neinte die Wöchnerin, daß sie schon geboren habe, und sagte, daß
ihr nur ein Blutklumpen in der Größe einer Handfläche abgegangen
sei. Nachdem die Hebamme vergeblich im ganzen Zimmer und auf dem
Aborte nach der Frucht gesucht hatte, wandte sie sich mit der Frage
an die Wöchnerin, ob das Kind geschrieen habe, und erhielt zur
Antwort: „Na sege hats nit“. — Nach längerem Schweigen sagte
E. M., daß das Kind unter dem Bette sei. Die Hebamme hob die
Matratze auf, fand aber nichts, und wusch sich die Hände. Während
dessen stand E. M. auf und zog unter der Matratze das Kind, in
einen Felzen gehüllt, hervor. Als die Hebamme nun das Kind be¬
sichtigte und die Schnittwunde am Halse bemerkte, frag sie die
Wöchnerin, ob sie beim Herauszieben des Kindes dieses am Halse
aufgerissen habe, was bejaht wurde. Später jedoch bemerkte die
Hebamme auf dem Nachtkasten liegend ein offenes, blutiges Taschen¬
messer und fragte sie, ob sie mit dem Messer dem Kinde den Hals abge¬
schnitten habe. Nun gestand E. M. ihre Tat ein mit dem Bemerken:
„Ich weiß nicht, wie ich dies tun konnte, ich glaube der Teufel hat
mir das Messer in die Hand gegeben“. Sie zeigte sich nun ganz
verzweifelt, während sie früher ruhig, beide Hände unter dem Kopfe
haltend, im Bette lag.
Bei ihren Vernehmungen erklärt sie, Erstgebärende gewesen zu
sein, sie habe nicht geglaubt sich in anderen Umständen zu befinden,
und beschreibt dann die Vorgänge, wie sich die Wehen einstellten,
weiß, daß sie in ihre Dachkammer kam und sei dann bewußtlos
geworden. Bei ihrem Erwachen saß sie angeblich mitten in der
Kammer auf dem Boden und sah zu ihrem Entsetzen neben sich
ein Kind in einer Blutlache liegend. Das Kind batte am Halse eine
Schnittwunde. Neben dem Kinde lag das offene Messer. In ihrem
Schrecken erfaßte sie das Kind, wickelte es in eine Schürze und
versteckte es unter ihrer Matratze. Gleich darauf fühlte sie sich
wieder gesund und ging in die Küche, um weiter zu kochen.
Dem Vater des Kindes sagte sie im Januar oder Februar, daß
sie sich schwanger fühle, weiß aber nicht, was dieser darauf erwiderte.
Zwei Tage vor der Geburt sah sie diesen, der sich inzwischen ver¬
ehelicht hatte, und wurde durch das Wiedersehen sehr erregt, sprach
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Ein Beitrag zur Beurteilung über die psychischen Vorgänge beim Kindesmorde. 355
ihn aber nicht an. Die Mutter machte ihr wenige Tage vor der
Geburt heftige Vorwürfe über den Fehltritt und verbot ihr das Haus,
während ihre Schwester Marie, die sie am Tage vor der Geburt be¬
suchte, ihr ein Zimmer zu verschaffen, zusagte. — Vorbereitungen
für das Kind hatte sie nicht getroffen.
II. Ergebnis der persönlichen Untersuchung.
A. Psychisch.
Exploratin macht den Eindruck einer gutmütigen, aber geistig
beschränkten, jungen Frauensperson, die wortkarg ist und mit
düsterer Miene versehen, sich bescheiden benimmt und keine Erregung
zeigt, außer bei Erwähnung ihres jetzigen Verhältnisses zu ihren
Eltern, bei welcher Gelegenheit sie in Tränen ausbricht. Wir erfahren
von ihrem Lebenslaufe, daß sie niemals schwere Krankheiten durch¬
gemacht habe, doch könne sie nicht angeben, ob sie an Kinder¬
krankheiten gelitten. Stärkere Schwindel- und Krampfanfälle, sowie
Zustände von Bewußtlosigkeit werden nicht zugegeben, wohl aber
kurzdauender Schwindel, wenn sie sich vornüber neige. — Sie be¬
suchte bis zum 14. Lebensjahre die Schule, gibt aber selbst zu, daß
die Lernerfolge mäßige waren. Wir überzeugen uns nach kurzer
Probe, daß sie fließend lesen und schreiben könne, während einfache
Beispiele im Kopfrechnen nicht gelöst .werden. Ihre Erziehung sei
eine strenge gewesen, sie sei katholischer Religion, habe die Kirche
besucht und die Sakramente empfangen. Nach Vollendung des Volks¬
schulunterrichts sei sie im Elternhause geblieben und habe sieb daselbst
betätigt in der Wirtschaft, beim Kochen und den Feldarbeiten. —
Das Auftreten der ersten Menstruation wird auf das 13. Lebensjahr
verlegt und angegeben, daß die Menses regelmäßig und ohne Be¬
schwerden eintraten, doch habe sie zu dieser Zeit meist Erregungs¬
zustände gehabt, und sei leicht schwindelig gewesen.
Sie befand sich noch im Elternhause, als sie das Liebesverhältnis
begann, welches von Folgen begleitet war. Schon zuvor hatte sie
einmal mit einem anderen Manne geschlechtlich verkehrt. Sie sagt,
ihr Geliebter habe sich unter ihrem Bette versteckt gehalten, und sich
dann zu ihr gelegt, obwohl in dem gleichen Zimmer noch ein Knabe
zu Bett lag. Der Beischlaf soll im ganzen vier oder fünfmal statt¬
gefunden haben. Ihr Geliebter habe ihr die Ehe versprochen und
in zwei Briefen, die sie leider verbrannt habe, dies kundgegeben. Hin¬
gegen weiß sie sich nicht zu erinnern, welche Antwort ihr der Geliebte
gab, als sie ihm mitteilte, sie glaube schwanger zu sein. An den
wirklichen Bestand der Schwangerschaft glaubte sie übrigens aus
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XXI. Joscii
dem Grunde nicht, weil die Menses fortwährend, wenn auch weit
schwächer, sich zeigten. — Die ersten Wehen traten auf, als sie am
10. September abends in der Küche beschäftigt war. Sie erinnert
sich noch, mit einer Kerze in der Hand, über die zwei Stockwerke
in ihre Kammer gegangen zu sein, doch waren die Schmerzen un¬
säglicher Natur, und sie wisse nicht, was weiter geschehen. Es
kommt ihr vor, als wäre alles ein böses Traumgebilde, sie könne
sich an nichts ordentlich erinnern. Auch daß sie beim Untersuchungs¬
richter aussagte, sie sei, als sie wieder zu Bewußtsein kam, mitten
im Zimmer gesessen, wird nach ihrer Meinung schon richtig sein,
sie könne sich aber daran nicht erinnern. Sie will den Gerichts¬
ärzten gegenüber auch nicht zugeben, daß sie sich erinnere, was
weiter mit dem Kinde geschah, daß sie die Nabelschnur abriß, und
das Kind unter der Matratze versteckte. Ob das Kind gelebt habe,
in welcher Stellung sie es geboren, die Zufügung des Halsschnittes,
all dies kann sie nicht angeben, da sie davon nichts wisse. „Die
Zeugen werden dies wissen“ sagt sie ohne jede Erregung „es wird
schon so sein, aber ich weiß nichts davon“. — Daß sie dann später
wieder in der Küche sich befand und kochte, ist in ihrer Erinnerung
geblieben, doch glaubt sie fest „Palatschinken“ verfertigt zu haben
obgleich der Wirt davon nichts weiß. — Auf die Frage über den
Nachgeburtsverlauf gibt sie an, gleich nachdem sie das Zimmer auf¬
suchen wollte, sei die Blutung so heftig gewesen, daß sie daher zu¬
vor den Abort aufsuchte, und dort habe sie sitzend den Abgang der
Nachgeburt gespürt.
Das Erscheinen der ihr bisher nicht bekannten Hebamme in ihrem
Zimmer ist ihr dämmerhaft in der Erinnerung, doch weiß sie nicht,
welche Antworten sie gegeben, und insbesondere nicht, daß sie die
tote Frucht selbst aus dem Bette gezogen habe. Sie sei auch garnicht
erregt gewesen und habe dann ruhig und tief geschlafen. *
Über eine etwaige hereditäre Belastung weiß sie nichts anzugeben.
B. Somatisch.
Die Untersuchte ist von starkem Knochenbau, gut entwickelter
Muskulatur, gutem Ernährungszustände und ziemlich frischer Gesichts¬
farbe. Sie hat eine Körpergröße von 165 cm., der Schädel zeigt keine
Anomalien, der horizontale Kopfumfang beträgt 54 cm., der Sagittal-
durchmeser 17,5 cm., der Bitemporale 11 cm., der Biparietale 14,5 cm.
Von Degenerationzeichen finden sich: fehlende Ohrläppchen,
beiderseits zusammengewachsene Augenbrauen, breite Nase, wulstige
Lippen, leichte Prognathie.
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Ein Beitrag zur Beurteilung über die psychischen Vorgänge beim Kiudesmorde. 357
Der Gesichtsausdruck ist ein nichtssagender. Die Nase ist plump
und breit, die Lippen sind wulstig. Gesichts- und Gehörsinn intakt
Pupillen gleichweit, reagieren gut Zähne wohlerhalten, regelmäßig
gebildet; es fehlt nur ein Mahlzahn im Unterkiefer. Zunge breit,
plump, nicht belegt, zittert nicht, zeigt keine Narbe und weicht beim
Vorstrecken nicht ab. Gaumen breit Gaumensegel beweglich. Zäpf¬
chen etwas nach rechts abweichend. Die Sprache ist ohne Artikulations¬
störung. Rechte Naso-labialfalte seichter. An den unteren Partien
der linken Wange alte Narben (Sturz von einem Wagen im Alter
von 10—11 Jahren). Bläbhals. Brustdrüsen gut entwickelt. Herz
und Lungen gesund. Puls 64, groß, rhythmisch. Bauchdecken durch
Gase aufgetrieben. Tiefgehender Mittelfleischriß, vernarbt. Der Gang
korrekt. Rombergs Versuch ergibt kein Schwanken. Patellarreflex
beiderseits sehr lebhaft. Appetit und Verdauung in Ordnung. Ex-
ploratin beschäftigt sich in der Zelle mit Nähen von Säcken. Schlaf
angeblich unruhig, da sie über ihre Zukunft besorgt ist.
III. Gutachten.
Bei oberflächlicher Betrachtung vorliegenden Falles dürfte wohl
wahrscheinlich jeder Gerichtsarzt Zweifel an der Wahrheitsliebe der
Beschuldigten, betreffs ihrer Bewußtseinsstörung während des Gebär¬
aktes empfinden, da in diesem Zeitraum zweckentsprechende Hand¬
lungen vollführt wurden. Insbesondere wird man zu diesem Zweifel
gedrängt, da sich die Beschuldigte durch Heftnadeln ihr Hemd nach
unten zu verschließen trachtete, um nicht durch den Blutabgang Ver¬
dacht zu erwecken, da sie ferner das tote Kind in ihrem Bette ver¬
barg, nach sehr kurzer Zeit, und vor Abgang der Nachgeburt wieder
in die Küche zurückkehrte, und insbesondere ihr Benehmen gegen¬
über der herbeigeholten Hebamme, welcher sie zu erkennen gab, daß
sie die grauenvolle Tat begangen und dieselbe ebenso wie den Geburts¬
vorgang zu verheimlichen gesucht habe.
Wir haben eingehend und wiederholt E. W. auf ihren Geistes¬
zustand untersucht, konnten aber, mit Ausnahme eines nicht bedeutenden
Grades von Schwachsinn, an ihr eine derzeit bestehende Geistesstörung
nicht wahrnehmen. Dagegen war es auffallend, daß Exploratin über
die ersten Stunden des Wochenbettes bis zum Eintritt des Schlafes
teils vollständige Amnesie, teils sehr verschwommene und nur sum¬
marische Erinnerung bekundete, und dies nicht nur bei ihren Ver¬
hören, sondern auch in gleicher Weise bei den Besprechungen uns
gegenüber, sowie beim Wiedersehen ihrer Angehörigen im Kranken¬
hause. — Es fehlt ihr auch, wie wir uns überzeugen konnten, jed-
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XXL Josch
wedes Schuldgefühl und ihre stereotype Antwort: „ich weiß davon
nichts, die Zeugen werden schon recht haben, aber ich weiß es
nicht“ — „Wenn ich es getan habe, so trifft mich keine Schuld,
denn ich weiß nichts davon“ —, war jedenfalls verblüffend. In
schlichter und durchaus nicht geheuchelter Form, ferne jedes Schuld¬
bewußtseins werden diese Angaben wiederholt gemacht, während sie
sich des Schuldbewußtseins, ihre Eltern durch das unerlaubte Liebes¬
verhältnis gekränkt zu haben, klar ist, und sofort in Tränen aus¬
bricht, sobald ihrer Eltern Erwähnung geschieht.
Die vorhandenen und im früheren Abschnitte beschriebenen De¬
generationszeichen, sowie die Wahrnehmungen bei der Exploration,
veranlaßten uns um weitere Erhebungen zu ersuchen und diese führten
zu dem sehr wichtigen Resultate, daß E. M. hereditär geistig schwer
belastet ist und zwar von mütterlicher Seite. Ein Blick auf die ein¬
gezeichnete Stammtafel
T.
belehrt uns darüber. Insbesondere ist es die eigene Mutter, die an
einem schweren Leiden des Nervensystems krankt, mit psychischen
Aufregungszuständen und sich anschließenden Ohnmachtsanfällen.
Derlei schwere Leiden beeinträchtigen nicht nur die Fähigkeit einer
planvollen, guten Erziehung, was insbesondere gegenüber einer Tochter
von großer Bedeutung ist, sondern pflegen sich auch auf die Nach¬
kommenschaft fortzupflanzen. So hören wir denn auch, daß deren
Kinder Marie, verehelichte P., und Balthasar laut Ausspruch des be¬
handelnden Arztes abnorme psychische Zustände bieten. — Bei Beiden
äußern sich diese, wenngleich in schwächerer Form, ganz im Bilde
der Mutter. Beide sind leicht erregbar, aus geringfügiger Ursache
sofort desparat, mutlos und psychisch deprimiert
Aber auch bei unserer Exploratin fanden sich Veränderungen,
die nicht übersehen werden dürfen. Einerseits deuten die uns von
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Ein Beitrag zur Beurteilung über die psychischen Vorgänge beim Kindesmorde. 359
ihr selbst mitgeteilten Schwindelanfälle, sowie das von der Mutter
angegebene Bettnässen, vielleicht auf das Bestehen larvierter Epilepsie,
andererseits zeigte sie in ihrem Benehmen Auffälligkeiten, die selbst
von Fremden nicht unbeachtet blieben. So äußert sich ein Besucher
des elterlichen Gasthauses, daß sie auf ihn den Eindruck einer
störrischen, schwermütigen Frauensperson machte. Sie war sehr wort¬
karg und bemerkte er an ihr nie ein heiteres oder fröhliches Wesen.
Sie saß mit Näharbeiten im Gastzimmer, ließ sich aber mit den Gästen
sehr wenig ein, und bediente selten. Namentlich in den letzten
Monaten, als sie noch zu Hause war, nahm diese Schwermütigkeit
zu und machte sie den Eindruck „eines Menschen, bei dem etwas
nicht in Ordnung war“.
Auch ihr letzter Arbeitgeber sagt, daß ihm „ihr verschlossenes,
mürrisches Wesen nicht gefiel.
In jedem Fall muß sie, die geistig hereditär Belastete, als weniger
widerstandsfähig angesehen werden. Nun wirkten aber gerade in
den letzten Tagen vor der Geburt bedeutsame Aufregungszustände
auf sie ein. Einerseits war es die Mutter, die in ihrer krankhaften
Exaltiertheit sie vom Hause wies, anderseits war es das plötzliche
Wiedersehen ihres Geliebten, der sich inzwischen eine andere Lebens¬
gefährtin gesucht hatte.
Vor allem aber müssen wir hervorheben, daß die Geburt, und
es war eine Erstgeburt, in einer unglaublich kurzen Zeit vor sich
ging. Nach den Zeitangaben dauerten sämtliche drei Geburtsperioden
höchstens zwei Stunden, während sonst die Durchschnittsdauer bei
Erstgebärenden etwa 20 Stunden beträgt (Veit, Hecker, Ahlfeld). Ein
Zeichen der äußerst rasch verlaufenen Geburt ist auch der eingetretene
tiefe Dammriß. —
Nun wissen wir erfahrungsgemäß, daß bei Gebärenden gleich
nach der Ausstoßung des Kindes sich zuweilen Anfälle transito¬
rischer Manie finden. Sie haben ihre Erklärung durch die während
des Geburtsaktes allgemein gesteigerte Gefäßerregung und dadurch
bewirkte Hirnkongestion. Gleichzeitig ist aber auch infolge der ge¬
hemmten Inspiration und durch die hochgradige Spannung des ge¬
samten Muskelapparates die Zirkulation behindert. Solche Unfälle
setzen plötzlich ein. Mit einem Schlag ist das Selbstbewußtsein er¬
loschen, die Kranke in einem tiefen deliranten Zustand. Der Inhalt
des Deliriums, soweit er aus dem Gebahren, den Mienen und Reden
erschlossen werden kann, ist vorwiegend ein schreckhafter. Der
Niedergang des Paroxysmus und seine Ablösung durch tiefen Schlaf
ist ebenso jäh, als sein Ausbruch. Zuweilen kommt es zu Recrudes-
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XXI. Josch
cenzen, und dadurch kann sich die Dauer auf Tageslänge erstrecken
(v. Krafft-Ebing).
Derlei Zustände krankhafter Bewußtlosigkeit während und bald
nach der Geburt gefährden das Leben des Neugeborenen, indem die
Mutter, getrieben durch mächtige Affekte, wutzornige Erregung, De¬
lirien oder Halluzinationen ihrer Sinne nicht mächtig, zur Mörderin
wird. — Selbstverständlich ist bei überstürzter Geburt die im Gehirne
sich abspielende Kongestion und der Gefäßkrampf ein bedeutenderer,
als bei langsam und regelmäßig verlaufender Geburt.
Eine gute Illustration hiezu bietet der aus Albert’s Arbeit „Die
Wut der Gebärerinnen“ im Archiv für Psychiatrie Band IX S. 153
mitgeteilte Fall, in welchem eine 40jäbrige nervenschwache Erst¬
gebärende während jeder Wehe die tiefste Erschütterung erlitt, so
daß sie beim Durchschneiden des Kopfes wütend um sich schlug,
die Hebamme mit Gewalt von sich schleuderte, das Kind mit einem
Zuge an dem bereits geborenen Kopfe aus den Geburtswegen her¬
vorriß, und es an den Pfosten des Bettes mit solcher Gewalt hinwarf,
daß es augenblicklich tot blieb').
Dieser Fall, der sich in Gegenwart einer Hebamme abspielte,
mahnt uns zur Vorsicht in Beurteilung solcher Geburten, die einer
objektiven Beobachtung entgehen, und sind wir bei einsam Gebärenden
gezwungen, aus den veranlassenden Momenten, der Art der Tat, den
nachfolgenden Ereignissen und der Bewußtseinsstörung Schlüsse zu
ziehen.
In unserem Falle ersehen wir, daß bei der Anlage der E. M.,
bei den großen Aufregungszuständen, die einige Tage vor der Geburt
stattfanden und bei der praecipitiert verlaufenen Geburt genug Momente
vorhanden waren, um bei ihr eine transitorische Manie hervorzurufen.
Für eine solche spricht auch die Art der Tötung des Kindes.
Diese muß als eine sinnlose, gräßliche bezeichnet werden, da es doch
nicht notwendig war, an dem hilflosen Neugeborenen sämtliche Weich¬
teile des Halses bis zur Wirbelsäule zu durchschneiden. Auch er¬
scheint es auffällig, daß sie die Spuren des Verbrechens nicht besser
zu verwischen getrachtet hat. Wenngleich sie das neugeborene Kind
unter ihrer Matratze den Blicken zu verbergen suchte, ließ sie doch
das gebrauchte Werkzeug, ein Taschenmesser, offen, und mit Blut
besudelt, auf dem Nachtkasten liegen. —
Nun kommen wir zur Besprechung der Bewußtseinsstörung.
Würde uns nicht die wissenschaftlich beobachtete und durch manch
1) „Uber die Ueistesstörungen in der Schwangerschaft und im Wochenbette* 4
von Dr. Klix, Halle 1004.
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Ein Beitrag zur Beurteilung über die psychischen Vorgänge beim Kinde9inorde. 361
beschriebene Fälle in der Literatur bekannte Tatsache leiten, daß bei
derlei maniakalischen Anfällen das Bewußtsein aufgehoben zu sein
pflegt, so hätten wir kein Recht, den Worten der E. M. Glauben zu
schenken, daß sie von den Geburtsvorgängen und der unmittelbar
darauf folgenden Zeit keine Erinnerung besitze. Aus ihren Bekennt¬
nissen und den mehrfachen Zeugenaussagen müssen wir aber den
Schluß ziehen, daß wahrhaft eine tiefe Störung des Bewußtseins vor¬
handen war. Dasselbe war, wie aus ihrer Vernehmung hervorgeht,
anfänglich vollkommen aufgehoben, während später nur eine lücken¬
hafte, gänzlich verschwommene Aufhellung sich einstellte. Infolge
dieses Umstandes ist auch für die erste Zeit vollkommene Amnesie,
für später nur summarische Erinnerung vorhanden, und erst der tiefe
Schlaf, der sich nach den erschöpfenden Vorgängen einstellte, machte
dem krankhaften Prozesse ein Ende.
Als sie nach der Geburt des Kindes in die Küche kam, fiel das
veränderte Aussehen ihrem Dienstgeber sogleich auf und er äußerte
sich, „sie war fast schrecklich anzuschauen, da sie ein ganz blasses
Gesicht hatte, ihre Augen stark hervortraten, und die Blutflecken im
Gesiebte dasselbe noch schrecklicher machten.“ Sie scheint während
dieser Zeit wenig oder nichts gesprochen zu haben, daher ihre psy¬
chische Veränderung weniger auffiel, wohl aber scheint es bemerkens¬
wert, daß sie mit blutigen Fingern sich das Antlitz besudelte, und im
Wahne war, vom Dienstgeber den Auftrag erhalten zu haben, „Palat¬
schinken“ verfertigen zu müssen. — Auch später weiß Exploratin
sich an das Erscheinen der Hebamme in ihrer Kammer ganz
dunkel zu erinnern, während sie über Fragen und Antworten,
die mit der Hebamme gewechselt wurden, sich nicht zu erinnern
vermag.
Wir bemühten uns, durch Kreuz- und Querfragen die Wahrheits¬
liebe der Exploratin zu prüfen, konnten uns aber überzeugen, daß sie
sich durch nichts verraten, und stets in gleicher Negation über eine
etwa vorhandene Erinnerung geblieben. Dabei aber war — und
dies muß besonders hervorgehoben werden — nebst der Unbefangen¬
heit ihrer Antworten im Kreuzverhör der Mangel des Schuldbewußt¬
seins ein so aufrichtig und natürlich wiedergegebener, daß man an
der Wahrheit ihrer Angaben zu glauben gezwungen war. Dieser
Mangel an Schuldbewußtsein erklärt sich aber nicht etwa aus Ge¬
fühlsroheit, da ihre Liebe und Ehrfurcht gegenüber den Eltern keine
geheuchelte ist, und sie während ihres Spitalaufenthaltes nach der
Geburt — wie eine Zeugin mitteilte — jedes Kind, das ins Kranken¬
haus kam, umarmte und dabei weinte. Ebenso zeigte sie in früherer
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XXI. Josch.
Zeit, wie ein Gendameriebericht erwähnt, große Freude an den Kin¬
dern eines Bekannten, und trug diese zur Schau.
Wenn wir somit zum Schlüsse kommen, daß sich bei E. M. eine
akute, schnell verlaufende Psychose entwickelte, so sind wir ander¬
seits doch nicht in der Lage, die Differentialdiagnose, ob genuine
Mania transitoria, oder Raptus melancbolicus, oder eklamptische Psy¬
chose, stellen zu können, da bei ihr in den entscheidenden Momenten
niemand anwesend war. Eine solche Differenzierung hätte übrigens
nur wissenschaftliche Bedeutung, während sie für die Grundlage
unseres Gutachtens insofern gleichgültig ist, als bei all diesen Zu¬
ständen das Bewußtsein aufgehoben zu sein pflegt und daher eine
Verantwortungsfähigkeit im Sinne des Strafgesetzes § 2 b nicht ange¬
nommen werden kann.-
E. M. wurde enthaftet und außer Verfolgung gesetzt.
bv Google
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XXII.
Beiträge zu den sexuellen Träumen.
Von
Medizinalrat Dr. P. Näoke in Hubertusburg.
Am 14. Oktober 1907 schickte mir zunächst ein Herr aus X.
folgenden Brief, dessen charakteristische Stellen ich hier wörtlich
wiedergebe, weil sich daran interessante Betrachtungen anknüpfen
lassen. „. .. Zunächst möchte ich bemerken, daß ich im großen ganzen
sehr selten laszive Träume habe und hatte, nur Wachträume (Phantasien)
waren in der Zeit vom 12.—19. Jahre sehr häufig, sie traten meist
beim eiligen Gehen auf der Straße ein und trugen eigentlich mehr
künstlerisch ästhetischen Charakter als sexuellen, wenngleich wohl
das sexuelle Element die Ursache ihres Entstehens bildete. In diesen
Phantasien stellte ich entweder mich als Frau vor, die eine Unzahl
Männer verführte, oder ich gab als Frau, häufiger jedoch als Mann,
Freunden, es handelte sich nicht um bestimmte Persönlichkeiten, Feste,
bei denen sie mit Frauen sexuell verkehrten. Verkehrten, ist eigent¬
lich schon zu viel gesagt, denn ich hatte gar keine bestimmte Vor¬
stellung, da ich bis zu meinem 21. Jahre über die Details des Koitus
und noch mehr anderer geschlechtlichen Akte im unklaren war, mir
sie weit weniger drastisch dachte, als sie in der Tat sind. Ich hatte
bei den Phantasien nur das Gefühl, es werden geschlechtliche Hand¬
lungen vorgenommen. Orgasmus trat nicht ein, ob Erektion, weiß
ich nicht, ich achtete nicht darauf, glaube es aber nicht, da ich doch
einige Empfindungen dafür gehabt haben müßte. Ich empfand bei
diesen Vorstellungen durchaus kein wollüstiges Gefühl, sondern wie
gesagt, ein mehr ästhetisches. Nun zu den weit selteneren Nacht¬
träumen. Meist traten die Pollutionen in Zwischenräumen von etwa
4 Wochen träum- und empfindungslos ein. Nur zwei oder dreimal
waren sie mit einem Traum verknüpft Außer diesen wenigen Träumen,
gelegentlich Pollutionen, traten sexuelle Verbinderungsträume ein. ln
diesen spielt die Frau eine Rolle, doch kam es nie zu einem aus-
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XXII. Näcke
lösenden Akt Dieser wurde immer durch irgend welche Umstände
verhindert, nicht aber war die Frau der hindernde Umstand. Bei den
erwähnten drei Träumen war der erste und zweite besonders charak¬
teristisch, der Umstände des dritten entsinne ich mich im einzelnen
nicht mehr. Im ersten rang ich mit einer vollbusigen, rothaarigen —
ich liebe rotes Haar — Frau, welche sich meinen Liebkosungen
widersetzte. Dadurch aufgebracht, warf ich sie zu Boden, mich über
sie, und in diesem Augenblick erfolgte unter Orgasmus Ejakulation.
Ich erwachte auf dem Rücken liegend. Im zweiten Traum war meine
Mutter die Frau, mit der ich verkehrte, doch war hier der Vorgang
weder heftig, noch von Wollustempfindungen begleitet. Daß es ge¬
rade meine Mutter war, erkläre ich mir sehr einfach durch mein da¬
maliges sehr einsames Leben, indem sie eigentlich die einzige mir
näherstehende weibliche Persönlichkeit bildete. Ich hatte also nie von
Männern geträumt. Träumte auch nicht von Männern, als ich mich
mit der homosexuellen Literatur, veranlaßt durch meine Neigung zu
einem Freund, beschäftigte. Erst als ich .... hatten einige sexuelle
Träume in bezug auf Männer statt. Ich habe seitdem nie wieder von
Frauen geträumt, von Männern aber auch nur viermal, jedoch jedes¬
mal mit Orgasmus und Pollution. Mit meinem Freunde lebe ich in
einem sehr glücklichen Verhältnis. Ich muß noch hinzufügen, daß
ich in meinem 19. Jahre eine starke Zuneigung zu einem Mädchen
hatte, das ich leidenschaftlich küßte, desgleichen, vor etwa einem Jahre
zu einer bubenhaft aussebenden homosexuellen Dame. Zu weiterem
kam es nicht. ...“
Dieser Bericht trägt den Stempel voller Wahrhaftigkeit in sich,
da er mit tausendfältigen anderweiten Erfahrungen übereinstimmt
Er weckt so viele Probleme auf, daß ich viele Seiten schreiben könnte,
hier aber nur einiges kurz berühren möchte, weil es die Sexualpsycho¬
logie angeht. Der Briefschreiber erwähnt zunächst die sehr wichtigen
und zur Zeit noch wenig bekannten „Tagträume“, auf die wohl zu¬
erst H. Ellis mit Nachdruck aufmerksam machte, und die auch ich
wiederholt berührte. Wir wissen hierüber leider noch fast nichts
Näheres. Wer träumt so am Tage, wie und was? Alles ist hier noch
näher zu erforschen! Manche sind ausgeprägte Tagträumer, andere
viel seltene, und das mehr in verlorenen Stunden, in Stunden der
Muße, der Ermüdung und besonders gern vor dem Schlafengehen,
ln wie weit Halluzinationen oder Illusionen mitspielen, wäre auch
noch zu untersuchen. Die Themen sind die mannigfachsten, wohl
aber fast stets Wünsche ausdrückend, und sehr oft, besonders in der
Pubertätszeit bei Mädchen und Knaben ans Sexuelle streifend. So auch
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Beiträge zu den sexuellen Träumen.
365
bei unserem Gewährsmann, der sich wunderbarerweise oft als Frau
in solchen Wachtränmen anfspielte. Ich sehe darin schon das homo¬
sexuelle Element, und zwar in der passiven Rolle vorangedeutet.
Sehr merkwürdig ist es, — heutzutage eine avis rarissima! — daß
der Schreiber über die näheren sexuellen Details bis zum 21. Jahre
ununterrichtet war. Angeblich trat bei solchen sexuellen Tagträumen
— die namentlich bei Mädchen oft nur in symbolischer Form auf-
treten, z. B. eine verwunschene Prinzessin zu sein, dje von einem
Prinzen erlöst wird — kein Orgasmus ein und braucht es auch nicht,
wenn der sexuelle Inhalt verschleiert, nebelhaft ist. Ist er aber da,
dann dürfte die Erektion nie fehlen und daß letztere vergessen werden
könnte, wie es der Brief Schreiber anzunehmen scheint, halte ich für
ausgeschlossen, da der Samenerguß das Gemüt tief affiziert und einen
sicher aus dem Tagestraum, meist auch Nachttraum reißt und man
darüber ein gewisses Schaudern nicht unterdrücken kann. Schreiber
gehört ferner anscheinend zu den seltenen Träumern oder vielmehr: er
erinnert sich sehr selten der Träume, und das kommt vor, besonders
bei sehr kräftigen, sich körperlich sehr ausarbeitenden Personen. Er
bemerkte an sich zunächst einen etwa vierwöcbentlichen Rhythmus
der Pollutionen, wie er schon von H. Ellis beschrieben ward und sehr
lebhaft an Menstruationsvorgänge erinnert, daher auch als „männliche
Menstruation“ bezeichnet werden kann. Sie sollen ferner ohne Träume
stattgefunden haben, was aber wahrscheinlich nicht der Fall ist;
erstere waren sehr wahrscheinlich nur vergessen. Nur 2— 3 sexueller
Träume mit Pollution erinnert sich der Schreiber, außerdem traten
solche auch bei sexuellen „Verhinderungsträumen“ ein. Beim Auf¬
wachen lag der Träumer auf dem Rücken, wie wohl stets bei Pol¬
lutionen. Sehr auffallend ist der zweite Traum, wo er mit der eigenen
Mutter „verkehrt“ und darüber keine spezielle innere Empörung ver¬
spürt und keine Wollustempfindungen dabei hat. Ich führte wieder¬
holt des näheren aus, daß die Moral, also auch die Geschlechtsmoral
eines Jeden im Traume sinkt und eine selbst abstoßende Szene
daher sehr wohl bei einem sonst tief Moralischen stattfinden kann.
Nun hatte Schreiber endlich von Männern geträumt; erst als er einen
Freund besaß und sich mit homosexueller Literatur abgab, traten
einige Male homosexuelle Träume ein, seitdem nie von Frauen. Es
könnte nun fast scheinen, als ob die Lektüre die Homosexualität ge¬
weckt hätte, das ist aber wohl unmöglich, wenn nicht besondere An¬
lage da war, wie eben hier. Er bat einen Freund gefunden, in dem er
sein Glück findet, und weist von jetzt ab die Frauen zurück, zu denen
er sich früher hingezogen fühlte. Wir haben es also hier mit einem
Archiv für Kriminalanthropologie. 29. Bd. 24
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366
XXII. NXcke
tardiv Homosexuellen zu tun, wahrscheinlich nicht mit einem Bi¬
sexuellen, dagegen spricht jetzt die Ausschließlichkeit der homosexu¬
ellen Träume. Auch ist es sehr unwahrscheinlich, daß es sich hier nur
um eine homosexuelle Phase bei Bisexualität handelt. Man sieht, zu wie¬
viel interessanten Betrachtungen gerade dieser Brieferguß führt und
wie meine Theorie der Spezifizität der sexuellen Träume für
die Erkenntnis der Vita sexualis richtig ist. Bis jetzt kenne
ich von ihr noch keine Ausnahme!
Jetzt kommt der zweite Brief, der gleichfalls vom 14. Oktober
] 907 datiert und an mich gerichtet war und deshalb aktuell ist, weil
er einen homosexuellen Traum eines Heterosexuellen an¬
betrifft, wie solche bisher wenig veröffentlicht wurden. Der absolut
vertrauenswürdige Herr schreibt mir folgendes:
„Für die liebenswürdige Übersendung Ihrer Arbeit über Kontrast¬
träume l ) spreche ich Ihnen meinen verbindlichsten Dank aus. Gleich¬
zeitig bin ich in der Lage, Ihnen einen ganz sicher verbürgten Kon¬
trasttraum eines heterosexuellen Herrn, der von einem homosexuellen
Akte träumte, mitzuteilen. Der Betreffende, durchaus heterosexuell
und regelmäßig mit seiner Maitresse sexuell verkehrend, ein Mann
Ende der dreißiger Jahre, erzählte letzthin ganz unbefangen in Gegen¬
wart eines heterosexuellen und eines homosexuellen Freundes (dessen
Natur er übrigens nicht kannte, vielleicht aber ahnte), er habe ge¬
träumt, daß er seinen Geschlechtsteil in den After des homosexuellen
Freundes gebracht habe, er habe furchtbar gearbeitet, d. h. Bewegungen
gemacht, und sei darüber unter großem Samenerguß erwacht. Er
fügte noch hinzu, er habe im Traum gefühlt, wie der Pädizierte so
sehr starke Hinterbacken gehabt habe. Der betreffende heterosexuelle
Träumer hat als Knabe von 14 Jahren (wie mir der homosexuelle
Freund mitteilte) öfters seitens eines gleichaltrigen Knaben coitus inter
femora geduldet, damals sei der Betreffende aber noch völlig un¬
schuldig gewesen und habe lediglich diesen Coitus über sich ergehen
lassen. Diese damaligen Duldungen haben aber keine Spur von
Homosexualität bei dem Betreffenden erzeugt, er kennt auch heute
überhaupt auch nicht theoretisch das Wesen der Homosexualität
und teilt die landläufige Anschauung, es handle sich um grobsinnliche
Laster. Vielleicht erklärt sich der Traum durch folgende im wachen
Leben halb unbewußte Gedankenassoziationen. Wahrscheinlich hat
der Betreffende von der Homosexualität seines homosexuellen Freundes
munkeln hören oder vielmehr ist dies so gut wie sicher, da vor
li Siehe Nücke: Über Kontnisttrüumc etc. Das Archiv, Bd. 28, l.,2. II.
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Beiträge zu den sexuellen Träumen.
367
einiger Zeit bestimmte Gerüchte über diesen Homosexuellen in Um¬
lauf waren. Der Heterosexuelle bat dann hierüber nachgedacht und
sich gefragt, wie es denn möglich ist, daß sein Freund mit Männern
verkehre, er hat sich dann wahrscheinlich den Akt selber vorgestellt.
Diese Vorstellungen haben dann im Traum zu dem bestimmten
Akt geführt. Vielleicht ist der Traum auch anders zustande ge¬
kommen .. . a
Auch an diesem Traum ist manches interessant. Nur ein ein¬
ziger homosexueller Traum ist bei einem heterosexuellen Herrn auf¬
getreten und es ist wohl möglich, daß der Mechanismus so gewesen
ist, wie Briefschreiber sagt, und einen ähnlichen Fall kenne ich auch.
Das wäre aber nur ein ganz äußeres Moment, das unmöglich hätte
einwirken können, wenn nicht in dem Betreffenden die homosexuelle
Komponente stärker vorhanden gewesen wäre, die durch den äußeren
Anlaß aus dem Unterbewußten hinausgehoben wurde und der ge¬
träumte Akt war von voller Befriedigung begleitet, was sonst wohl
unmöglich gewesen wäre. Unzählige lesen Schriften etc. über Homo¬
sexualität ohne davon zu träumen oder gar Urninge zu werden. Wir
sehen aber ferner, daß an ihm im 14. Jahre seitens eines homosexu¬
ellen Knaben ein homosexueller Akt vorgenommen wurde, der aber
scheinbar keinen innerlichen Choc binterließ, der ä la Freud dann
verdrängt sich späterhin gerächt hätte. Daß der einzige Traum etwa
darauf zurückzuführen wäre, erscheint sehr wenig wahrscheinlich.
Unzählige Menschen haben früher sexuelle Erlebnisse erfahren, ohne
von ihnen scheinbar momentan oder später affiziert zu werden. End¬
lich sehen wir — und das ist eine alltägliche Erfahrung — wie dieser
Normale zum Freunde auch einen Urning hat, ohne lange Zeit seine
wahre Najur zu kennen. So wenig Auffallendes haben sehr viele
Urninge an sich und deutlich weibische Männer existieren meist eben
nur in der Phantasie des Laien.
Als dritten Brief lasse ich folgenden abdrucken, der mir am
2. Januar 1908 gesandt wurde:
„In der Nacht vom 26./27. Dezember glaubte ich im Traum die
Erfahrung zu machen, daß der erigierte Penis sich rückwärts
vollständig in den Leib hineinschieben ließe, wobei ich
schließlich das Gefühl einer stärkeren Pollution hatte. Beim Erwachen
bemerkte ich, daß eine solche in Wahrheit ebensowenig stattgefunden
hatte (sie kam ein paar Tage später ohne Traum nach), wie die ver¬
meintliche, unmögliche Rückwärtsschiebung. Das zeitliche Auseinander¬
fallen von Traum und Realität habe ich in meinem vorgerückten
Alter schon mehrfach beobachtet. Im wachen Zustande bin ich be-
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368
XXII. Näcke
müht, sich bemerklich machende Reize durch Ablenkung: unwirksam
zu machen, was mir meist auch gelingt. Der Reiz tritt zumeist ein,
wenn das sich aufrichtende Glied sich von unten an den Schenkel
anlegt. Er wird rückgängig, so bald durch veränderte Lage diese
Berührung aufgehoben wird.“
Auch hier gibt es einige wichtige Punkte zu besprechen. Der
alte Herr, der im obigen seinen Traum niederschrieb, ist ein wahres
Muster feinster Selbstbeobachtung und absoluter Wahrhaftigkeit. Wie
er selbst sagt, wird er noch jetzt in seinem hohen Alter von sexuellen
Träumen und sogar sexuellen Reizen am Tage nicht selten noch heim¬
gesucht. Bei ihm besteht also noch eine starke libido. Um so wunder¬
barer ist es, wie ich sicher weiß, daß er noch nie geschlechtlich ver¬
kehrte! Vielleicht ist deshalb die libido gerade noch erregt, während sie
sonst in seinem hohen Alter aufzuhören pflegt. Der Traum ist aber beson¬
ders dadurch sehr merkwürdig, daß er eine Art von „Autopäderastie“
darstellt. Der Träumer ist ein Heterosexueller, mehr aber vielleicht
ein Bisexueller, da er, wie ich von ihm weiß, öfter homosexuelle
Träume, mit heterosexuellen abwechselnd, hat. Offenbar ist jener
autopäderastische Traum ein homosexueller, als solcher bisher mir noch
nicht vorgekommen. Bei dem erträumten Akte hatte er volle ge¬
schlechtliche Befriedigung, aber angeblich ohne Pollution. Wenn das
Erwachen sehr schnell geschah — darüber ist allerdings nichts aus¬
gesagt — so könnte es sich eventuell, sogar wahrscheinlich, um die
von mir überhaupt zum ersten Male beschriebene Pollutio
interrupta gehandelt haben. Das heißt: Auf der Höhe des Or¬
gasmus, aber bevor noch die Ejakulation stattgefunden hat. erwacht
der Träumer und unterdrückt die sich vorbereitende Pol¬
lution durch besondere Anspannung des Willens. Unser
Briefschreiber berührt aber weiter eine bis dahin noch gänzlich un¬
bekannte, aber immerhin nicht unmögliche Sache. Er behauptet näm¬
lich, daß die nicht eingetretene Pollution im Traum einige Tage später
ohne Traum (im Wachen? am Tage?) eingetreten sei, wie er denn
ein „zeitliches Auseinanderfallen von Traum und Realität“
an sich schon mehrfach wahrgenommen habe. Ich glaube jedoch
eher an einen anderen Zusammenhang. Wenn die „Realität“, d. h.
die Pollution eingetreten ist, hat dies wahrscheinlich nicht der ä la
Freud ins Unterbewußtsein abgespaltene und vergessene sexuelle
Traum nun durch irgend eine Assoziation im Wachleben unbewußt
emporgehoben, zuwege gebracht, sondern die Realität ist durch irgend
einen sexuellen Reiz im Wach leben, der als solcher aber unbemerkt
blieb, ausgelöst worden. Dies ist bei starker libido und leichter Er-
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Beiträge zu den sexuellen Träumen.
369
regbarkeit sehr wobl möglich. Bei dem Herrn ist sie offenbar so
groß, daß schon das bloße Anlegen des Penis an den Schenkel die
Erektion zustande bringt, die dann durch eine Lageveränderung, wo¬
durch die Berührung aufgehoben erscheint, gelöst wird. Um wie
leichter mögen andere Reize solches bewirken! Ja, die Erregbarkeit
mag bisweilen so groß werden, daß der Reiz direkt das Erektions-
Zentrum überspringt und das der Ejakulation erregt und dann statt
beider Bewegungen nur die letztere, die Samenentleerung, Platz greift.
In das Kapitel der Kontrastträume, freilich der nicht sexuellen,
gehört folgender Brief eines schweizerischen Geistlichen, der zum
Glücke zeigt, daß auch so manche Geistliche reges Interesse für vieles
haben, was nicht direkt in ihr Fach schlägt Sie müssen es eigent¬
lich auch haben, da sie in der Gemeinde, mitten im Leben mit seinen
vielen Licht- und Schattenseiten leben und wirken und diese folglich
ä fonds kennen lernen sollten.
Der Brief (Dez. 1907) lautet nun folgendermaßen: „Geehrter
Herr Doktor! Zu Ihren interessanten Darbietungen über Kontrast¬
träume ein Beispiel aus meiner Traumbeobachtung: Mitte Oktober
hatte ich unliebsame pfarramtliche Verhandlungen mit einem aus
Bayern stammenden, hier eingebürgerten Bierbrauer. Sie zogen sich
in ermüdender Länge. Obschon sie gar nicht mit der Alkoholfrage
zu tun batten, vermehrten sie doch den Widerwillen gegen dieses
Gewerbe (dessen Produkt mir von Jugend an bis heute, resp. bis zur
völligen Abstinierung nie mundete). Wie zur Strafe mußte ich im
Traum (zu jener Zeit) mit dem betreffenden Bierbrauer von Rastatt
gegen Karlsruhe fahren. Die Automobilfahrt gefiel mir erst, bis ich
entsetzt die Bierfässer hinter uns bemerkte. Ich suchte Gelegenheit
zum Abspringen, umsonst. Mir ward heiß, als ich bei der Verteilung
mithelfen sollte. Da ward mir Hilfe: der Leichenzug des Großherzogs
gebot dem Bierwagen halt und ich konnte — ruhig weiter schlafend —
dem Trauerzuge nachgehen. Tags darauf erzählte ich spontan das
Erlebnis dem Herrn . . . der mich ermunterte es Ihnen mitzu¬
teilen. . . .“
Der Kontrast besteht hier also dariD, daß er mit einem Bierbrauer,
dessen Gewerbe er infolge Abscheus vor Alkohol stets haßte, ganz
gemütlich eine längere Fahrt im Traum unternahm und sich dabei
amüsierte, bis er plötzlich hinter sich die Bierfässer sah und ihn nun
sein eingefleischter Haß gegen die Brauer packte und er sich von
ihm loszumachen suchte, was durch einen Zufall gelang. Cbarak-
terologiscb ist bei dem Träumer sonst auch im Traume der Wider¬
willen gegen den Alkohol und dessen Bereiter. Einmal aber setzte
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370
XXII. Xäcke
derselbe doch aus, offenbar weil der Bierbrauer weniger in dieser
Eigenschaft, als in der eines Neutralen, der ihn zu angenehmer Fahrt
einlud, erschien, bis der Anblick der Fässer ihn dessen wahren
Charakter zeigte. Diese Art von Kontrasten scheint mir sehr häufig
zu sein. Wir verkehren z. B. im Traume mit unseren Feinden ganz
gemütlich, bis ein Zufall uns wieder zu unserer Natur zurückweist.
Es ist das weniger ein moralischer Kontrast, als vielmehr eine
Art von’Personenverkennung, wie sie im Traum so häufig ist.
Endlich will ich mit einem interessanten Briefe diese Beiträge
schließen, den ich erst Ende Februar h. a. von einem Homosexuellen
empfing. Er lautet:
„Ich stand im 8. oder 9. Lebensjahre und war Rekonvaleszent
von den Masern, als ich eines Nachts allein im Schlafzimmer im Bett
liegend träumte, daß eine Anzahl, etwa drei junge Mädchen in leichter
luftiger Gewandung, wie sie etwa die illustrierten Ausgaben von
1001 Nacht oder die Feenbilder der deutschen Märchenbücher bieten,
sich dem Bette nahte und das Lager mit mir teilen wollte. Sie
fanden jedoch wenig Gegenliebe mit diesem Verlangen bei mir, denn
ich stieß eine nach der anderen vom Bettrand zurück. Sie entfernten
sich darauf nach mehrfachen vergeblichen Versuchen endlich und
waren auch, als ich sie zur Rückkehr einlud, nicht wieder dazu zu
bewegen. Obwohl mir nach meiner Erinnerung in diesen Jahren
jeder erotische, auf einen Geschlechtsakt gerichtete Gedanke, noch
völlig fern lag, kann ich doch nicht umhin, diesen Traum als einen
Vorboten meiner späteren, dem Weibe abgewandten Geschlechtsrichtung
anzusehen. Meine späteren erotischen Träume bezogen und beziehen
sich noch einzig auf Personen des eigenen Geschlechts in jüngeren
Jahren (16—25).
Hier fällt das frühzeitige Erwachen der libidoauf, wenn¬
gleich noch unbewußt. Dies soll namentlich bei Homosexuellen oft
der Fall sein. Charakteristisch ist es nun, wie schon bei dem aller¬
ersten der erinnerten Träume — offenbar hatte er großen Eindruck
hervorgebracht und war infolgedessen in dem Gedächtnisse fixiert
worden — das Weib sexuell abgestoßen wird. Und doch war noch
eine Spur eines gewissen heterosexuellen Fühlens vorhanden, da der
Träumer zu guterletzt die 3 Mädchen, die er wiederholt zurück¬
gestoßen batte, zurückrief. Hier beim Beginn des Erwachens des
Geschlechtsgefühls wäre es wichtig zu wissen, ob sich derselbe zuerst
im Traume, wie in obigem Beispiele scheinbar, zeigt, oder erst im
Wachen.
Ich hoffe, auch der aufmerksame und wissenschaftlich denkende
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Beiträge zu den sexuellen Träumen.
371
Jurist wird sich aus meinen verschiedenen Mitteilungen über das noch
so gut wie brach liegende Gebiet der sexuellen Träume überzeugt
haben, daß auch sie gesetzlich erfolgen und nicht bloß ein
hohes psychologisches, sondern auch forenses Interesse ')
beanspruchen.
Unterlassen will ich schließlich nicht noch darauf hinzuweisen,
daß jede Traumdeutung, also auch die eines sexuellen
Traumes, nach der Freudschen Manier 2 ) eine höchst un _
sichere ist. Sie kann wohl möglich sein, sogar einmal wahrschein¬
lich oder sehr wahrscheinlich, aber strikte zu beweisen ist sie
nie. Die Deutungen Freuds sind z. T. ganz phantastisch und sicher
rein willkürlich. Übrigens hat schon vor Freud Scherner 3 ) auf ganz
analoge Weise wie jener Träume, speziell auch sexuelle, zu deuten
versucht, aber eben so wenig überzeugend. Dies geschah schon 1861
und 1899 schloß sich ihm im wesentlichen auch Stumpf an, also auch
noch vor Freud.
1) Siehe auch hier die auf p. 376 veröffentlichte Mitteilung über sexuelle
Träume bei 2 Epileptikern.
2) Freud: Die Traumdeutung. Leipzig und Wien, Deuticke, 1900.
3) Laurent: Okkultismus und Liebe. Berlin 1903, Barsdorf. S. 825.
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Kleinere Mitteilungen.
Von Medizinalrat Dr. P. Nücke.
1 .
Nekrolog für Dr. Baer. Am 22. Februar h. a. ist in
Berlin Geheimrat Dr. Abraham Baer gestorben. 1834 in Filehne ge¬
boren, war er von 1872—1904 Oberarzt an der Gefangenen-Anstalt
Plötzensee. Sein äußeres Leben verlief ruhig. Er war ein
tüchtiger Beamter und geschätzter Kollege, vor allem aber ein
großer und verdienstvoller Gelehrter. Am bekanntesten ist er ge¬
worden durch zwei Werke: 1. Der Verbrecher in anthropologischer
Beziehung (1893) und 2. Der Alkoholismus, seine Verbreitung etc.
1878. Er hat in Deutschland zuerst die gründlichsten und
größten kriminalanthropologischen Untersuchungen
geliefert, auf Grund seiner großen Gefängnispraxis
und ihm vor allem ist es zu verdanken, daß Lom-
brosos übereilte Theorien in Deutschland so gut wie
nicht eindrangen. Darin sehe ich mit sein Haupt¬
verdienst! Sein Werk ist das des gründlichen, kritischen
Forschers, dem gegenüber Lombrosos Hauptwerk fast nur wie ein
Roman erscheint. Aber auch gegen den Alkoholismus ging Baer vor,
wenngleich er nicht zu den fanatischen Antialkoholikern ä la Forel
gehörte. Über Alkohol schrieb er ferner: Die Trunksucht und
ihre Abwehr, 1890 und 2. Aufl. 1907. An dritter Stelle betrafen
seine Werke die Gefängnispraxis. So 1871: Die Gefängnisse,
Strafanstalten und Strafsysteme etc., später eine ausgezeichnete
Gefängnis-Hygiene 1897. 1901 schrieb er eine sehr wertvolle
Broschüre über Selbstmord im kindlichen Lebensalter. Außerdem
veröffentlichte er verschiedene Arbeiten, aber nur wenig kriminal¬
anthropologische mehr. Er vermied es in Streitigkeiten mit Autoren
zu kommen, gab aber darum seinen Standpunkt nicht auf. Er
war durch und durch ein ehrenwerter Charakter, ein lieber und
hilfsbereiter Freund und Berater, ein guter Familienvater und ein
vortrefflicher Kollege. Sein Andenken wird die Wissenschaft in
Ehren halten!
H. P. A.!
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Kleinere Mitteilungen.
373
2 .
Das Rätsel der menschlichen Fruchtbarkeit. Es ist schon
lange bekannt, daß es kinderreiche und kinderarme Völker, Volksschichten
und Familien ’) gibt. Leider wissen wir über den eigentlichen Grund dieser
Erscheinung nichts Sicheres und auch die Beobachtung an Tieren wird hier
kaum weiter helfen. Abgesehen von Körperzustand, Alter, Altersunterschied,
Krankheiten etc. der Eltern, spielt scheinbar auch die Rasse eine gewisse
Rolle. Wir wissen z. B., daß die Iren und Slawen sehr kinderreich sind,
unter den Romanen besonders die Italiener. Die Frage hat an sich nicht
bloß einen hohen wissenschaftlich-theoretischen Wert, sondern könnte, wenn
gelöst, viele Sorgen beheben, da so ziemlich überall bei den Kulturvölkern
heute ein ZurUckgehen der Kinderzahl (das bezieht sich aber nicht auf die
Aborte, von denen wir quantitativ so gut wie nichts wissen!) beobachtet
wird, am meisten bei den Franzosen. Ceteris paribus müßten folgende
Fragen vorher gelöst werden: 1. Hat der Geschlechtstrieb beim Mann oder
der Frau oder bei beiden abgenommen oder nicht? Ist er bei kinderreichen
Familien also größer? 2. Hat die Quantität und Qualität des Samens sich
verändert, ist sie hier größer, dort kleiner? Die Frau kann hierbei kaum
in Betracht kommen, da ein wesentlicher Unterschied in der Größe des
Eierstocks und in der Zahl der Eizellen wohl bis jetzt anatomisch nicht
nachgewiesen wurde und man ihre physiologische Qualität, ihr leichteres oder
schwereres Ablösen vom Mutterboden als sich wohl ziemlich gleichbleibend
ansehen kann. Das gilt wahrscheinlich auch bezüglich der Gebärmutter.
3. Sind es Veränderungen in Quantität und Qualität der Ex- und Sekrete der
Genitalien vor, bei und nach dem Beischlafe? Wir wissen in vergleichender
Weise nichts darüber. 4. Spielen nicht wahrscheinlich eine gewisse, wenn
auch nicht große Rolle, die äußere Konfiguration und Lage der Geschlechts¬
teile, und zwar mehr beim Manne, als bei der Frau ? Das dürften die vier
Hauptfragen sein, wobei selbstverständlich von allen künstlichen Hinderungs¬
mitteln der Empfängnis abgesehen wird. Wie H. Ellis (Studies in the
Psychology of Sex, V., Philadelphia 1906, p. 173) erzählt, sollen die irischen
Bauern, die fast stets viel Kinder haben, nur einen abnorm geringen Ge¬
schlechtstrieb besitzen. Wir sehen also schon daraus deutlich, daß Letz¬
terer durchaus nicht parallel der Kinderzahl geht. Die fruchtbaren Völker
sind gewöhnlich solche, die schon das erste Kind am Ende des ersten Jahres
ihrer Verheiratung haben; bei andern geschieht es später. Die Befruchtung
ist ja nur eine einmalige; dazu werden aber meist eine Menge von Bei¬
schlafsakten und Millionen von Spermatozoen verschwendet. In nur ganz
seltenen Fällen war blos ein einziger Akt nötig und ich kenne einen solchen
Fall. Die Natur hat eben für eine große Verschwendung des Samens ab¬
sichtlich gesorgt, da gewöhnlich die günstigen Bedingungen zu einer Be¬
fruchtung so prekäre und seltene sind. Jedenfalls ersieht der Leser, daß
Abnahme der Kindergeburten, cet. par., noch lange nicht für
Abnahme der Fruchtbarkeit oder des Geschlechtstriebes
1) Ich hörte neulich von einer Engländerin erzählen, deren Eltern 16 Kinder
hatten, deren Mutter ans einer fast gleich starken Familie stammte und deren
Schwester 14 Kinder besitzt. Sie selbst aber hat nur eins. Sehr wahrscheinlich
liegt hier die Fruchtbarkeit in der weiblichen Linie.
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sprechen muß. Es ist aber auch ersichtlich, wie viel Schwierigkeiten
der Lösung obiger Fragen sich entgegenstellen, manche erscheinen fast un¬
löslich und zudem wird es sich meist um gemischte anatomisch¬
funktionelle, soziale und ökonomische Verhältnisse handeln,
was ein geradezu unentwirrbares Gewebe darstellt.
3.
Nahrung und Fruchtbarkeit. Müller (Sexualbiologie etc.,
Berlin 1907) behauptet (S. 232), daß der vorwiegende Kartoffelgenuß die
Fruchtbarkeit begünstige, wie auch der des Reises bei Hindus und Chinesen.
Das sind jedenfalls Sätze, die erst noch zu beweisen wären. Das Moment
der Fruchtbarkeit bei jenen Völkern ist richtig, aber die Deutung der
Ursache wahrscheinlich falsch. Die Fruchtbarkeit ist hier wohl
eher durch die Rasse bedingt, oder vorwiegend mitbedingt. Es ist
z. B. nicht bekannt, daß die viel Reis essenden Oberitaliener fruchtbarer
wären, als die Süditaliener etc. Daß bei uns die arme Bevölkerung, die
vorwiegend von Kartoffeln sich nährt, besonders im Gebirge (z. B. Erz¬
gebirge) meist sehr fruchtbar ist, hat wohl ganz andere Gründe, als die
Nahrung. In den unteren Ständen ist die Fruchtbarkeit überhaupt überall
größer, aus verschiedenen Gründen, nicht zum wenigsten, weil hier, wie
man zynisch sagt, der Beischlaf den „Schweinebraten“ des armen Mannes
darstellt, weil er nichts kostet. Freilich wird niemand der Nahrung jegliche
Wirkung auf die libido, vielleicht sogar auf die Fruchtbarkeit absprechen.
Man kennt ja die Aphrodisiaca seit alters her und mit der gesteigerten libido
hängt scheinbar zum Teil wenigstens die Fruchtbarkeit zusammen (z. B.
bei Juden und Negern). Letztere ist aber eine so komplexe Erschei¬
nung, daß wir nur weniges davon wissen. In einer Mitteilung
habe ich mich darüber schon geäußert; siehe oben. Jedenfalls muß man
bezüglich des Kausalnexus von Nahrung und Fruchtbarkeit äußerst vor¬
sichtig sein und besonders hier stets des möglichen post hoc ergo propter
eingedenk sein. Als Warnungstafel sollte dieser lateinische Satz in der Stube
jedes Forschers hängen, um ihm stets eine gefährliche Klippe ins Gedächt¬
nis zurückzurufen!
4.
Neuere Kußtheorien. Im 16. Bd., p. 355 auch im 25. Bd.,
p. 108, habe ich die Genese des Liebeskusses erörtert, die ganz im dunkeln
liegt und in Bd. 17, p. 177 den Liebeskuß Homosexueller behandelt. Nun
hatte mir in Anknüpfung daran >) Dr. von Öfele am 6. April 1906 folgendes
geschrieben: „ . . unser ganzes Nervensystem besteht aus einzelnen Nerven-
elementen, welche wie ein Kohlenzinkpaar mit einfachem Draht verbunden
(Nervenfaser) in gleiche Flüssigkeit tauchen. Es besteht konstanter Strom,
der durch irgend welche Änderungen Schwankungen erleiden kann. Die
Nervenleitungen laufen immer wieder in parallelen Anordnungen und er¬
geben dadurch Induktionen, wie eine schlechte Telegraphenleitung. Auf
solchen Induktionen beruht unsere ganze Nervenarbeit. Schwankung in
1) Wiederholt in meiner größeren Arbeit: Der Kuß bei Geisteskranken.
Allgeni. Zeitsehr. f. Psveh. <>.-!. Bd. (UtOCo.
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Kleinere Mitteilungen.
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einem Nervenelement wirkt dadurch auf so und so viele ein, so daß die
Schwankungen unter Umständen durch das ganze System gehen. Unsere
ganzen Rückenmarksreflexe scheinen mir solche Induktionen zu sein. Alle
Suggestionen sind aber mehr oder weniger Induktionswirkungen zwischen
den Nervensystemen zweier Personen. Es müssen auch hier die anorganischen
elektrotechnischen Gesetze gelten. Wenn zwischen den Nervenelementen
nur eine dünne feuchte Schleimhaut liegt, so findet die Induktion leichter
statt, als wenn die relativ dickere und trockene Cutis dazwischen liegt.
Höchstens muß die Cutis sehr dünn und die dortige Zahl von Nerven¬
elementen sehr groß sein (Fingerspitzen). Darum ist außer dem Händedruck
gerade die Vereinigung der Lippenschleimhäute so stark erogen. Die alten
Griechen in voraspasianischen Verhältnissen hatten die Entdeckung des Kusses
noch nicht gemacht und nach der Entdeckung einer so intimen Sache war
natürlich nicht mit solcher Pünktlichkeit wie bei der modernen Eisenbahn,
Telegraph und Telephon eine allgemein gültige Wertbildung gefolgt. Meine
Induktionslehre stimmt auch für den Schmerz in der rechten Schulter bei
Leberleiden, für Knierheumatismns bei gonorrhoischer Samenstrangent¬
zündung etc. etc. Es geht wie bei schlechter Telephonanlage und ent¬
sprechender Witterung: Der verbundene Teilnehmer (übrigens auch einfache
und mehrfache Übertragung durch Induktion) hört nichts und in der Nach¬
barleitung wird jedes Wort verstanden. So geht von der Leber bis zum
Großhirn die reguläre Weiterleitung häufig ganz verloren, um in induzierten
ganz unberechtigten Nebenbahnen einen Schulterrheumatismus vorzutäuschen.
In diesen Untersuchungen liegt jedenfalls der Schlüssel für das Verständnis
des Kusses. . .“
Das also wäre eine sehr plausible physikalisch-physiologische Erklärung.
Freilich wissen wir von den elektrischen Strömen im Innern, von Induktionen
etc. noch recht wenig, so daß wir vorläufig hier nur mit Hypothesen arbeiten.
Außerdem ist und bleibt der Umstand absolut dunkel, warum gerade die
Induktion an der Lippe mehr oder minder deutliche sexuelle Empfin¬
dungen auslöst. Das gleiche Bedenken habe ich gegen eine andere Theorie
des Kusses durch Dr. W. Sternberg'). Er setzt erst auseinander, wie ge¬
rade am Eingangstore des Verdauungstraktus die Gefühle des Wohl¬
geschmacks und des Ekels am stärksten sind und der Kuß „schmeckt gut“,
deshalb wird er gesucht. Vom „Gutschmecken“ bis zum sexuell Erregten
ist aber ein sehr weiter Schritt. Wie soll man ihn überbrücken V Warum
hat dann wahrscheinlich die Mehrheit der Menschen nicht den Mundkuß als
Liebesbezeugung gewählt, sondern das Nasenreiben? Sollte hier nicht ein
Wink vorliegen, daß dem Gerüche ursprünglich beim sexuellen
Fühlen eine große Rolle beizumessen war und schließlich das
„Beschnüffeln“ der Tiere der Vorläufer des Kusses war? Der Geruch
gewisser Personen ist uns angenehm und man weiß, wie frisch die Kinder¬
haut riecht. Jedenfalls spielt der Geruch auch in der Liebe eine
größere Rolle, als man allgemein annimmt und die koketten
Frauen und die Hetären wissen sehr genau, in welch' engem Verhältnisse
gewisse Parfüme zur Sexualfunktion stehen. Und das Wunderbare ist,
1) Der Kuß. Der Zeitgeist, Beiblatt zum „Berliner Tageblatt* l'.MWi, 5. und
12. Nov.
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wie weitere Untersuchungen ergeben haben, daß gerade manche sexuell er¬
regende Wohlgerüche den Afterdrüsen gewisser Tiere entstammen (Moschus)
oder in ihren chemischen Verbindungen gewissen Ausscheidungen der Genital¬
sphäre nahe stehen. Auch beim Mundkusse kommt die Nase in große
Nähe der Haut, so daß hier wahrscheinlich neben dem taktilen Ein¬
druck der Lippenschleimhaut auch der Geruch noch seine Rolle spielt. Ich
möchte daher unter den verschiedenen Theorien entschieden
der des „Beschnüffelns“ als Urgrund des Kusses den Vorzug
geben.
Dt
Sexuelle Träume in der Epilepsie mit Mordimpulsen. Unter
diesem Titel führt M. Marie in der Revue de Psychiatrie etc., 1903, p. 122,
zwei Fälle von Epileptikern an, von welchen nach einer Reihe von sexuellen
Träumen nach epileptischem Krampf oder statt desselben der eine ohne
Ursache seine Nachbarn im Irrenhause sehr brutal schlug, der andere besonders
gegen Frauen Mordneigung zeigte. Verf. meint, daß in den gewöhnlichen
Fällen von Epilepsie das Blasenzentrum im Rückenmarke vom Krampfe mit
ergriffen wird, daher das so oft gleichzeitige unwillkürliche Harnen. Häufig
aber wird das nahegelegene Ejakulationszentrum mit ergriffen, mit und ohne
sexuelle Träume mit folgender Ejakulation. Der Verf. glaubt endlich, daß
solche Fälle vielleicht gewisse periodische und stereotype sadistische Akte er¬
klären könnten. — Diese Bemerkungen sind interessant und forensisch wichtig.
Zunächst also: sexuelle Träume als Aequivalent von epilep¬
tischen Krämpfen, und das wäre neu! Ob wirklich hier das Verhältnis
einer Aequivalenz besteht, ist immerhin fraglich, aber wohl möglich. Weiter aber
ist wichtig, daß sie nicht nur zu Mordneigungen und Gewalttätigkeiten führen
sollen, sondern auch zu gewissen sexuellen Akten, wie Sadismus, eher wohl
noch zu Exhibition, wie ich glaube. Treten die Träume, wie gewöhnlich
nur nachts auf, dann müßte man eine Nachwirkung derselben in bezeichneter
Richtung annehmen und die Taten könnten wohl fast nur morgens geschehen,
und zwar in einer Art von Dämmerzustand. Dieser neigt bekanntlich leicht
zu motorischer Betätigung, daher das Umherlaufen, Schlagen etc. und bei
Epileptikern insbesondere das brutale Schlagen. Die stereotype Vornahme
von sexuellen Delikten weist allerdings oft auf Epilepsie, doch muß dies stets
in coucreto erst bewiesen werden. Häufiger geschehen sie wohl ohne
Zwischentreten von Träumen.
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Besprechungen.
i.
Finzi. I reati di falso. Vol. I. Torino, Fratelli Bocca 19ü8. 386 p.
Der Verfasser hat sich die Aufgabe gestellt eine Sonderdarstellung
der Fälschungsverbrechen zu liefern, die das Gebiet nach jeder Richtung
hin erschöpfend behandeln soll; vom geschichtlichen, soziologischen und
juristischen Standpunkt aus. Das Wort Fälschungsverbrechen ist im weitesten
Sinne genommen und umfaßt alle Straftaten, bei denen Täuschung eine
Rolle spielt. Der erste jetzt vorliegende Band umfaßt Geschichte und
rechtsvergleichende Darstellung der Gesetzgebung im Altertum; der zweite
Band soll die Statistik und die Kriminalsoziologie bringen, der dritte Band
die Darstellung des geltenden italienischen Strafrechtes einschließlich des
Verfahrens. Dem ersten Band ist eine systematisch geordnete Bibliographie
voraufgeschickt, die ihrer außerordentlichen Reichhaltigkeit wegen eine Arbeit
für sich ist. Sie umfaßt auf 104 Seiten 686 Nummern deutscher, italienischer,
englischer, französischer und lateinischer Schriftsteller, wobei auch zahlreiches
in Zeitschriften verstreutes Material berücksichtigt ist. Meist sind kurze Be¬
merkungen über den Inhalt beigefügt. Dann folgt eine rechtsvergleichende
Darstellung der Gesetzgebung über die Fälschungsverbrechen bei den Völkern
des Altertums, von denen jedoch nur die römische Gesetzgebung eine eingehende
Darstellung erfährt. Es muß auch bezweifelt werden ob bei der Darstellung
sagenhafter Rechtssysteme wie derjenigen der Carthager und Phönizier,
der Peruaner und Mexikaner viel für die Sache herauskommt. Die Dar¬
stellung ist knapp und klar und überall mit Quellennachweisen versehen.
Ausführliche Sach- und Autorenregister erhöhen die Brauchbarkeit des
interessanten Buches. Sommer.
2 .
La Police et l’Enqnöte judiciaire scientifiqu es par Alfredo
Niceforo, prof. ä l’universitö nouvelle de Bruxelles
agrdg^ ä la facultö de Droit de Naples. Avec preface
du Dr. Lacassaque prof. ä la facultö de medecine de
Lyon. Paris. Libr. Univervelle. 1007.
Das prächtig ausgestattete, mit außerordentlich schönen und zahlreichen
Abbildungen versehene Werk gibt einen erfreulichen Beweis dafür, welch
festen Boden die Disziplin der Kriminalistik gefallt hat, und wie viel und
wie streng wissenschaftlich darauf gearbeitet wird. Behandelt wird: Kap. I.
„Der Tatort“ mit zahlreichen vortrefflichen und gut instruierenden Bildern
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Besprechungen.
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und Ratschlägen über die Art der Aufnahme; Kap. II. „Der Leichnam“,
in weichem Kapitel namentlich die Frage der richtigen Stellung, die Mög¬
lichkeit der Identifizierung und die richtige Veranschaulichung der Wunden
erörtert wird. Besonders wichtig ist auch die Darstellung der sogenannten
Photographie mötrique, mit deren Hilfe alle Grössen Verhältnisse festgehalten
werden können. Kap. III. „Die Spuren“ mit guten Erörterungen über
Fußspuren (namentlich im Gehen und Stehen, bei besondere verbildeten
Füßen, über individuelle Art der Sohlenabnutzung etc.). Kap. IV. „Ab¬
drücke von Fingern, Händen und Zähnen“ mit besondere lehr¬
seichen Abbildungen (leider keine über Zähneabdrücke). Kap. V. „Un-
richtbare Spuren“, die mit Silberlösung, verdünnter Tinte, feinem
Graphit (Methode des Verf., die er „photographie naturelle“ nennt, die aber
nicht ganz neu ist) etc. sichtbar gemacht werden; dann Schriftfälschungen,
Fragen die mit Röntgenphotographie gelöst werden etc. Kap. VI. bespricht
verschiedene Blutspuren und sonstige Flecken, Strangulationsnarben,
Scharten etc. Dann wird das Verhältnis von Hüten zur Kopfform, von
Kleidern zur Gestalt etc. besprochen. Kap. VII. handelt von „marques
r evelatrices“, was wir Berufsschwielen nennen, dann von Tätowierungen,
Zinken etc. Kap. VIII. bringt die gesamte Bertillonage und Daktyloskopie
mit besondere schönen Abbildungen und Kap. IX. ihre Anwendung auf
Fragen der Kunst, Geschichte und Biologie. Die beiden letzten Kap. X.
und XI. erörtern die Methoden der Nachforschung und das Verhältnis der
Kriminologie zur „Science de l’investigation judiciaire“.
Wir freuen uns über das schöne Buch, das der Kriminalistik wesent¬
liche Fortschritte bringt. H. Groß.
3.
Alwin von Werther: „Töten und Quälen unserer Mitgeschöpfe
ein Quell der Lust? Dresden 1906, E. Pinson.
Das kleine Buch wendet sich namentlich gegen das „edle Waidwerk“,
welches mit Recht doch nur ein Schlachten in stilisierter Form zu nennen
ist. Daß das Jagen häufig eine Tierquälerei ist, daß jede 'Tierquälerei
Verrohung erzeugt und daß durch diese die Kriminalität erhöht wird, ist
zweifellos; ebenso, daß jede Tierquälerei die noch normale Form des Sadis¬
mus darstellt, wie wir ja zu jeder Psychose die nochnormale Form finden
können. H. Groß.
4.
Th. Eichberg: Psychologische Probleme, Versuch einer prak¬
tischen Psychologie. S tutt gart 1907, S treck er & Schröder.
Auf 100 Seiten wird über Wille und Willensfreiheit, Gemütsstimmung,
Erziehung. Natur und Milieu, allgemeine Meinung und das Denken abge¬
handelt. Viel und vielen ist damit wohl nicht geholfen.
H. Groß.
5 .
Hugo Hoppe: „Alkohol und Kriminalität". Wiesbaden 1906,
J. F. Bergmann.
Eine überaus verdienstliche, mühsame und äußerst sorgfältige Arbeit,
welche unter Berücksichtigung der gesamten Literatur die wichtigsten
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379
Fragen, die hier in Betracht kommen, gründlich und zusammenfassend er¬
örtert. Die Ergebnisse, die Verf. ableiten kann, müssen als entsetzlich be¬
zeichnet werden. Nur an Spiritus (ohne Bier und Wein) kommt im Jahre
auf den Kopf in Deutschland ein Quantum von ungefähr 4 Liter, und bei
ungefähr 250 000 im Jahre 1904 in Deutschland Abgestraften läßt sich
Trunkenheit als Tatursache nachweisen! Dabei sind aber nicht die Fälle
leichter oder abgeleugneter Trunkenheit gerechnet und ebenso nicht alle
jene Fälle, in welchen der Täter durch Alkoholmißbrauch degeneriert und
widerstandsunfähig geworden ist. Welche Ziffern ergeben sich, wenn man
diese Fälle auch dazu rechnet! Welcher Verlust an Nationalvermögen ent¬
steht durch die Kosten der Straf pflege und den Arbeitsentgang der Ver¬
hafteten, welche Nachteile entwickeln sich durch die verminderte Arbeits¬
fähigkeit der Trinker überhaupt!
Hoppe weist mit Recht auf den Fluch der „fiskalischen Bedenken“
hin. In der Tat: wenn man heute Wein- und Bierproduktion einstweilen
bestehen ließe und lediglich die Schnapsproduktion und den Schnapsverkauf
verbieten würde, so verliert der Staat eine große Steuersumme, die direkt
nirgends ihre Deckung findet. Berechnet man aber, was die Strafpflege
und die Verwahrung bei allen kostet, die durch Alkohol Verbrecher wurden,
dazu den Arbeitsentgang durch Haft und degenerative Arbeitsunfähigkeit
der Trinker, so wird die entgangene Steuersumme mindestens gedeckt —
der moralische Nutzen gar nicht gerechnet. Eis ist, als ob die maßgebenden
Kreise diesfalls mit Blindheit geschlagen wären — vielleicht werden ihnen
die Augen geöffnet, wenn Kriminalisten gerade durch Hoppes Buch unter¬
richtet, einhellig ihre Stimme erheben. Haben wir nur einmal die Schnaps¬
säufer weg! H. Groß.
6 .
Hermann Michaelis: „Die Homosexualität in Sitte und Recht“.
Mit einem Geleitwort von Dr. Magnus Hirschfeld-Char¬
lottenburg. Berlin 1907, Hermann James.
Die Schrift nennt sich eine „möglichst erschöpfende Darstellung der
bedeutenden Rolle, die die Homosexualität in der allgemeinen Sitten- und
Strafrechtsgeschichte spielt“; auch Hirschfeld nennt die Schrift in seinem
Geleitworte eine „reichhaltige und vielseitige Materialsammlung“. Das ist
sie allerdings und alles, was die Frage je berührte, ist mit erstaunlichem
Fleiße zusammengetragen. Zu welchem Zwecke, w r eiß ich allerdings nicht.
H. Groß.
i.
Theodor Lipps: „Vom Fühlen, Wollen und Denken. Versuch
einer Theorie des Willens.“ 2. völlig um gearbeitete
Auflage. Leipzig 1907, Job. Ambr. Barth.
Was in diesem Archiv (Bd. XIV, p. 376) von der ersten Auflage
dieses ausgezeichneten Buches gesagt wurde, gilt von der zweiten um so
mehr, als jetzt in die Mitte der Erörterungen die für uns so überaus wich¬
tige Frage vom Wollen gerückt erscheint; namentlich wichtig ist deshalb
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380 Besprechungen.
das Kapitel über die Logik des Wollens und da wieder das „Kausalgesetz
des Wollens“. H. Groß.
8 .
Dr. jur. Klaus Wagner: Justizgründung! Eine Programm¬
schrift über Gerichtsorganisation, Trennung derStraf-
und Streitgerichte, Gesetzessystematik, Verbrecher¬
behandlung und Richterstudien. Hannover luOS, Hel-
wingsche Verlagsbuchhandlung.
Ein erstaunliches Buch, desseu Inhalt im Titel angegeben ist, und das
neben völlig unmöglichen, laienhaften Ideen, gute Gedanken, freilich auch
kaum durchführbare, zum Vorschein bringt. Verf. meint, Dilettanten, die
„selbstüberzogen und tolpatschig“ sind, taugen nicht für Reforjnpläne, wohl
aber „Fachdilettanten“. Vor allem müßten Strafgerichte von den Streit¬
gerichten getrennt werden, ihre Vereinigung sei sehr schädlich; die Straf¬
gerichtsbarkeit sei Verbrecherbehandlung, der Strafrichter sei „Menschen¬
forscher“, der Streitrichter „Regelsucher und Regelausleger“. Grundsatz
der Organisation der Gerichte sei „pyramidale Klarheit“; der Streitrichter
muß sach- und rechtsverständig sein: daher Fachgerichte, aber bloß zwei
Instanzen: eiste Instanz ein Richter, zweite Instanz zwei Richter. Die
haben dann große Verantwortung und können ausgesuchtes, gutbezahltes
Material sein. — Mit Recht belustigt sich Verf. über die häufig schlechte
Sprache unserer Gesetze; besonders seien alte Gesetze übel stilisiert, es
müsse daher jede Verordnung nach 30 Jahren verjähren. — Bezüglich der
Rechtsgeschichte wird verlangt, daß sie im Rahmen einer sozialen Kultur¬
geschichte vorgetragen werde, denn „den römischen Weisheitsknochen“ hätten
wir schon „blitzblank abgenagt“. H. Groß.
y.
Dr. A. Grosch: „Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom
15. Mai 1871, zum Gebrauch für Polizei-, Sicherheits-
uud Kriminalbeamte“. München 1907. J. Schweitzer.
Ein ausgezeichneter Kommentar in Schlagworten, der dem im Titel
genannten Zweck vollkommen entspricht. Gerade eine solche Arbeit, die
dem nicht streng juristisch vorgebildeten Kriminalisten helfen will, ist ebenso
schwierig als dankenswert. Übrigens ist die Ausgabe auch für den Juristen
sehr bequem und zweckmäßig. H. Groß.
iO.
A. Zucker: „Über Kriminalität, Rückfall und Strafgrund“.
Leipzig-Wien. Fz. Deuticke. 1907. Posthum heraus¬
gegeben von A. Amschi.
Verf. sucht, in mir nicht verständlicher Weise darzutun, daß die
Kriminalität keineswegs so beängstigend ansteige, wie es den Anschein
habe; auch die Fragen des Rückfalls seien nicht so bedenklich, wie man
annehme. — Bezüglich des Strafgrundes steht Verf. auf dem Boden der
Vergeltung; die Strafe sei entstanden aus dem sozial-pathologischen Momente,
welches die Handlung des Täters in der Gesellschaft erzeugt.
H. Groß.
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Besprechungen.
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11 .
K.Klee „Der Dolus indirectus als Grundform der vorsätzlichen
Schuld“ („Berliner Beiträge“, herausgegeb. von J. Köhler).
Berlin 1906. R. v. Decker.
Die feinsinnige, ungemein anregende Schrift will „den Gedanken des
bewußt gefährlichen Verhaltens mit verletzendem Erfolge historisch verfolgen,
insbesondere den ihn in grundlegender Weise zum Ausdruck bringenden
Dolus indirectus der gemeinrechtlichen Doktrin nach rückwärts zur Schuld¬
lehre des kanonischen Rechts und der mittelalterlichen italienischen Juristen
sowohl wie zur reinen Vorstellungstheorie unserer Tage in Beziehung setzen“.
Verfasser hält am Dolus indirectus fest und meint, daß ihn namentlich der
Gesetzgeber nicht missen kann, der mit der Strafe nicht die Tat, sondern
das Verbrechen treffen will. H. Groß.
12 .
Victor Urbantschitsch, „Über subjektive optische Anschau¬
ungsbilder“, mit 3 Tabellen und 3 Bildern als Beilagen.
Leipzig und Wien 1907. Fz. Deuticke.
Ein Studium dieses hochinteressanten Buches führt zu der Auffassung,
daß der berühmte Wiener Otiater eine im allgemeinen, aber auch für uns
Kriminalisten wichtige Entdeckung vorzubringen hat. Verf. gebt davon aus,
daß bei optischen Gedächtnisbildern die einfache Vorstellung des Gesehenen
von den anschaulichen Gedächtnisbildern zu unterscheiden sei (bloße Vorstellung
und subjektives Wiedersehen). Diese Gedächtnisbilder sind natürlich häufig
mangelhaft, werden aber bei der Reproduktion geändert, ergänzt, verbessert,
auch verschlechtert, wobei namentlich äußere, zufällig oder absichtlich ent¬
standene Sinneseindrücke (Licht, Töne, Gefühlsreize etc) eine große Rolle
spielen. Verf. sagt (p. 97), daß diese Erscheinungen vielleicht für forense
Fragen wichtig werden können. Dies scheint allerdings der Fall zu sein,
indem einerseits zufällige Sinnesreize die Auffassung eines Zeugen wesentlich
ändern können und anderseits aber auch durch absichtlich hervorgebrachte
Eindrücke Vergessenes oder falsch Behaltenes richtig zu stellen wäre. Das
klingt sehr merkwürdig — das Abenteuerliche schwindet aber, wenn man
das wichtige Buch genau studiert. H. Groß.
13.
Victor Urbantschitsch in Wien: „Über subjektive Hörerschei¬
nungen und subjektive optische Anschauungsbilder“.
Leipzig und Wien. Fz. Deuticke. 1908.
Eine weitere Ausbildung des eben genannten Buches auf subjektive
Hörerscheinungen. Ebenso interessant. H. Groß.
14.
Professor S. Ottolenghi „Polizia scitenfii ca“, Identifi cazione
fisica e psichica. Investigazioni giudiziarie.“ Roma
societä poligrafica editrice 1907.
In höchst origineller Form wird das Um und Auf der wissenschaftlichen
Polizeitätigkeit nur in tabellenförmig angeordneten Schlagworten zusammen-
Archiv für Krimlnalanthropologie. 29. Bd. 25
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Besprechungen.
gestellt, alles durch Überschriften und viele Klammern übersichtlich und
jedes Übersehen ausschließend, untergebracht Behandelt ist in dieser Weise
die allgemeine und besondere Identifikation, die Daktyloskopie, Photographie
und Anthropometrie, das wissenschaftliche Signalement, Nachforschungen,
Zeugenvernehmung und die Spuren. Eine Übersetzung dieses Buches wäre
vielleicht sehr angezeigt. H. Groß.
15.
D. E. Schreiber „Medizinisches Taschenwörterbuch fürMedizine r
und Juristen“. Zweite ergänzte Auflage. Straßburg
i. E. 1907. Ludolf Beuch.
Jeder Kriminalist bedarf eines derartigen Wörterbuchs und das vor¬
liegende kann ganz gut empfohlen werden. Allerdings wünschte ich daran
für die nächste Auflage einige kleine Änderungen. Vor allem können zur
Raumersparung ziemlich viele, jedem Gebildeten bekannte Worte weggelassen
werden; z. B. spiritus: Weingeist; mixtur: Arzneimischung; illusion: Sinnes¬
täuschung; typhus: Nervenfieber etc. Dagegen müßten einige deutsche
Worte erklärt werden. Einzelne, sehr wenige, kommen allerdings vor (z. B.
Grippe, Zahnpulpa, Gleitbeutel etc.), aber wichtige, die auch nicht jeder
weiß, fehlen; ich nenne nur beispielsweise: Speiche, Elle, Schienbein, Waden¬
bein, Rabenschnabelfortsatz, Schultergräte, Zahnfortsatz, Kahnbein, Sprung¬
bein, Mondbein, Türkensattel, Pförtner, Bauchspeicheldrüse, Zwölffinger¬
darm etc. Diese und zahlreiche andere Ausdrücke ließen sich mit wenigen
Worten in dankenswerter Weise bestimmen. H. Groß.
16.
Dr. jur. Ernst Delaquis »Die Rehabilitation im Strafrecht“.
Berlin 1907. D. Guttentag.
Eine fleißige, dankenswerte Arbeit, die über die Entwicklungsgeschichte
und die dogmatischen Fragen dieses wichtig und schwierig zu behandelnden
Institutes vortrefflich orientiert. H. Groß.
17.
Wilhelm Fischer „Der verbrecherische Aberglaube und die
Satansmessen im 17. Jahrhundert“. Stuttgart. Strecker
und Schröder. Ohne Jahreszahl.
Die Schrift bespricht Kannibalismus, Diebskerzen, Folterpulver, Toten¬
graben und Giftmischerei, Teufelsanbetung, Satansmessen und ähnliches,
bringt aber nichts Neues. H. Groß.
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Archiv für kriminal- A7
anthropologie und v,29
kriminslistik.
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